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Titel1012

Sozialabbau 2012, Folge 5  (Franziska Walt und Tilo Gräser)

6. April: Fernseh-Koch Christian Rach hetzt gegen Arbeitslose und bezeichnet »Hartz IV« als »Rundumversorgung« für Arbeitslose. »In der Ausbildung verdienen Sie in der Gastronomie nach Tarif 525 Euro im Monat. Mit ›Hartz IV‹ haben Sie im Endeffekt mehr und wissen, daß die Miete gezahlt wird«, sagt Rach der Zeitschrift Bild der Frau. Er meint: »Kein Wunder, daß manche diese Rundumversorgung ungern aufgeben. Diese Gesetzeslücke müßte geschlossen werden.« Daß die Löhne angehoben werden müßten, fällt dem Fernseh-Koch nicht ein.

– Kindertagesstätten in Essen suchen dringend Personal. Trotzdem werden ausländische Abschlüsse von Erzieherinnen nicht anerkannt. Das berichtet die WAZ am Beispiel der Brasilianerin Ana Cristina B. Sie hat jahrzehntelang als Erzieherin gearbeitet, nachdem sie in ihrem Heimatland Brasilien Sozialarbeit studiert und dort schon in Kindergärten und Familienzentren gearbeitet hatte. Das tat sie auch, als sie vor 20 Jahren in die Bundesrepublik kam. »Nun muß ich ›Hartz IV‹ beantragen.« In einer Zeit, in der Kitas um Erzieherinnen buhlen, in der das Jugendamt die Personalgewinnung forciert und viele Stellen unbesetzt bleiben. B. erlebt, daß ihre Bewerbungen zunächst auf großes Interesse stoßen. Aber wie formulierte ein Arbeitgeber einmal: »Ich brauche ausschließlich Erzieherinnen mit Schein.« Deutschem Schein.

9. April: Von 61 Euro Rente im Monat kann in Deutschland niemand leben, erst recht nicht in München. Die Süddeutsche online berichtet, daß das bulgarische Rentnerpaar H., seit vier Jahren in Bayerns Hauptstadt lebend, pro Kopf 61 Euro Rente aus Sofia bekommt. Da sie keinen Anspruch auf deutsche Sozialleistungen haben, gehen sie betteln. Sie und andere Bedürftige aus osteuropäischen Ländern standen bei der Stadt seit Jahren im Verdacht, für eine organisierte Bettlerbande zu arbeiten, schreibt das Blatt. Bei den beiden Rentnern häuften sich Bußgeldforderungen von rund 10.000 Euro an. Die Caritas, die die bulgarischen Einwanderer betreut, versucht schon seit geraumer Zeit, dem zuständigen Kreisverwaltungsreferat die Situation zu erklären. Nun will München den harten Kurs gegenüber ausländischen Bettlern korrigieren. Auch die Bußgeldbescheide sollen zurückgezogen werden. Die traurige Pointe der Geschichte: Bei der Caritas in München läuft ein zweijähriges Projekt namens »Bildung statt Betteln«, das von zwei bulgarisch beziehungsweise rumänisch sprechenden Sozialarbeitern betreut wird. Das Projekt wird aus der Kasse der Stadt bezahlt, schreibt die Süddeutsche. Daß ein großer Teil der Projektarbeit bislang für juristische Streitigkeiten mit der Bußgeldkasse derselben Stadt draufging, »das hatte schon etwas Absurdes«, so ein Caritas-Mitarbeiter.

10. April: »Ältere Arbeitssuchende auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt und wie Unternehmen davon profitieren können«. Mit dieser entlarvenden Überschrift wurden offenbar ältere Arbeitslose in Hessen zu einem »Aktionstag 50Plus« eingeladen. Sie sollen sich ebenfalls eingeladenen Zeitarbeitsfirmen präsentieren. »Ziel der hessischen Jobcenter ist offensichtlich, die Erwerbslosen dieser Altersstufe als Arbeitskräfte zu Schleuderpreisen an Zeitarbeitsfirmen zu verschachern ...«, sagt Rainer W. Monzheimer, Vorsitzender der Wiesbadener Initiative für soziale Gerechtigkeit, in einem Interview der jungen Welt.

11. April: Wer zu den Nutznießern des Sozialabbaus gehört, zeigt ein Bericht des Berliner Tagesspiegels aus Anklam: In der vorpommerschen Stadt gehören die Neonazis längst dazu. Das kann an der sozialen Misere der Stadt liegen. Oder, wie der Bürgermeister sagt: an fehlender Eigenverantwortung. Einer der engagierten Neonazis im Ort ist Rechtsanwalt Michael Andrejewski. Der NPD-Politiker berate »Hartz IV«-Bezieher, gebe ein »unabhängiges Meinungsblatt« heraus, die NPD besitze verschiedene Immobilien sowie einen CD- und Modeladen im Ort. Anklam hat seit der Wende rund ein Drittel seiner Einwohner verloren und steht mit dauerhaft 20 Prozent Arbeitslosen in Deutschland an der Spitze. Für ihn und seine Leute sei Anklam ein Paradies, sagt der Neonazi Andrejewski dem Tagesspiegel. Denn sie gehörten dazu.

12. April: In Hamburg sind nach Angaben des Diakonie-Hilfswerks rund 160.000 Menschen überschuldet, berichtet der Norddeutsche Rundfunk auf seiner Homepage.

– Der Bundesverband Mittelständische Wirtschaft (BVMW) fordert in der Bild-Zeitung eine Reduzierung der »Hartz IV«-Regelsätze für Jugendliche. Auslöser war, daß die Bundesagentur für Arbeit viele Sanktionen gegen junge ALG-II-Bezieher verhängt hat. BVMW-Präsident Mario Ohoven zur Bild: »Das ist ein Alarmzeichen für den Sozialstaat. Viele junge Erwachsene kassieren lieber staatliche Stütze, als arbeiten zu gehen. Deshalb dürfen die »Hartz IV«-Sätze nicht höher sein als der Anfangslohn für einen Azubi.« Notfalls müßten die Sozialleistungen auch mal nach unten korrigiert werden. Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) wurde von der Zeitung folgendermaßen zitiert: »Sofort bei ›Hartz IV‹-Antragstellung muß den Jugendlichen ein Job, zur Not auch ein 1-Euro-Job, vermittelt werden. Erfahrungen zeigen, daß ein beträchtlicher Teil den Stütze-Antrag dann wieder zurückzieht.«

17. April: Eine sechsköpfige Familie aus Berlin-Schöneberg muß einen Umzug an den Stadtrand in Kauf nehmen, weil ihre Miete vom Jobcenter als unangemessen hoch bewertet wurde, berichtet die Berliner Morgenpost. Das Sozialgericht Berlin hat am 16. April die Klage der Familie gegen die Entscheidung des Jobcenters abgewiesen. Die Richter stellten jedoch fest, daß der Familie 20,17 Euro mehr für Miete zustehen als bislang vom Jobcenter veranschlagt (Aktenzeichen: S156AS22571/08). Die Differenz zwischen effektiver Miete und dem Betrag, den das Jobcenter übernimmt, betrug in dem Fall 300 Euro. Das soziale Netzwerk der Kinder am bisherigen Wohnort sowie die Ärzte in der näheren Umgebung, die der kranke Vater der Familie benötigt, waren für die Richter kein Grund gegen einen Umzug. Auch nicht, daß in Schöneberg keine Wohnung zu finden war, die den Mietrahmen des Jobcenters nicht sprengte.

– Ein 52jähriger »Hartz IV«-Bezieher in Speyer (Rheinland-Pfalz) hat einen Hungerstreik begonnen, um auf seine Situation aufmerksam zu machen. Dies berichtet die online-Plattform gegen hartz. Das Jobcenter Speyer hatte die Zahlung der »Hartz IV«-Leistungen an Michael E. komplett eingestellt mit der Behauptung, er bilde mit seiner Untermieterin eine Bedarfsgemeinschaft. Da das Jobcenter bei ihm »fehlende Mitwirkungspflicht« feststellte, kürzte es die ALG-II-Leistungen um 100 Prozent. Der Mann hatte allerdings die Untermieterin schon längst als solche beim Arbeitsamt gemeldet, was damals auch gutgeheißen worden war. Die bislang selbständig tätige Frau mußte im März 2012 ALG II beantragen, woraufhin die Behörde den beiden eine Bedarfsgemeinschaft unterstellte. »Ich werde behandelt wie der letzte Dreck. Ich habe 25 Jahre auf dem Bau gearbeitet, was ich jetzt nach drei Bandscheibenvorfällen nicht mehr kann«, zitiert gegen hartz Michael E.

22. April: Das Charakter-Gesicht des Schauspielers Tilo Prückner kennt ganz Fernseh-Deutschland, dem Berliner Kurier gab er einen kleinen Blick hinter die Kulissen. Der 71jährige drehe sieben bis acht Filme im Jahr, weil er auf das Geld angewiesen sei, schreibt das Blatt. »Irgendwie muß die Kohle ja reinkommen«, zitiert die Zeitung Prückner. »Ich kriege nur 800 Euro Rente. Das reicht vorne und hinten nicht – oder ich muß meinen Lebensstil extrem einschränken. Da arbeite ich lieber noch eine Weile.« Seine Rente sei halbiert worden, weil er sich von seiner Frau habe scheiden lassen. Sie sei zwar in der Zwischenzeit verstorben, ihr Teil werde aber trotzdem einbehalten. Außerdem hänge die Rente davon ab, wie viele Tage im Jahr er gearbeitet hat. »Und wir Schauspieler arbeiten nicht so regelmäßig wie Beamte. Das hat meine Rente gedrückt.«

24. April: Rund zehn Prozent der Arbeitslosengeld-I-Bezieher (75.000 Personen) müssen mit »Hartz IV« aufstocken, weil das ALG I nicht zum (Über-)Leben reicht. Dies berichtet die Süddeutsche Zeitung online und beruft sich dabei auf Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die »Parallelbezieher« erhielten laut Zeitung aus der Arbeitslosenversicherung im Schnitt 511,79 Euro im Monat und mußten mit durchschnittlich 318,05 Euro an »Hartz IV«-Leistungen aus der staatlichen Grundsicherung aufstocken. Auch dies eine Konsequenz aus dem »boomenden« Billiglohnsektor.