Mehr Geld für das Militär wollen nur 27 Prozent der Deutschen ausgeben, ermittelte Allensbach 2018. Auch Emnid befragte BürgerInnen: Auf einer Liste von 20 Themen wurde die Bekämpfung der Altersarmut als wichtigste Aufgabe genannt, während »Verteidigungsausgaben aufstocken« auf dem letzten Platz landete. 91 Prozent der Befragten in Deutschland denken, dass von Russland keine Gefahr droht – aber 83 Prozent sind der Meinung, dass Donald Trump zu einem Krieg bereit ist. Alles egal: Die Bundesregierung und die EU-Kommission verfolgen eine Politik, die der weit verbreiteten antimilitaristischen Stimmung in der Bevölkerung diametral entgegengesetzt ist.
Der Abteilungsleiter Politik im Bundesministerium der Verteidigung, Géza Andreas von Geyr, will mit einem besonderen Narrativ eine »Europäische Verteidigungsunion« in den Köpfen verankern – bis hin zu einem »robusten Einsatz«, sprich Krieg. »Das sei nötig, denn es gehe um die Glaubwürdigkeit der europäischen Verteidigung«, berichtet das Ministerium (27.11.2018). Dafür arbeitet die Friedensnobelpreisträgerin EU hart und konsequent.
Die deutsche Führungsmacht plädiert in der Person von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ausgerechnet in Mali für gemeinsame europäische Militäreinsätze und für eine »Armee der Europäer«. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer stimmt ihr voll zu und will dafür den bislang verbindlichen Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundeswehr »ein Stück zurückfahren«. Die von der Machtelite seit Jahren konzertiert propagierte Parole »mehr Verantwortung in der Welt übernehmen« wird tatkräftig umgesetzt. Sogar UN-Generalsekretär António Guterres plädierte kürzlich bei der Entgegennahme des Karlspreises in Aachen für mehr Einsatz Europas für die Weltgemeinschaft – auch militärisch?
Robuste Einsätze des Militärs entgegen Mehrheitsmeinung und Parlamentsvorbehalt erfordern entsprechende Narrative und Feindbilder; zum wichtigsten wurde der russische Präsident Wladimir Putin aufgebaut. Arbeitet der russische Feind etwa zielstrebig auf Selbstmord hin? Die Statistiken weisen eindeutig nach: Während die NATO-Staaten im Jahr 2018 über eine Billion Dollar für das Militär ausgaben, erscheinen die 66 Milliarden die Russland dafür zur Verfügung stellt, geradezu bescheiden. Wie will Russland gegen eine 15fache Übermacht bestehen?
Nehmen wir dennoch mal die Narration von russischer Aggression, Bedrohung des Westens und Ziel der Friedenssicherung ernst, die uns Regierungspolitik und Presse ständig einzuhämmern suchen. Welchen Beitrag zum Frieden haben NATO und EU-Staaten in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen erbracht? Welchen Grund könnte Russland haben, dem Friedenswillen der »westlichen Wertegemeinschaft« zu vertrauen, angesichts der systematischen Einkreisung durch NATO und EU trotz aller gegenteiligen Zusagen vor 30 Jahren? Ungleiche Handelsverträge und Erpressung, Neokolonialismus, Unterstützung für Diktatoren – sind das die Beiträge zum Frieden in afrikanischen Ländern? Angenommen, die EU machte sich Sorgen um die Demokratie in Russland: Ist zur Einhaltung der Menschenrechte und zur Förderung demokratischer Prinzipien eine 15fache militärische Überlegenheit erforderlich? Sind die 6,5 Milliarden Euro der EU für panzertaugliche Straßen nach Osten (im Europäischen Verteidigungsfonds »Connecting Europe« genannt!) als vertrauensbildende Maßnahme aufzufassen? NATO-Manöver zusammen mit der Ukraine im Schwarzen Meer? Neue Kampfjets der Bundeswehr für modernisierte US-Atombomben?
Nein, die Gründe für EU-Aufrüstung, Aufbau von Feindbildern und Schüren der Terrorangst sind anderswo zu suchen. Die westliche Führungsmacht USA mit ihrem Anspruch auf Weltherrschaft (Pentagon: »Wir werden dafür sorgen, dass die Machtverhältnisse zu unseren Gunsten bestehen bleiben ...«, zit. nach W. Listl, isw Report Nr.115, S. 47) schwächelt; die kapitalistische Konkurrenz der EU steht bereit, mit wirtschaftlicher Expansion und Militarisierung ihren Anteil an der Beute zu erkämpfen. Bereits 1993 gab der damalige Bundeswehr-Generalinspekteur Neumann die Richtung vor: »Es gibt zwei Währungen in der Welt: wirtschaftliche Macht und die militärischen Mittel, sie durchzusetzen.« Seit 2002 verfolgt die EU geostrategische Schlüsselprojekte für eine großeuropäische Wirtschaftszone.
Detailliert beschreiben Claudia Haydt und Jürgen Wagner die generalstabsmäßige Planung der EU zur Erlangung einer bedeutenden Weltmachtstellung (»Die Militarisierung der EU«, edition berolina, 2018). Aus dem Konzept EU Global Strategy (EUGS) zitieren sie: »Im Zusammenhang mit dem Interesse der EU an einem offenen und fairen Wirtschaftssystem besteht die Notwendigkeit von weltweitem Wachstum und weltweiter Sicherheit im Seeverkehr, wodurch […] der Zugang zu den natürlichen Ressourcen sichergestellt« wird (S. 185). Es bestehe die Notwendigkeit, in die Widerständigkeit der östlichen Nachbarschaft bis nach Zentralasien und in die südliche bis Zentralafrika zu investieren. »Die Vorstellung von Europa als einer ausschließlich ›zivilen Macht‹ wird aber der sich entwickelnden Wirklichkeit nicht gerecht. […] Für Europa gehen Soft Power und Hard Power Hand in Hand« (S. 186). Auch weiter entfernte Einätze müssten von Fall zu Fall erörtert werden. Während also die Festung Europa abgeschottet wird, soll die imperiale Expansion systematisch fortentwickelt werden.
Zusätzlich zu den nationalen Haushalten bemüht sich die EU seit Jahren um ein gemeinsames zusätzliches Budget für das Militär. Erst durch das Brexit-Referendum rückte das Ziel in greifbare Nähe. Jahrelang hatte Großbritannien den Ausbau gemeinsamer militärischer Projekte der EU blockiert, da es NATO-Strukturen favorisierte. Sofort nach dem Brexit-Referendum ergriff die EU die Initiative zur Stärkung der strategischen Autonomie; inzwischen sind 34 Projekte spruchreif, weitere sollen Ende des Jahres folgen.
Im Februar 2019 gab die EU-Kommission die Einigung über einen Europäischen Verteidigungsfonds bekannt. Der Haushaltsentwurf für die Jahre 2021 bis 2027 enthält etwa einen Posten über 6,5 Milliarden Euro für »Militärische Mobilität«; für ein neues Forschungs- und Innovationsprogramm »Horizont Europa« werden 100 Milliarden Euro bereitgestellt. Darüber hinaus besteht seit einem Jahr außerhalb des mehrjährigen Haushalts der Union ein Schattenhaushalt unter der Bezeichnung »Europäische Friedensfazilität« mit einem Volumen von 10,5 Milliarden Euro. »Dieser Fonds wird die Finanzierung von operativen Maßnahmen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen ermöglichen«, teilte die EU mit.
»Europa wird erwachsen«, schreibt der Spiegel anerkennend (11.11.1917). Gemeint ist damit nicht, dass Friedensinitiativen und Abrüstungsmaßnahmen gefördert und durchgesetzt würden. Vielmehr setzt die EU auf Aufrüstung und militärische Gewalt zur Durchsetzung wirtschaftlicher und strategischer Interessen – auch gegenüber der Vormacht jenseits des Atlantiks. In dem EU-Projekt Permanent Structured Cooperation (PESCO – Ständige strukturierte Zusammenarbeit) wird ein militärisches Kerneuropa mit Spitzenfähigkeiten aufgebaut. Das Ziel ist eine wirtschaftlich-militärische Supermacht. PESCO, die »schlafende Schönheit des EU-Vertrages« (Juncker, Präsident der EU-Kommission) beinhaltet die regelmäßige reale Aufstockung der Haushaltsmittel, eine Machtkonzentration der stärksten EU-Staaten und eine selbstverständliche Legitimation militärischen Vorgehens.
Die starken Staaten der EU verfügen also in Zukunft über verschiedene militärische Optionen, ihre Interessen in der Welt militärisch durchzusetzen: national, in der EU oder im Rahmen der NATO. Atomwaffenverbot, UN-Charta oder gar Abrüstung und Bekämpfung der Ungleichheit sind kein Thema in der EU-Politik.