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Titel1319

Mit drei Gespannen in die Welt  (Ingrid Zwerenz)

Zuerst erinnerte mich das an Goethe: »Es schlug mein Herz /Geschwind zu Pferde«, es ging jedoch gar nicht um Vierbeiner, sondern um Pferdestärken. Waltraud Seidel beschreibt ihre Reisen in die östliche Hälfte der Welt, in den Jahren ab 1960 zuerst per munterem Trabi absolviert, dann mit komfortableren Gefährten gut ausgestattet, man kommt voran, mitunter gilt auch das Motto: Wohnwagen-Wagnisse. Vor Überraschungen bei den Behausungen auf vier Rädern ist man nie sicher, es sei denn, unter den Teilnehmern befindet sich eine Seidel-Schwester und deren Ehemann – ein veritabler Spezialist für alle Arten von Fortbewegungsgeräten, die er nicht nur zu reparieren vermag, er kann sie auch völlig neu zusammenbauen. Die 180 Seiten Reiseberichte sind selbst für Menschen, die diese Literatursparte nicht eben schätzen – zum Beispiel mich –, so fein präsentiert, dass man sie gern und mit Gewinn liest. Der Titel fragt: »Eingesperrt?« »Reiselust und Reisefrust in der DDR«. Ossietzky-Konsumenten wird das Thema vertraut klingen, in der Nummer 3 vom 10. Februar 2018 findet sich ein Artikel, dessen betreffende Fakten und Thesen Waltraud Seidel geschickt zum Einstieg in ihr sehr gelungenes Buch nutzt. Danach verfügt sie über einen reichen touristischen Fundus, den sie für ihre Stories über Länder und Völker so sensibel, souverän wie humorvoll nutzt. Die studierte Pädagogin lässt sich nirgends ein X für ein U vormachen, schon als Halbwüchsige schwor sie sich, ihr eigenes Geld zu verdienen, selbst dem besten Ehemann nicht etwa auf der Tasche zu liegen. Dazu hatte sie in der heute gern runtergeputzten DDR die besten Möglichkeiten, nicht gerade bei den obersten SED-Chargen, doch sonst waren die Frauen gut dabei. Dabei war bei einer der hochkarätigsten Reisen sogar ein Kind, die neunjährige Tochter von Heinz und Waltraud Seidel, und in der Eremitage wie im Bolschoi Ballett bewährte sich das Mädchen, hatte in der Schule gerade mit dem Russischunterricht begonnen, das Gelernte wandte sie in den beiden Städten an, zum Entzücken der ohnehin sprichwörtlich kinderfreundlichen Einheimischen – das war nun mal eine ungezwungene tatsächliche Völkerfreundschaft – DSF.

 

Wohlgefühlt hat sich die Fahrgemeinschaft auch bei Polen und Ungarn – bei den einen war noch nichts von der gruseligen PiS zu finden und bei den anderen keine Spur des abschreckenden Orbán. In Tschechien war auch alles ganz o. k. 1982 wurde unter anderem Komotau besucht, und damit das alles hier nicht zu ernst wird, füge ich ein paar Zeilen ein, die sich auf dieses Dorf beziehen. Sie werden erzählt von einem meiner liebsten Österreicher, dem 1897 in Wien geborenen und 1975 in der Schweiz verstorbenen Schriftsteller Robert Neumann. In einem seiner autobiografischen Bücher liest man über einen nach dem »Sündenbabel Paris« gereisten Komotauer, der eine hochelegante Dame im Lokal anspricht, deren Mann gerade verreist ist. Sie lädt den eben kennengelernten Herrn ein zu sich in eine Luxusbehausung und gleich ins Schlafzimmer … »Und wie gings weiter?« drängen den später Heimgekehrten seine neugierigen Mitbürger. Antwort: »Der Rest war wie in Komotau.«

 

Auf der nächsten Seite verwirft Neumann die kesse Pointe und korrigiert sich: »Es geschieht ja doch alles immer zum ersten Mal. Wo bleibt dann noch jenes Komotau, das zu berichten nicht der Mühe lohnt?« Es gibt zum Glück auch noch lebende und ebenso erfreuliche Wiener Autoren, wie Robert Neumann einer war, so den im Netz literarisch und politisch ungemein umtriebigen Martin Urbanek, der beim Buch von Waltraud Seidel mit Rat und Tat zur Seite stand.

 

Unsere Autorin fand genug Stoff, über den in Wort und Foto viel mitzuteilen war, sie drückt sich nicht vor Hinweisen auf die im Zweiten Weltkrieg von Deutschen verübten Verbrechen, die ja von den in der Bundesrepublik gehätschelten Vertriebenen gern vergessen oder geleugnet werden. Waltraud Seidel ist in Breslau geboren, ich in Liegnitz, wir wissen, worum es geht und verabscheuen jeden Anflug von Revanchismus.

 

Noch nicht erwähnt habe ich die Fotos im Buch, selbst produziert vom Ehepaar Seidel, ein paar Kirchenbilder weniger hätten es meinetwegen sein können, sonst passen alle Aufnahmen vorzüglich zum Text.

 

Eigentlich bin ich kein missgünstiger Charakter, doch um eines beneide ich die Weitgereisten, wo immer sich die Chance bot, ob Badetümpel oder imponierende Ströme, da waren sie alle schneller im Wasser, als man schauen konnte, und sind danach erfrischt und gesund wieder rausgekommen. Das liest man gern und wünscht weiterhin Freischwimmen vom Feinsten!

 

Waltraud Seidel: »Eingesperrt!? Reiselust und Reisefrust in der DDR«, Karina-Verlag, 180 Seiten, 14,90 €