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Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Schlechte Stücke, verhunzte Klassiker, mißratene Gesellschaftskritik, miserables Handwerk und Inhumanität als Substanz – das ist es, was ich bei meinen Wanderungen in der Regel antreffe. Selten kehre ich heiterer Stimmung zurück.

Diese Saison begann freilich ganz gut im Berliner Ensemble. Brechts »Trommeln in der Nacht«, das Stück über die komische deutsche Revolution von 1918/19 mit ihren tragischen Folgen, hatte einst einen großen Auftakt mit berühmten Schauspielern unter Otto Falckenberg. Die neue Inszenierung von Philip Tiedemann ist recht brav. Besondere Erkenntnisse vermittelt sie nicht. Als Figur prägt sich eigentlich nur Manfred Karge als Vater Balicke im Gedächtnis ein. Aber da stimmt der soziale Gestus, man kann einiges über das Versagen jener Revolution begreifen. Informativ das Programmheft!

Erfolgreicher sicher die hier 1928 uraufgeführte und in allen weiteren Inszenierungen etwa 750 bis 800 mal gespielte »Dreigroschenoper«, jetzt inszeniert von Robert Wilson und gespielt von guten Schauspielern wie Jürgen Holtz (Peachum), Traute Hoess, Axel Werner, Angela Winkler, Heinrich Buttchereit, Walter Schmidinger (großer Schauspieler, der kleine Rollen zur großen macht) und anderen. Daß der Hochformalist Wilson das Stück verkunsten und entschärfen würde, war von vornherein klar. Wichtige Sätze gegen das kapitalistische ­System fehlen. Ein Beweis für die angebliche Überlebtheit des Werks ist das nicht. Eine kurze Zeit danach im Sender Arte ausgestrahlte Frankfurter Inszenierung von André Wilms beweist das Gegenteil: Hier schlagen die »schweren Eisenhämmer« wirklich in »ihre Fressen«.

Jean Anouilhs »Das Orchester«, ein Frauenstück mit zwei Männern und viel Musik ist eine traurige Komödie, die von Kunst und Musik handelt und letztlich das Theater selbst thematisiert – und am Ende ein traurig gescheitertes Leben. Jutta Ferbers hat dieses »Konzertstück« sauber inszeniert und das Sextett von SchauspielerInnen, die MusikerInnen darstellen, spielt fast so exakt wie ein Musiker-Sextett, zu dem der Pianist Léon gehörte und am Rande der Wirt Lebonze. Das Berliner Ensemble mit seinen vielen Möglichkeiten kann also auch Theater kammermusikalischen dieser Art.

Nach den teilweise hellen Farben des BE nun das seelisch-kalte Schwarzgrau des gegenwärtigen Deutschen Theaters.»Anatomie Titus Fall of Rome . Ein Shakespearekommentar« von Heiner Müller – ein abscheuliches Stück. Nun mochte ich schon Shakespeares Gruselstück »Titus Andronikus« mit seinen Leichenbergen nicht. Nicht der grausamen Vorgänge, die Wirklichkeit abbilden, sondern der schlechten Machart wegen. Diese Römertragödie ist nun mal eines der wenig gelungenen Stücke des Meisters. Müllers Umformung zum schlimmeren Metzelstück ist noch weniger gelungen. Solches Theater verzichtet darauf, Denken zu lehren. Es ist ein aasiges Spiel daraus geworden, auch wenn ein sonst guter Regisseur wie Dimiter Gotscheff, einst Schüler Benno Bessons, es herausgebracht hat.

Der Abend wäre vertane Zeit, wenn nicht – neben mehreren guten Darstellern wie Margit Bendokat – der ausgezeichnete Samuel Finzi im Mittelpunkt stände. Der Bulgare – in seiner Heimat ein berühmter Filmschauspieler (nur sein Vater Izchak ist berühmter) – spielt die lausigste Figur des Stückes, den Aaron, der zudem ein Schwarzer ist, ein Schwarzer mit jüdischem Namen. Da lauern rassistische Gefahren. Finzi hat sich auf brüchiges Glatteis begeben. Die Figur ist in ihrer Brillanz gefährlich, zumal dramaturgisch nicht geglückt. Finzi schrammt gerade eben am Unheil vorbei. Wozu mußte man dieses Stück noch einmal aus der Mottenkiste holen?

Auch das zweite Müller-Opus konnte mir keine Sympathie abgewinnen, in seiner Entstehungszeit nicht wie heute nicht. Mochte 1990 der Zehnseiten-Text »Hamletmaschine« vor dem Hintergrund des DDR-Unterganges noch Erregung erzielen, so hat die Selbst-Demontage des Autors Müller hier bestenfalls noch Kabarettwert. Ein öffentlicher Spaßmacher der bitteren Sorte, ein großer Clown mit bedingten Wahrheiten, auch sich selbst gegenüber, der andere gern schockte oder an der Nase herumführte. Auch mit diesem Text.

Nun konnte der Regisseur – wieder Gotscheff – nicht aus seiner Müllertreue heraus, wo Skepsis und Ironie am Platze gewesen wäre, zumindest Abstand zu den großen Flüchen des Werkes, die zur Phrase geworden sind. Wie die angespielten mythischen und historischen Personen zur Fassade, zu Figurinen aus dem Fundus.

Und warum mußte er auch noch – schwerlastig durch den Abend keuchend – sein eigener Darsteller sein? Ein guter Regisseur ist noch lange kein guter Schauspieler. In diesem Falle hatte seine Doppelaufgabe auch zur Folge, daß er seine jungen Mitspieler nicht mehr führen konnte, die den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen auf abstürzende Weise vollführten. So kann Theater an sich selbst zugrunde gehen. Schade um den Aufwand!

Eher ein mäßig-müßiges Leichtgewicht ist Roland Schimmelpfennigs »Das Reich der Tiere«, als Uraufführung von Jürgen Gosch herausgebracht. Das ist in der bescheidenen Gestalt einer Tier-Parabel eine Art Selbstpersiflage des Theaters. Als Tiere verkleidet müssen die Künstler immer dieselben Hahnenkämpfe vorführen und dennoch vor einer Absetzung des Stückes Angst haben, weil dann Entlassungen drohen. Sozialer und Existenzkampf also! Auf Schimmelpfennigsche Art, also klein gedacht und angelegt. Und auch dem Regisseur ist wenig eingefallen: Schauspieler ziehen sich aus, stehen nackt herum, bewerfen oder bekleckern sich mit Sand und Schlamm, nur Dörte Lyssewski darf in Kleid und mit Antilopenmaske auftreten. Damit also soll die Mühseligkeit künstlerischer Existenz, gar ihre Verdinglichung gezeigt werden. Dünnbrettbohrerei! Langweilerei!

Bemerkenswert hingegen ein Liederabend, den man in diesem Hause nicht erwartet hätte: »Winterreise« von Wilhelm Müller und Franz Schubert von 1827, gesungen von Daniel Kirch, begleitet von Jürg Henneberger, inszeniert von Michael Thalheimer. Fremdsein ist das Thema dieses Liederzyklus. Der Entfremdungsszeniker Thalheimer läßt den Abend nobel beginnen – wie einen richtigen Liederabend. Der Sänger steht und singt. Doch allmählich fängt er an, sich im leeren Raum zu bewegen, das Gesungene körperlich auszudrücken. Und allmählich ändert sich auch die Musik: Das Singen wird gequetscht, geknödelt, der Pianist schlägt auf die Tasten, knallt den Flügel zu, spielt hinter der Bühne weiter. Am Ende, beim »Leiermann« liegt der Sänger nackt unten, der Pianist hockt am Klavier, und das ist verstimmt. Mißtöne, Zerstörung der Harmonien, Knalleffekte – Fremdsein, Eiseskälte, Todesgeruch strömen von der Bühne. Fremdsein ist das Thema, wie wir wissen. Thalheimer macht daraus Zerstörnis. Früher konnte ich mir nie ganz erklären, warum mich seine Produktionen so frieren ließen. Doch jetzt habe ich etwas verstanden, vor allem über die Wahl des Lyrischen als Ausdrucksmittel: Es kommt seine Kälte über die Rampe. Vereisung als Zeitsyndrom!

Dreimal kam ich in der Schaubühne am Lehniner Platz an. Wehmütiges Eingedenken an die früheren Triumphe dieses Theaters, long, long ago! Nun machen sie hier zwar auch politisches Theater, aber mehr Politik auf dem Theater, auf der Bühne. »Tommy« heißt ein Stück des Dänen Thor Bjorn Krebs, gespielt im Studio, inszeniert von Benedikt Haubrich. Erzählt wird die Geschichte eines jungen Mannes, der – in der Heimat frustriert – UNO-Soldat wird und im Jugoland kämpft, sich später als Heimkehrer aus dem Krieg nicht mehr zurechtfindet und wieder in die Truppe zurückwill. Das Thema des ver- und zerstörten Heimkehrer-Soldaten ist schon viel besser gestaltet worden, etwa bei Remarque, Brecht (s.o.), Wolfgang Borchert, Peter Weiss und anderen. Die Aufführung trägt kaum zu besserem Verstehen bei. Titelheld, Eltern und andere Mitlebende sind so allgemein wie möglich – kann vergessen werden.

Was mag die Schaubühnenleiter allgemein und Luk Perceval im besonderen bewogen haben, vier Stücke des großen Molière (»Der Menschenfeind«, »Don Juan«, »Tartuffe«, »Der Geizige«) zu einem Abend unter dem Titel »Molière« zusammenfassen? Wo doch schon eines Schwierigkeiten genug bis zum Zähne-Ausbeißen hat? Barrault, Planchon, Savary, Vilar oder Brecht, Besson, Kortner, Noelte waren wesentlich bescheidener. Sie hatten Mühe mit jedem Einzelstück und gaben große Theaterereignisse. Da sind unsere jungen Kraftmeier unbedenklich, gebärden sich als Theaterschulmeister, die die Klassiker belehren müssen, finden erstaunlicherweise immer wieder gute Schauspieler (wie etwa Thomas Thieme) und liefern einen unverdaulichen Brei, wie er eben täglich in unserm Theaterbetrieb angerührt wird und von uns genossen werden soll. Danke, nein – ich will Magen und Kopf schonen, beide werden noch gebraucht.