erstellt mit easyCMS
Titel022013

Bemerkungen

Lindner als Freisozialdemokrat
Der Wahlkampf für den Bundestag ist angelaufen. Wer mit wem – also die künftige Koalition – ist die Frage, von der die Berufspolitiker umgetrieben werden. Gespielt wird mit verdeckten Karten. Christian Lindner, Vorsitzender der FDP in Nordrhein-Westfalen, gilt als letzte Hoffnung seiner Bundespartei. Was er von der SPD (und den Grünen) halte, fragte ihn die FAZ. Beide Parteien, antwortete der FDP-Retter, seien leider »auf der Flucht vor ihrer eigenen Vergangenheit«. Er hingegen könne die Politik der Agenda 2010 nur loben. Gerhard Schröder solle man sich in dieser Hinsicht zum Vorbild nehmen. Das ist ein Wort. Vielleicht kommt die FDP ja doch noch einmal in den Bundestag. Und wer weiß, ob SPD und Grüne dann nicht einen kleinen Partner brauchen. Lindner könnte dafür sorgen, daß solch eine Koalition wieder kräftig »reformiert«: das »Nor­malarbeitsverhältnis« weiter abbaut, den Niedriglohnsektor ausbaut, den Ar­beitsmarkt noch mehr dereguliert. Gerhard Schröders Superminister Wolfgang Clement, jetzt FDP-Sympathisant, würde womöglich in die SPD zurück­kehren. Und Frank-Walter Steinmeier sähe sich bestätigt: Die WamS wollte von ihm wissen, ob die SPD nach links gerückt sei. »Unsinn«, sagte Steinmeier, »die Regierung Steinbrück wird deutlich bürgerlicher als das, was wir in der derzeitigen Koalition erleben.« Alles würde gut, gutbürgerlich, freisozialdemokratischwirtschaftsliberal, mit ein bißchen Grün dazu. Und selbstverständlich mit der Ansage, daß es dabei sozialverträglich zugehen soll.

M. W.


Verkommene Sprache
»Ohne im Besitz eines Termins gewesen zu sein«, betont der Pressesprecher, hat ein 52jähriger Langzeitarbeitsloser seine Sachbearbeiterin im CTP Neuss aufgesucht und erstochen. – Wiegt es schwerer, ohne Verabredung bei einer Behörde zu erscheinen, als eine Frau umzubringen? Die Sprache der Behörden legt es nahe. Die Sprache der Behörden ist restlos verkommen. Seit das Arbeitsamt nicht mehr Arbeitsamt, sondern zuerst Arbeits-Agentur, dann Job-Center, heute »Come Together Point« (CTP) heißt und die Sachbearbeiterin für ältere Arbeitslose/Schwervermittelbare sich »Fallmanagerin« nennt und »Vision 50 plus« in den Farben eines Regenbogens an ihrer stets offenen Tür stehen hat, mehren sich die gewalttätigen Übergriffe der arbeitslosen Aussichtslosen, die sich gefallen lassen müssen, »Kunden« oder »Klienten«, vorher auch schon »Ich-AGs« genannt zu werden. Ist es nicht die verlogene Sprache, durch die sich die Betroffenen verarscht fühlen, die sie schließlich zu verzweifelten Totmachern macht? Gehören nicht die Erfinder dieser Sprache auf die Anklagebank? Diese Marketingfuzzis, diese Absolventen des Studiums der semantischen Menschenverachtung?
Klaus Hansen


Mein Kandidat
Zweitausendundzwölf war auf ganze 14 Tage zusammengeschrumpft. Da war die Zeit gekommen, da sich der staatstragende Deutsche fragt, ob er seiner Regierung beim Erfolgreichsein so geholfen hat, wie er sich das am Jahresanfang vorsetzte. Bei mir, nach eigenem Urteil, sah es damit nicht schlecht aus. Ausgenommen der noch immer nicht gefundene Vorschlag für das Unwort des Jahres. Da brachte mir überraschend die Fahrradpost ein Schreiben ins Haus, in dem sich auch dafür eine Lösung fand.

Bisher hatte ich, ohne mich entscheiden zu können, zu dem Wort Siedlungsstopp geneigt, jenem Nebelwort, das so häßliche Begriffe wie Land- oder Bodenraub vermeidet und verbirgt. Doch war das etwas angejahrt und würde daher wohl nicht in die Wahl genommen werden. Nun aber stand da schwarz auf weiß: unglaubliches Behördenversagen! Wieviel besser klang das als die abgenutzte und unpersönliche »Pannenserie«, mit der bisher meist die Arbeit unserer Berufsverhüterli an den extremen Extremisten charakterisiert worden war. Versagen, das rückt sie mehr so ins Menschliche. Wer hätte vor einer Aufgabe, einer Herausforderung gar, nicht schon einmal versagt? Wer mag das Wort erfunden oder geschöpft haben? Ein Einzelner oder ein Team? Waren er oder sie nach strategischem Vorgehen darauf gekommen oder eher zufällig und beiläufig? Gegen letzteres spricht der sprachliche Feinsinn, der sich auch an anderer Stelle des Schreibens Bahn brach. Es sollte, um nun endlich Inhalt und Zweck des Textes zu benennen, von Politikern in einer Talkshow über dieses unglaubliche Behördenversagen debattiert werden und das mit historischer Tiefenschärfe. Das verrät schon das Datum der Veranstaltung, der vorletzte Januartag 2013. Ein Bogen würde also geschlagen werden vom 80 Jahre Vergangenen zum Gegenwärtigen. Eingesetzt werden würde, hieß es da, mit dem Beginn des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte. Das hätte sich als Unwort-Vorschlag womöglich auch geeignet, wird es doch von den einen benutzt, die sich noch nicht zum Gebrauch von Nationalsozialismus durchringen können, und von anderen, die durch die Benutzung von faschistische Diktatur sich nicht der Sympathie für den Kommunismus verdächtig machen möchten. Es ist nur – siehe oben – auch dieses dunkle Kapitel etwas angejahrt.

Also: unglaubliches Behördenversagen. Ach so! Der Fundort: eine Einladung der Bundesgeschäftsführung der Partei mit dem Namen Die Linke.
Kurt Pätzold


Endlich erwachsen
Der für das deutsche Militärwesen zuständige Minister hat einen Vorzug: Er schwadroniert nicht mit ethisch klingenden Redensarten, wenn es gilt, kriegerisches Engagement zu begründen. Er drückt das ganz trocken aus. In der Bundeswehrzeitung aktuell teilt er den Soldaten mit: Die Bundesrepublik sei jetzt »erwachsen« und deshalb ihre Truppe »mehr gefordert für Auslandseinsätze«. Weil Deutschland »Führungsverantwortung in Europa« habe und »Einflußnahme« weltweit nur zu realisieren sei »durch Beteiligung an global-strategischen Themen wie Finanzen und Sicherheit«. Er dankte bei dieser Gelegenheit auch den Parlamentariern, daß sie die Entsendung von Patriots nebst Personal an die türkisch-syrische Grenze so »zügig« abgesegnet haben. Die bundesrepublikanischen Kindereien, bei denen immer von »Verteidigung« die Rede war, sind vorbei. Jetzt sind ernsthafte Themen dran: europäische Führung, globaler Einfluß – und Sicherheit dabei, militärische. Irgendwie hängt das auch alles mit Finanzen zusammen. Das zu erklären, fällt nicht in das Ressort dieses Ministers. Und darüber müssen sich Soldaten auch keine Gedanken machen, preußisch gesehen.
M. W.


Donna Quichotte
»Diese Bundesregierung ist die erfolgreichste seit der Wiedervereinigung«, hat Frau Merkel im Bundestag gesagt. In einem Kommentar der Leipziger Volkszeitung wird diese Behaup­tung als »schamlos und frech« bezeichnet. Und Spiegel online betitelt sie als »Märchen«, unter anderem weil »die Regierung Merkel ... unkontrollierbare Haushaltsrisiken in einem Maße aufge­häuft (hat), das alles bisher gewesene in den Schatten stellt«. Das ist ein Beispiel dafür, welche Lehren die Staatenlenker der Welt aus den Abenteuern Don Quichottes gezogen haben. Der hat sich eingebildet, wirklich vorhandene Mühlen seien Gegner, die er bekämpfen wollte und die er natürlich nicht besiegen konnte. Heutige Staatenlenker, um zu trium­phie­ren, bilden sich auch noch die Mühlen ein.
Günter Krone


Ein Draufgänger
Eine schönere Gabe für ihre Jahresbilanz 2012 als den »Schuldenrückkauf« des griechischen Staates, finanziert vom Euro-»Rettungsfond« (s. »Phantasiegeld« in Ossietzky 1/13), konnten sich etliche US-amerikanische und britische Hedgefonds nicht wünschen. In der FAZ waren dann Details des Riesengeschäfts zu lesen. Einen Gewinn von 500 Millionen Dollar habe dabei allein die Firma Third Point gemacht, mit ihrem »draufgängerischen« Inhaber David Loeb, einhundert Prozent gemessen am Kapitaleinsatz. Bereits früh sei Loeb durch kommerzielle Begabung hervorgetreten, schon als Schüler habe er einen Bodyguard anstellen müssen, um sich vor dem Neid seiner Klassenkameraden zu schützen. Allerdings braucht ein solches Talent auch im Erwachsenenalter seine Helfer, weitaus größeren Formats als in Jugendzeiten, um in seinen unternehmerischen Tätigkeiten auf Sicherheit rechnen zu können, die Draufgängerei allein bringt es nicht. Loeb wird sich doch hoffentlich bei den Euro-Rettern bedankt haben?
A. K.


Sicherheitsverlust
»Die fetten Jahre sind vorbei« stand auf einer Zettelbotschaft der »Erziehungsberechtigten«, zweier jugendlicher Großstadtrevolutionäre in dem gleichnamigen Spielfilm von Hans Weingartner aus dem Jahre 2004. Das Duo brach in Villen ein, um Möbel zu verrücken oder Luxusgegenstände einer neuen Verwendung zuzuführen, ohne jedoch etwas zu stehlen. Der Sinn solcher Aktionen, so schildert ihn einer der Protagonisten, bestehe darin, Irritationen bei den saturierten Bürgern auszulösen, »damit die sich nicht so sicher fühlen in ihren privaten Hochsicherheitszonen«.

Mit dem Fortschreiten der Finanz- und Wirtschaftskrise bedarf es solcher »Denkzettel« womöglich bald nicht mehr. Die zunehmend instabiler werdende Architektur des »finanzdominierten Akkumulationsregimes« (Alex Demirović/Thomas Sablowski in Prokla, Heft 166, S. 77–106), in dem sich die »Widersprüche auf immer höherem Niveau« reproduzieren und »immer weitere gesellschaftliche Verhältnisse in die Krise« ziehen, läßt auch die »Sicherheiten« des etablierten Bürgertums brüchig werden. Das System tendiert dahin, sich selbst zu sabotieren. Überakkumuliertes Kapital, das seit langem nicht mehr gedeckt ist durch reale Wertschöpfung, befindet sich auf der prekärer werdenden Suche nach »kreativen« Anlagemöglichkeiten. Selbst staatliche Schuldtitel, traditionell ein sicherer Hort für arbeitsloses, sich selbst vermehrendes Geldkapital, drohen ihren soliden Ruf einzubüßen. Der nicht selten panisch anmutende Umgang mit der Griechenlandfrage ist auch geprägt dadurch, »daß die Gesamtverschuldung einen derartigen Grad erreicht hat, daß die Reproduktion des Systems insgesamt gefährdet ist und eine massive Kapitalvernichtung unabwendbar erscheint.« (Ebd., S. 87) Es versteht sich von selbst, daß die Hauptleidtragenden zunächst die materiell schlechter gestellten Bevölkerungsteile sind. Doch auch innerhalb bürgerlicher Schichten wird es zunehmend mehr Verlierer geben.

Wen es trifft, den schützen auch keine Umzäunungen und Alarmanlagen mehr. Wenn die Reichen nach erhaltenem Denkzettel durch die »Erziehungsberechtigten«, so heißt es in Weingartners Film, später allein am Bankschalter stünden, würde eine leise Stimme zu ihnen sprechen: »Sie haben zuviel Geld.« Helfen könne ihnen dann keiner mehr. Noch lassen sich die Folgen des finanzdominierten Kapitalismus einseitig auf die Subalternen abwälzen. Wie lange noch?
Carsten Schmitt


Die Welt verändern?
Eric J. Hobsbawms letzte große Monographie »Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus« hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. In gewissem Maße enttäuschend ist die Tatsache, daß es sich größtenteils um die bloße Wiederveröffentlichung diverser Aufsätze handelt, die in den vergangenen dreißig Jahren entstanden sind. Der Autor läßt sie lediglich durch Textbrücken zu einem thematisch zusammenhängenden Werk verschmelzen. Im ersten Teil konzentriert sich Hobsbawm auf ein Nachzeichnen der Ideengeschichte der Marxschen Theorie, wobei er die gedanklich radikalen Neuerungen Marx’ und Engels’ nachvollziehbar in Verbindung mit bis dato verbreiteten (utopischen) Sozialismusvorstellungen und tagesaktuellen Ereignissen (Revolution 1848, frühe kapitalistische Produktionskrisen) setzt. Der Autor lobt Marx’ Fähigkeit, Gegenwart und Vergangenheit des kapitalistischen Systems ganzheitlich darzustellen und wendet sich im gleichen Atemzug gegen die oftmals kritisierte angebliche Tendenz einer totalen Vorbestimmtheit der zukünftigen Menschheitsentwicklung bis hin zur klassenlosen Gesellschaft.

Der zweite Teil stellt die Rezeptionsgeschichte des Marxismus im ausgehenden »Imperialen Zeitalter« (19. Jahrhundert) sowie im »Zeitalter der Extreme« (20. Jahrhundert) dar. Methodisch gesehen wählt Hobsbawm die bewährte Form der aufsteigenden Zeitlinie, die er durch Periodisierung (1880–1914, 1929–1945, 1945–1983 sowie 1983–2000) in charakteristische Entwicklungsphasen einteilt. Während die Beschreibung der Etablierung sowie der Krise des Marxismus innerhalb der europäischen Arbeiterbewegung um 1900 analytisch vorbildlich erfolgt, verschwinden erstaunlicherweise die revolutionären Erhebungen nach dem Ersten Weltkrieg, der epochemachende Sieg der Bolschewiki 1917 sowie der Aufbau der UdSSR quasi in einem Spalt zwischen den gesetzten Perioden. Hervorzuheben ist Hobsbawms Hinweis auf die fruchtbaren Versuche Antonio Gramscis, eine marxistische Theorie der Politik auszuarbeiten, sowie dessen Einfluß auf die unorthodoxen marxistischen Denker und Bewegungen der 1960er Jahre. Kompendienartig geht der Historiker auf die Entwicklungen des »Weltsozialismus« nach Stalins Tod ein, analysiert in einem separaten Kapitel den Einfluß des gesellschaftlichen Wandels nach 1945 auf die Schlagfertigkeit der Arbeiterbewegung und rechnet mit dem Kapitalismus der 1990er Jahre ab.

Wie man die Welt verändert? Hobsbawm möchte mit seiner überblicksartigen geschichtlichen Darstellung das Verständnis für Marx und sein Werk schärfen, er möchte die Werkzeuge für eine kritische Analyse der gesellschaftlichen Gegenwart liefern – die Schlacht müssen andere schlagen.
Valentin J. Hemberger

Eric J. Hobsbawm: »Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus«, aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Carl Hanser Verlag, 448 Seiten, 27,90 €



Utopie-Kollage
Am Anfang stand ein Filmprojekt: Erforschung einer »imaginären Ära nach dem ökologischen und ökonomischen Zusammenbruch«. Das fertige Produkt ist eine Kollage, irgendwo angesiedelt zwischen Dokumentarfilm und Fiction. Verschiedene Szenen auf der dem Buch beiliegenden DVD enthalten tatsächlich einen Rückblick auf die Gegenwart – von einer derzeit sehr wahrscheinlichen Zukunft aus betrachtet. Andere Teile des Films sind eine Art »poetisches Roadmovie« der Reise der Filmemacher durch ein knappes Dutzend Widerstandsnester und Aussteigerprojekte in Europa. Die Stationen der Reise sind im Buch dokumentiert, manchmal nicht ohne Humor, immer jedoch mit tiefer Sympathie für die höchst unterschiedlichen Projekte. So erfährt man im Buch/Film, wie radikale britische Klimaschützer mit selbstgebastelten Windrädern gegen die beabsichtigte Erweiterung des Londoner Flughafens Heathrow kämpfen, daß Hightech-Produkte durchaus mit ökologisch erzeugter Energie betrieben werden können, daß der libertäre Bürgermeister eines andalusischen Dorfes trotz zweier Mordanschläge und mehrerer Inhaftierungen unverdrossen im Amt bleibt. Und daß man selbst in der dänischen Künstlerkolonie Christiania am Stadtrand Kopenhagens ohne Geld kein Bier bekommt. Weniger lustig ist die Schilderung der neoliberalen Schocktherapie, der ein großer Teil der serbischen Industrie zum Opfer fiel, sowie der Bericht über den verzweifelten Widerstand.

Die dokumentierten Motivationen der Akteure sind ebenso unterschiedlich wie die Projekte und Aktionsformen selbst. Es finden sich politische Aussagen, wie »diesem Wirtschaftssystem unsere Teilhabe entziehen«, aber auch Wut über den unverhohlenen Diebstahl an gesellschaftlichem Eigentum, welches man sich jetzt einfach zurückholen will. Aus der Bahn geworfene Mittelstandsfrauen meinen, ihre Frustration mittels sexueller Freizügigkeit wieder in den Griff zu bekommen. Andere Leute wollten einfach der ungeheuren Verdichtung der Zeit durch die kapitalistische Produktion entfliehen, suchen einen Ort des Friedens, ein Paradies inmitten des Chaos. Und bleiben, wie einer der Interviewpartner meinte: »weil ich weiß, daß es in jedem Fall anderswo nichts Besseres gibt«.

Was hat dies nun alles mit der »Utopia«, dem »Land Nirgendwo« eines Thomas Morus zu tun? Nur so viel, daß die gegenwärtige Gesellschaft in einer tiefen Krise steckt und manche Menschen nach Auswegen suchen. Eine ideale Gesellschaft ist keines der beschriebenen Projekte.

Als Ergebnis des Zerfalls der zerstörerischen kapitalistischen Produktionsweise wird es ganz sicher irgendwann eine andere Gesellschaft geben. Ob sie tatsächlich besser und erstrebenswerter ist, wird sich zeigen. Man kann es hoffen und muß dafür arbeiten. Es spricht vieles dafür, daß in der Phase, in der der Kapitalismus nicht mehr und die neuen Gesellschaft noch nicht funktioniert, zunächst barbarische Verhältnisse herrschen werden. Und in barbarischen Zeiten ist die einzige Überlebensmöglichkeit ein solidarisches Miteinander von Menschengruppen. Als Plädoyer für ein solches solidarisches Miteinander sind Buch und CD zu empfehlen.
Gerd Bedszent

Isabelle Fremeaux/John Jordan: »Pfade durch Utopia«, Übersetzung: Sophia Deeg, Edition Nautilus, Buch/DVD, 317 Seiten/109 Minuten, 25 €



Gegen Krieg
Daß die Friedensbewegung derzeit in der Bundesrepublik eine Gegenmacht bilde zur weiter anhaltenden, regierungsoffiziellen »Enttabuisierung des Militärischen«, wird niemand behaupten wollen; immerhin belebt sich aber der Protest gegen die Geschäfte der Rüstungswirtschaft, auch gegen die Wehrerziehung und -forschung in Schulen und an Hochschulen. Da kommt eine Publikation zum richtigen Zeitpunkt, die den Versuch macht, einen Überblick zur Ideengeschichte von Pazifismus und Antimilitarismus zu geben. Behandelt werden darin, ohne strenge Systematik, Leitbegriffe und unterschiedliche Ansätze der kriegsgegnerischen Bewegungen; knapp vorgestellt werden ihre Vordenker und manche organisierenden Gruppen. Der Autor, mit der War Resisters› International verbunden, bringt besonders anarchistische und föderalistische Argumente gegen den Militarismus in Erinnerung. Er skizziert auch, wie die Frage »Wie hältst du es mit der Gewalt« für die politische Linke ein strittiges Thema blieb. Die Methodik des Buches läuft nicht darauf hinaus, den vielgestaltigen Widerstand gegen Militär- und Kriegspolitik in seinen realgeschichtlichen Zusammenhängen, Wirkungen und auch Niederlagen zu beschreiben. Insofern könnte es dazu anregen, das Thema fortzusetzen, auch in der Absicht, historische Impulse und Erfahrungen an Pazifisten und Antimilitaristen heute zu vermitteln. Erschienen ist das Buch in der Reihe »theorie.org«, die für Interessenten, die nicht schon langjährige Beschäftigung mit linker Theorie aufzuweisen haben, »abgebrochene gedankliche Traditionen« in knapper Form präsent machen will – ein Bestreben eines kleinen Verlages, das Unterstützung verdient.
A. K.

Wolfram Beyer: »Pazifismus und Antimilitarismus«, Schmetterling Verlag, 238 Seiten, 10 €



Sprachkunst
Fünfmal wird in Jenny Erpenbecks neuem Roman gestorben. 1902 stirbt ein Baby in einer kleinen galizischen Stadt. Die Mutter ist Jüdin, der Vater ein »Goj«. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nehmen sich in Wien ein junges Mädchen und ein junger Mann das Leben. Aus Lebensüberdruß? Aus nicht erwiderter Liebe? Im Winter 1941 kommt eine Kommunistin im Gulag, im tiefen sowjetischen Osten um. In den 1960er Jahren stürzt eine in der DDR hochgeachtete Schriftstellerin auf der Treppe ihres Hauses. Sie bekommt ein pompöses Staatsbegräbnis. Schließlich stirbt Anfang der 90er Jahre die demente Frau Hoffmann, von der Öffentlichkeit unbeachtet, neunzigjährig in einem Pflegeheim.
Jenny Erpenbeck läßt keinen Zweifel daran, daß es sämtlich Lebenszusammenhänge ihrer Großmutter Hedda Zinner gewesen sind, die als Greisin gestorben ist. Und dennoch lebte sie wohl mehr als ein Leben, denn jeder Lebensabschnitt unterschied sich immens von dem vorangegangenen und dem nachfolgenden. Wie nun die Autorin diese verschiedenen Leben an der Sprache festmacht, ist meisterhaft. Die Sprache der Verdächtigungen in der Sowjetunion der späten dreißiger Jahre charakterisiert über abgerissene Sätze und bezeichnende Worte damaliges Lebensgefühl ebenso genau, wie der betuliche Pflegeheim-Sound die Lage der Pflegeheiminsassen trifft, die nicht mehr als Individuen wahrgenommen werden. Genauso kennzeichnend das Wiener Milieu oder die Funktionärssprache eines DDR-Staatsbegräbnisses. Es ist faszinierend, wie so ein ganzes Jahrhundert mit seinen verschiedenen Erscheinungen beleuchtet, ja sinnlich faßbar gemacht werden kann.
Das Bild der Großmutter, des letztlich einen Lebens, fügt sich freilich schwer zu einem Ganzen. So hält die Enkelin ihr Verhältnis zu ihr in der Schwebe – zwischen Verständnis und Distanz.
Christel Berger

Jenny Erpenbeck: »Aller Tage Abend«, Knaus Verlag, 240 Seiten, 19,99 €



Musik-»Trabant«?
Ein imposanter Bau, das Konzerthaus in Berlin-Mitte. Erbaut wurde es nach Plänen von Schinkel und als Königliches Schauspielhaus am 26. Mai 1821 eingeweiht. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges erlitt das Haus schwere Schäden. 1945 trat auf den Stufen das Alexandrow-Ensemble der Roten Armee vor einem begeisterten Publikum auf. Am 1. Oktober 1984 konnte das Gebäude als »Schauspielhaus am Platz der Akademie« nach aufwendigen Bauarbeiten wiedereröffnet werden (s. Ossietzky 20/09). Das war eine großartige Leistung der DDR, an die sich heute kaum einer mehr erinnern will. 1998 bekam der Bau den Namen »Konzerthaus Berlin«.

Leonard Bernstein war einer der bedeutendsten Gastdirigenten. Berauscht vom »historischen Augenblick« änderte er Schillers »Ode an die Freude« reinen Gewissens in »Ode an die Freiheit« um. Eine bewegende Aufführung von Beethovens IX. Sinfonie am 25. Dezember 1989 mit dieser Änderung unter seiner Leitung wurde aus dem Konzerthaus auch auf den Gendarmenmarkt übertragen und jubelnd vom nun »befreiten« Publikum gefeiert.

Nach der »Wende« begann das große Orchestersterben. Für das Konzerthaus wurden wesentlich geringere finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt als für die Philharmonie. Es gab sogar Überlegungen, ob das Konzerthaus überhaupt noch nötig sei, ob man es anders nutzen sollte. Doch das stieß auf empörten Protest, nicht nur der Berliner. Frank Schneider war von 1992 bis Mitte 2009 Intendant. Er zitierte aus einem inoffiziellen Statement des Berliner Senats: »Seien Sie dankbar, daß wir Sie das machen lassen, und stellen Sie keine Forderungen. Die Philharmonie ist der Ferrari und das Konzerthaus der Trabant.« Klarer geht’s wohl nicht.

Mit großem Engagement überwand die Leitung des Konzerthauses die Anfangsschwierigkeiten; ein treues Publikum half dabei. Heute treten prominente Künstler aus dem In- und Ausland auf, gibt es thematische Konzertzyklen, hört man alte Musik und nähert sich der Musik der Gegenwart. Ausgezeichnet sind die zahlreichen Angebote für Kinder und Jugendliche. Davon kann man sich zum Beispiel bei öffentlichen Generalproben überzeugen. Der neue Chefdirigent Iván Fischer zieht das Publikum sofort in seinen Bann. Wir erlebten, wie jeder Platz im Großen Saal besetzt war und nicht nur die jungen Leute gespannt zuhörten. In einer lockeren, ansprechenden Form vermittelte er Interessantes und Wissenswertes über die aufgeführten Werke und ihre Komponisten; das gelang ihm bei Beethoven ausgezeichnet. Die regelmäßigen Generalproben haben einen festen Platz in meinem Kalender. Wo kann man für fünf Euro Eintritt so Hervorragendes genießen? Für Schüler und Studenten ist der Besuch kostenlos. Es ist lobenswert, daß für Klassen so viel angeboten wird, wenn man daran denkt, daß der Musikunterricht an vielen Schulen ein Stiefkind ist und Musikschulen um ihre Existenz kämpfen müssen.
Maria Michel


Zuschrift an die Lokalpresse
Im Berliner Kurier fand ich eine Überschrift, die mir zu denken gab: »Obdachloser Toter war schon krank«. Hatten ihm die Behörden nach seinem Ableben den Friedhofsplatz verweigert oder wegen Eigenbedarfs gekündigt? Hatte er sich bei einem Ausflug verirrt und nicht auf seinen Liegeplatz zurückgefunden? Die in einem Hinterhof aufgefundene obdachlose Leiche soll vorher in einer selbstgebauten Hütte gelebt haben. Wie aber ist das anatomisch möglich? Und an welcher Krankheit litt der »obdachlose Tote?« War er erst tot oder erst krank oder erst obdachlos oder umgekehrt? Oder liegt es einfach an der Formulierung, und der »obdachlose Tote« ist sprachlich mit einem »toten Obdachlosen« verwechselt worden? – Frauke Ruhleben (32), Ermittlerin, 18320 Todenhagen
Wolfgang Helfritsch


Press-Kohl
Daniela Vates berichtete in der Berliner Zeitung über »Merkels zweiten Triumph über Schröder ..., die Kanzlerin regiert länger als ihr Vorgänger«. Bei Frau Angelas Auftreten ist vieles seit langem fixiert: der elegante Gleichschritt, unterstützt von apart wirkenden schaufelnden Armbewegungen; die in hoheitsvolles Lächeln eingebetteten Küßchen, die so sicher sitzen wie die Knopfleisten der Kanzlerin – diskrete Symbole einer sichtbaren Würde, ähnlich des zweibeinigen Fortbewegungsstils der Kanzlerin. Sie schreitet nicht, sie tänzelt nicht. Sie ist die lächelnd personifizierte Darstellung der Demokratie, welche auch mit Waffen handelt und keine bunten Jacken benötigt, sondern ohne Eskorten, ohne prächtige Kleider in nuanciert farbgetönten Jacken jedermann an Jedermanns Nasen bewegen möchte, ohne daß unsereiner das merkt.

»... Für Tag eins nach dem Gleichstand hat sie kein besonders spektakuläres Programm: Sie fährt nach Schwerin, in ein Umspannwerk, um eine besonders leistungsfähige Stromleitung in Betrieb zu nehmen ...« Ich bin sicher, daß sie nicht mal dabei der Schlag treffen wird.

Etwas Ähnliches könnte freilich sensiblen Lesern passieren, die sich ohne spezielle Schutzkleidung die Lektüre der kritischen Aufsätze Ulrich Seidlers zumuten. Im Dezember veröffentlichte die Berliner Zeitung Herrn Seidlers Bericht über die Inszenierung von Gorkis »Sommergästen« der Berliner Schaubühne. »Der inszenatorische Ansatz des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis ... ist von narkotischer, verwahrloster Prächtigkeit … In den Augen der defilibrierten Warwara schwimmt noch ein Rest von Seligkeit … Man sieht fast die zerfetzten Nerven wie feuchte Zotten aus den Figuren hängen und über den Boden schleifen, es gibt keine Scham mehr ... Viel zu oft überlagert die Regieanweisungserfüllung das eigentliche Spiel ...«

Nachbarin! Das Fläschchen!!
Felix Mantel