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Titel022013

Zwei Dörfer in Belarus  (Christoph Dembowski)

Es begann mit einer Fahrradtour im Jahr 1990. Unter dem Motto »Erinnern an eine gemeinsame Zukunft« hatte sich eine Gruppe von Deutschen von Brest aus auf die Spuren ihrer Väter begeben, die 1941 den Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht durch Dörfer und Städte Weißrußlands begonnen hatten. Aber schon in Minsk wurde deutlich, daß die vier Jahre zurückliegende Reaktorkatastrophe von Tschernobyl die furchtbaren Ereignisse des Zweiten Weltkrieges überlagert hatte. Die Menschen in Weißrußland sprachen von einem »Dritten Weltkrieg«, einem Krieg mit schleichender, unsichtbarer Vernichtung, der sich wie ein Schleier über das Land gelegt hatte.
Zu Hause in Deutschland ließen diese Reiseeindrücke die Teilnehmer nicht mehr los. Immer wieder kam die Frage hoch: Was kann in dieser Situation wirkliche Hilfe sein? Nach vielen Gesprächen war das Ziel für das weitere Engagement klar umrissen: Häuserbau für Familien aus dem Tschernobylgebiet im unverstrahlten Norden von Weißrußland. 1991 wurden mit Freiwilligen aus Deutschland die ersten Häuser in der Nähe des Narotschsees errichtet: mit Holzständerwerk und Lehmbautechnik. Bei den Bauarbeiten stellte sich heraus, daß das geplante Dorf unmittelbar auf einer Hauptkampflinie des Ersten Weltkrieges entstand: Im März 1916 verloren dort in furchtbaren Kämpfen etwa 80.000 russische und 40.000 deutsche Soldaten ihr Leben. Für das Umsiedlerdorf wurde der Name Druschnaja gewählt (= das freundschaftliche Dorf). In den zurückliegenden 20 Jahren sind dort und seit 2001 auch in Stari Lepel (Bezirk Witebsk) in Gemeinschaftsarbeit über 50 Häuser für Familien aus dem Tschernobyl-Gebiet entstanden, eine wirksame Hilfe für die Betroffenen – und das in einem Land, das vom Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht so schlimm betroffen war wie kaum ein anderes. Die Invasionstruppen hatten den Auftrag, beim Rückzug nichts als »verbrannte Erde« zu hinterlassen. Nahezu tausend Dörfer wurden niedergebrannt.
Unterschiedliche Menschen arbeiten Hand in Hand gemeinsam mit den Umsiedlerfamilien: der Richter und der Obdachlose, der Punk und die Lehrerin, der Professor und die Hausfrau.
Nach einiger Zeit wurde deutlich, daß allein der Bau von Häusern nicht ausreicht. Weitere Schritte zur Gemeinschaftsentwicklung waren der Bau eines Gemeinschaftshauses in Druschnaja, die Organisation von Mutter-Kind-Freizeiten für Menschen aus dem Tschernobylgebiet in den Umsiedlungsdörfern, Frauenbegegnungen, Nähkurse. Eine Mitarbeiterin beim Häuserbau begann mit einem jährlichen Workcamp für Jugendliche aus Deutschland und Weißrußland; ihre gemeinsame Aufgabe ist es, in den umliegenden Dörfern bedürftigen alten Menschen zu helfen, die zum Teil noch die deutsche Besatzung erlebt hatten oder damals zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren. Die Jugendlichen reparieren Zäune, Dächer und Fenster der Häuser, tapezieren oder erneuern die Fußböden. Ein Versöhnungsdienst von Deutschen für Menschen, die zu den vergessenen Übriggebliebenen des Vernichtungskrieges gehören.
Bei den Baueinsätzen wurde intensiv über die Energieversorgung diskutiert. Druschnaja liegt auf einer Anhöhe, wo ein stetiger Wind vom Narotschsee herüberweht. Was also lag näher, als dort ein Windrad zu errichten? Mit einer Spendenkampagne (»wir suchen 5.000 Menschen, die mit 200 DM Stifter des ersten weißrussischen Windkraftwerkes werden möchten«) konnte im Jahr 2000 dieses Projekt realisiert werden. Knapp zwei Jahre später wurde ein zweites Windrad mit Hilfe des Bundeswirtschaftsministeriums gebaut, für dieses Jahr steht der Bau einer dritten Anlage an, als Zeichen gegen die Planung des ersten Atomkraftwerkes auf weißrussischem Gebiet, etwa 70 Kilometer von Druschnaja entfernt. Wie in Deutschland wird der erzeugte Strom dieser Windräder in das öffentliche Netz eingespeist und vergütet.
Meine Aufgabe in diesem Projekt gilt der medizinischen Versorgung. In Sanarotsch wurde 2008 eine medizinische Ambulanz für die Versorgung von etwa 2.600 Menschen gebaut. Diese Ambulanz ist das erste Niedrigenergiehaus auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und wurde gemeinsam mit weißrussischen Architekten geplant und errichtet. Mit der Heizungsanlage in der Ambulanz werden der örtliche Kindergarten, die Schule und der Dorfsowjet mit versorgt. Im zweiten Umsiedlerdorf Stari-Lepel hat in diesem Jahr der Bau einer Dorfambulanz begonnen, im Niedrigenergiestandard. Hier werden etwa 2.400 Menschen eine Basisversorgung erhalten. Ich bin Kinderarzt von Beruf und halte einmal im Jahr gemeinsam mit einem internistischen Kollegen medizinische Vorträge in den Umsiedlungsdörfern. Die Vorträge sollen der Gesundheitsförderung dienen, sie behandeln medizinische »Alltagsthemen« (Impfungen, Kindesentwicklung, Strahlenschutz, Ernährung, Suchtgefahren) und werden mit großem Interesse angenommen, auch weil es in Weißrußland nicht üblich ist, öffentlich über Themen aus dem Gesundheitsbereich zu sprechen.
Für mich sind die jährlichen Reisen in dieses für uns so unbekannte Land ein großes Geschenk. Die Weißrussen begegnen uns immer mit großer Herzlichkeit. Vor dem Hintergrund des furchtbaren Zweiten Weltkrieges berührt mich das besonders, ebenso wie vor dem Hintergrund der Gegenwart, wo dieses kleine Land zwischen den Einflußsphären der EU und Rußlands verzweifelt nach einer eigenständigen Entwicklung sucht.
Weißrußland ist nicht weit entfernt von uns: Wenn Europa von Portugal bis zum Ural reicht, liegt es genau in der Mitte. Wir sind hier geprägt von Schlagworten aus den Medien (»die letzte Diktatur Europas«), das ist aber allenfalls die halbe Wahrheit. Denn es gibt dort Menschen mit einer großartigen Gastfreundschaft und einer Menschenfreundlichkeit, von denen unsere wohlstandskranke Gesellschaft nur lernen kann. Immer wieder bestätigt sich dort, daß in der russischen Sprache »der Freund« und »der Andere« den gleichen Wortstamm haben.

Weitere Informationen: www.heimstatt-tschernobyl.org.