Der Rat der Europäischen Union hat am 1. Juni erneut einstimmig die eigenmächtigen, als »Sanktionen« bezeichneten Blockademaßnahmen der EU gegen Syrien um ein Jahr verlängert. Die USA haben ihre in den letzten Monaten sogar noch verschärft. Dabei machen die Vereinten Nationen (UNO) und Hilfsorganisationen sie seit langem und in hohem Maße für die miserablen Lebensbedingungen im Land mitverantwortlich. Die Zeit dagegen verteidigt sie in ihrer Ausgabe vom 1. März vehement. In einem Gastbeitrag bestreitet die grüne Politologin Bente Scheller jegliche negative Auswirkungen der wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen auf die Bevölkerung. Berichte über Mangel an Nahrung, Medikamenten, Ersatzteilen für medizinische Geräte et cetera tut sie salopp als »abstruse Gerüchte« ab, die hierzulande nur von der AfD sowie Teilen der Linkspartei und der Friedensbewegung verbreitet würden. Von Sanktionen betroffen sei »nichts, was humanitäre Belange beträfe«. »Das Regime« wolle sie nur loswerden, weil sie den Wiederaufbau behindern und benutze dabei das »Leid der Zivilbevölkerung als Waffe«.
Die Autorin ist Leiterin des Büros der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut und war zuvor unter anderem Referentin für Terrorismusbekämpfung an der deutschen Botschaft in Damaskus. Wäre sie nicht so fest verbunden mit grüner Partei- und deutscher Außenpolitik, könnte sie es daher besser wissen. Schließlich gibt es schon seit längerem Berichte, die ihrer Sicht fundamental widersprechen, unter anderem von der UN-Organisation für Wirtschaft und Soziales in Westasien (ESCWA) und dem Welternährungsprogramm (WFP).
Die Zeit selbst hätte am 29. Mai die Gelegenheit gehabt, sich auf einer Pressekonferenz in Berlin von sachkundiger Seite über die tatsächlichen Folgen der Sanktionen zu informieren. Auf Einladung der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW berichtete der UN-Sonderberichterstatter Idriss Jazairy über die Ergebnisse seiner Untersuchungen vor Ort. Seine Ausführungen waren brisant, insgesamt eine vehemente Anklage gegen die westliche Sanktionspolitik. Das Medieninteresse blieb jedoch gering. Nicht einmal junge Welt und neues deutschland hielten es für nötig, darüber zu berichten, der Nachrichtenagentur dpa war es anschließend nur eine Kurzmeldung wert. Ausführlich berichteten dagegen die Nachrichtenportale Sputnik News und RT Deutsch.
Die Stelle des »Sonderberichterstatters über negative Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen auf die Gewährleistung von Menschenrechten« war vom UN-Menschenrechtsrat geschaffen worden, weil innerhalb der Vereinten Nationen eine Mehrheit der Ansicht ist, so Jazairy, dass die Anwendung solcher Maßnahmen »gegen internationales Recht, das humanitäre Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen und die Normen und Grundsätze für friedliche Beziehungen zwischen Staaten verstoßen« könne.
Der algerische Diplomat und Menschenrechtsexperte Jazairy ist seit vielen Jahren in leitenden Positionen der UNO tätig und unter anderem auch Gründungsmitglied des Menschenrechtsrates. Er besuchte Syrien 2018 in Ausübung seines Amtes und stellte dabei eine »dramatische Zunahme des Leidens des syrischen Volkes« fest. Es sei selbstverständlich nicht leicht, so Jazairy, die Auswirkungen der Sanktionen von denen des Krieges zu trennen. Wobei, wie er einleitend klarstellte, der auch von ihm teilweise verwendete Begriff »Sanktionen« nicht korrekt sei, da nur der UN-Sicherheitsrat legitimiert ist, Strafmaßnahmen zu erlassen. Die von ihm untersuchten Zwangsmaßnahmen wurden aber von den USA und den EU-Staaten eigenmächtig verhängt. Die USA hatten schon 1979 damit begonnen und sie ab 2011 verschärft. Die EU zog ab 2011 mit und ergriff ähnliche Maßnahmen, die sie in der Folge 52 Mal ausweitete und verschärfte.
Darunter fällt eine Reihe sogenannter gezielter Maßnahmen, die sich gegen Einzelpersonen richten, etwa wegen ihrer Verbindung zur syrischen Regierung oder auch nur aufgrund familiärer Beziehungen. Den zerstörerischsten Effekt hätten jedoch die kollektiven Maßnahmen. Dazu gehören Handelsverbote für bestimmte Waren und Dienstleistungen, aber auch Maßnahmen, die internationale Finanztransfers verhindern. Die Überlagerung verschiedener Maßnahmenpakete in Verbindung mit den generellen finanziellen Beschränkungen entspreche einer umfassenden Wirtschaftsblockade Syriens, wie Jazairy feststellt. Er spricht von »verheerenden Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft und das tägliche Leben der einfachen Menschen«. Der Krieg habe die Situation dann noch massiv verschlimmert.
Der UN-Diplomat berichtet: Seit 2011 sei das Bruttoinlandsprodukt Syriens um zwei Drittel gesunken. Weil internationale Vermögenswerte eingefroren wurden, seien die Währungsreserven aufgebraucht, und der Kurs der syrischen Lira sei gegenüber dem Dollar auf ein Zehntel eingebrochen. Die Inflation habe dramatisch zugenommen, die Preise von Lebensmitteln seien um das Achtfache gestiegen.
Wie schon zuvor ESCWA und WFP stellt auch der UN-Experte fest, dass die »nominell geltenden ›humanitären Ausnahmen‹«, die die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen sollten, nicht griffen und letztlich »irrelevant« seien. Haupthindernis für die Aufrechterhaltung der Versorgung seien die fehlenden Finanzierungsmöglichkeiten. Da die USA alle Transaktionen unterbinden können, die über Stellen in den USA laufen, an denen US-Stellen beteiligt sind oder die in Dollar abgewickelt werden, sei Syrien vom weltweiten Bankensystem weitgehend abgeschnitten. Die bloße Unsicherheit, Transaktionen könnten vielleicht gegen irgendwelche westlichen Zwangsmaßnahmen verstoßen, schrecke internationale Banken und Unternehmen vor Geschäften mit syrischen Firmen und Einrichtungen sowie auch mit den in Syrien tätigen Nichtregierungsorganisationen ab.
Unabhängig von ihrer Funktion und unabhängig davon, ob es sich um eine Privatperson oder einen Unternehmer handele, würden alle Syrer daran gehindert, internationale Finanztransaktionen durchzuführen, auch für Waren, die nicht unter Embargo stehen. Sie seien nun gezwungen, auf alternative Transfersysteme wie das traditionelle »Hawala« auszuweichen, wodurch Millionen von Dollar über teure Vermittler und intransparente Kanäle flössen, die die Transaktionskosten drastisch erhöhten.
Parallel dazu hätten die Lieferverbote für Ausrüstungen, Maschinen und Ersatzteile auch die syrische Industrie weitgehend zerstört. Ausfallende Wasserpumpen beeinträchtigten die Wasserversorgung, überalterte und nicht mehr gewartete Kraftwerke die Stromversorgung. Stromausfälle beschädigten wiederum komplexe Geräte, Fabrikmaschinen und medizinische Produkte. Die Sicherheit von Zivilflugzeugen sei nicht mehr gewährleistet und der öffentliche Nahverkehr in einem erbärmlichen Zustand.
Syrien stellt allen Bürgern eine kostenlose Gesundheitsversorgung zur Verfügung, die vor dem Krieg und den Sanktionen als eine der besten der Region galt. Hat der Krieg das Gesundheitssystem bereits stark überfordert, so blockieren die Sanktionen den Wiederaufbau. Vor allem die Finanzblockaden hindern Krankenhäuser daran, Medikamente, Geräte, Ersatzteile und Software zu kaufen und zu bezahlen. Theoretisch fallen sie unter die humanitären Ausnahmen. In der Praxis sind internationale Lieferanten jedoch nicht bereit, die notwendigen Hürden zu nehmen.
Westliche Regierungen und Medien würden ihm entgegnen, so der UN-Diplomat, dass der Anteil der Sanktionen an den katastrophalen Lebensbedingungen der Bevölkerung nicht genau zu beziffern sei. Dies schmälere jedoch »keineswegs die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Wiederherstellung ihrer fundamentalen Menschenrechte zu ergreifen«. Es sei »paradox«, dass die Sanktionen mit der Sorge um die Menschenrechte in Syrien begründet würden, während durch sie die humanitäre Krise im Land massiv verschärft werde.
Trotz der in den meisten Gebieten des Landes zu beobachtenden Stabilisierung, die den Beginn des Wiederaufbaus dort möglich mache, würden die Zwangsmaßnahmen gegen das Land nicht nur aufrechterhalten, die USA seien seit mehreren Monaten dabei, sie weiter zu eskalieren, indem sie Unternehmen aus Drittstaaten mit Strafen drohten, wenn sie das US-Einfuhrverbot von Erdöl an Syrien unterliefen.
Die Verlängerung der Sanktionen werde damit gerechtfertigt, dass die syrische Regierung nach wie vor die Menschenrechte der Syrer verletze. »Das ist gleichbedeutend mit dem Ansatz, die Flammen der Menschenrechtsverletzungen nicht mit einem Wasserschlauch, sondern mit einem Flammenwerfer zu bekämpfen!«
Jazairy war nach der Pressekonferenz zusammen mit Mitstreitern der IPPNW zu einem Treffen mit Vertretern des Auswärtigen Amtes eingeladen, um einige Aspekte der Dokumentation der Ärzteorganisation über den Krieg in und gegen Syrien (s. Ossietzky 4/2019) zu diskutieren, darunter auch die Auswirkungen der Sanktionen. Die Vertreter des Auswärtigen Amtes hätten dabei ihre Behauptung aufrechterhalten, berichtete Jazairy abends während einer Podiumsdiskussion, dass sich die westlichen Zwangsmaßnahmen ausschließlich gegen die syrische Regierung richteten und es ausreichend humanitäre Ausnahmen gebe. Seine Schilderungen des miserablen Zustands des Gesundheitssystems hätten sie mit dem Vorwurf zu kontern versucht, die syrische Armee bombardiere ja auch häufig Krankenhäuser. Er habe sie daraufhin gefragt, ob es denn »gnadenvoller« sei, wenn Menschen auf dem Operationstisch sterben, weil durch Sanktionen die Stromversorgung ausfällt und notwendige Medikamente fehlen?
Der oft vorgebrachten Rechtfertigung, Sanktionen seien eine gewaltlose Alternative zum Krieg, entgegnete er: »Diese Menschen sterben still. Ist das besser und gnadenvoller, wenn Menschen still sterben als durch eine Bombenexplosion?« Auch die Folgen von Wirtschaftsblockaden seien eine Tragödie.
Syrien ist nur eines von einer wachsenden Zahl an Ländern, die Wirtschaftssanktionen ausgesetzt sind. Insgesamt seien bereits 20 Prozent der Weltbevölkerung in irgendeiner Weise davon betroffen, eine Reihe von ihnen ähnlich schwer wie Syrien. Schon häufig hätten sie auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch auf die sich daraus ergebenden schweren Menschenrechtsverletzungen hingewiesen. Diese hätten jedoch kein Interesse gezeigt, das aufzugreifen.
Er verfolge keine politische Agenda, betonte der UN-Diplomat, ihm gehe es vor allem darum, den Betroffenen eine Stimme zu geben. Er wünsche sich, dass ihm mehr Menschen und Institutionen zuhörten.