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Titel920

Das Fleisch hat Angst  (Monika Köhler)

Die Zeit, als sich alles änderte, die Wende also, hier wird sie »Übergang« genannt. Hier, das ist im Roman der 1974 geborenen argentinischen Autorin Agustina Bazterrica »Wie die Schweine«. Argentinien ist das Land der Fleischproduktion. Und darum geht es in dem Buch – auch. Die Zeit, als man anfing, sich Menschen einzuverleiben – ein Synonym des Kapitalismus. Geschildert wird das alles ganz realistisch. Am Anfang stand ein Virus, das alle Tiere befiel und so Menschen tödlich infizierte: Tiere zu essen war somit unmöglich geworden. Ein Heilmittel oder Impfstoff gegen das Virus gebe es nicht, hieß es. Der »Held« Marcos betrachtet die Verlautbarungen mit Skepsis, glaubt, alles sei ein Mittel, »um uns zu formen, um jede Diskussion im Keim zu ersticken«. Er erinnert sich, dass in einigen Ländern »massenweise Immigranten, Obdachlose, Arme« verschwanden, verfolgt wurden – geschlachtet. Inzwischen sogar legale Vorkommnisse, »als die Regierungen unter Druck gesetzt wurden von einer milliardenschweren Industrie, die zum Stillstand gekommen war«. Ausnahmebestimmungen hatten sich in Normen verwandelt – die Schlachthöfe an die neuen Bedingungen angepasst. Die Erfahrungen der industriellen Tieraufzucht erwiesen sich als brauchbar auch für menschliches Fleisch. Denn Fleisch musste es sein.

 

Marcos, Sohn des einstigen Schlachthofbesitzers, ist jetzt Produktionsleiter für das »Spezialfleisch«. Obwohl alle Tiere getötet wurden, ist die Angst vor dem Virus noch so groß, dass alle Menschen im Freien einen Regenschirm tragen zum Schutz vor einem Vogelschiss – nur Marcos nicht. Er glaubt nicht an die Ansteckung, trifft in einem Zoo ohne Tiere doch noch auf Hundewelpen, mit denen er spielt, zärtlich. Für Menschen kann er diese Gefühle nicht aufbringen: weder für die Essenden (Etablierten), noch für die zu Essenden. Für diese gibt es Tarnwörter, die an die Sprache des »Dritten Reiches« erinnern: Stücke, Produkte, Exportfleisch oder allgemein Spezialfleisch, Männchen und Weibchen oder ganz besonders ERG – Erste reine Generation, das bedeutet ohne genetische Modifikation, ohne Wachstumshormone. Dies alles ist seit dem »Übergang« normal geworden – der Kannibalismus legitimiert.

 

Das hat der Vater von Marcos nicht verkraftet und sich in die Demenz geflüchtet, lebt nun – wohlbehütet – in einem teuren Altersheim. Nur dafür arbeitet der Sohn – macht er sich selbst vor. Neben den Tarnwörtern gibt es Verbote. Das Wort Kannibalismus gehört dazu. Es ist auch untersagt, eine Person mit Vor- und Nachnamen zu verspeisen, das heißt: niemand darf es zugeben. Auch die sexuellen Beziehungen zu einem »Weibchen« sind verboten. Mit einem Weibchen, das er als Geschenk erhält, gibt es später Probleme. Zuerst einmal begleitet der Leser – wenn er noch kann – Marcos durch die Abteilungen des Menschen-Schlachthofs. Das »Produkt« wird fast vollständig verwertet, alles exakt beschrieben. Auch die Gerberei und die große Mappe der verschiedenen Ledertypen, exquisites Design, von der Zuchtfarm. Der Chef will schwarze Häute, Marcos soll sie beschaffen.

 

Es gibt noch eine Unter-Klasse von Menschen, die »Aasfresser«. Das sind die Ausgestoßenen, die einige Meter vom elektrischen Zaun auf Futter harren, die unzivilisierten Kannibalen. Skurril die Sektenmitglieder, die zum Schlachthof kommen – mit der notariellen Beglaubigung, dass einer ihrer Anhänger sich opfern will. Sie müssen diesen – legalen – Weg gehen, um Zertifikate für steuerliche Vergünstigungen und Anerkennung als Kirche zu bekommen. Ihr Fleisch – was sie nicht wissen – ist für die Aasfresser bestimmt.

 

Auf vieles hätte die Autorin verzichten können in diesem Buch über die kapitalistische Endzeit. Der blutige Sex mit der Metzgerin beispielsweise, die gerade einen Arm zerlegt. Alles genüsslich beschrieben bis zu dem Satz: »Sie küsst ihn beklommen, feierlich.« Gezielt barbarisch kitschig die Grausamkeiten, kalkuliert, Ekel inbegriffen. Dann ein Festessen. Aufgetischt die »erlegten« Prominenten, die sich verschuldet hatten und nun die Gelegenheit erhielten, der inszenierten Jagd auf sie zu entkommen. Was oft nicht gelang. So einem Rockstar, dessen Einzelteile begehrt sind. Die gedeckte Tafel edel wie im Schloss, Kandelaber.

 

Marcos muss noch einen Besuch im Labor Valka machen. Dr. Valka, die Frau Dr. Mengele genannt wird, hat gerade einen der wichtigsten Forschungspreise erhalten – für Experimente, die sie mit Tieren nie hätte machen können. Die Expertin glaubt, sie revolutioniere die Medizin. Alles für die Wissenschaft, am lebenden Menschen. Auch Versuche am schlagenden Herzen. Der Schlachthof sei harmlos dagegen, sagt selbst Marcos. An Tieren wird auch geforscht, geheim. Noch immer suchen sie nach einem Mittel gegen das Virus. Was ist das für ein Staat, der auch Sperrstunden verhängt?

 

Leichenschmaus für Marcos‘ verstorbenen Vater. Die Schwester tischt schön dekorierte Körperteile auf – nicht vom Vater, der wurde verbrannt. Von einem »Hausstück« in der Speisekammer nebenan, lebendfrisch. Marcos isst kein Fleisch, sagt er – einmal doch: Es schmeckte »köstlich«. Zu Hause bei Marcos wartet das Weibchen, das er nicht mehr im Stall schlafen lässt, das er mithilfe seines Handys immer unter Kontrolle hat. Es ist etwas geschehen – streng verboten –, das ihn selbst ins Schlachthaus bringen kann. Sein Geschenk ist schwanger geworden – von ihm. Er denkt nur an das Kind, ist ganz versessen darauf. Es gibt Komplikationen bei der Geburt. Niemand darf es wissen, auch kein Arzt. Er ruft seine Frau an, sie müsse sofort kommen. Nachdem ihr gemeinsames Kind, ein Junge, so früh gestorben war, ist sie zu ihrer Mutter gezogen. Sie hat keine Ahnung, was sie erwartet. Schwere Geburt und – ein Junge: »wunderschön«. Als er geboren ist, will das Weibchen ihn sehen, gibt unartikulierte Laute von sich. Sie kann nicht sprechen. Ihr sind, wie allen »Stücken«, die Stimmbänder entfernt worden. Sie hat erfüllt, was er von ihr verlangte, nun stört sie nur noch. Er nimmt einen Gegenstand, der im Schlachthof zur Betäubung verwendet wird, einen Hammer, und schlägt ihr damit auf die Stirn. Auf das Brandzeichen, das er auch schon mal liebkost hatte, früher. Das Symbol für Eigentum, für Wert. Seine Frau protestiert: »Sie hätte uns doch noch weitere Kinder gebären können!« Sie schleppen das Weibchen zum Schuppen, um es zu schlachten.

 

 

Agustina Bazterrica: »Wie die Schweine«, ins Deutsche übersetzt von Matthias Strobel, Suhrkamp, 236 Seiten, 15,95 €