»Manchmal, o glücklicher Augenblick, bist du in ein Buch so vertieft, dass du in ihm versinkst – du bist gar nicht mehr da.« So beschrieb Kurt Tucholsky die Situation, wie ich sie zuletzt bei Stieg Larssons Büchern empfand. Und jetzt wieder: »Hinterwald« von Lissbeth Lutter hatte ich in den Händen. Es war wie bei den Larsson-Büchern. Damals traf man Menschen in der S-Bahn, die darin vertieft waren. Handys blieben unbeachtet. Die Station, da man aussteigen musste, auch. So wird es bei »Hinterwald« wieder sein, wenn nur genügend Leute davon erfahren.
»Diese Geschichte ist ausgedacht. Sie ist darum nicht weniger wahr.« So steht es vornean. Das Ausgedachte ist ein spannender Roman mit politischem Hintergrund. Antifaschisten entlarven die Vorgeschichte einer Alpengemeinde, in der jene Veteranen leben, die einst, alle vereint in einem Bataillon der Gebirgsjäger der Wehrmacht durch Griechenland ziehend, sich schwerer Kriegsverbrechen schuldig machten. In »Hinterwald« haben sie auch als alte Leute noch das Sagen. Die Gemeinde bringt das Kunststück fertig, als Touristenzentrum beliebt zu sein und die Verbrechen zu verschweigen. Bis die Antifa-Gruppe aus Nordrhein-Westfalen auf den Plan tritt. Die Lage eskaliert. Eine junge Journalistin am Ort wittert ihre Chance zu großen Storys. Die dürfen nicht erscheinen, der Journalistin droht der Tod durch Veteranenhand. Sie verbündet sich mit den Antifas, mit den Demonstranten, verliebt sich in eine der Anführerinnen – was die Lage nicht ungefährlicher macht. Je ein Toter im Kreis der Rechercheure und der Wehrmachtsmörder beschäftigen Staatsschutz und Medien. Mehr wird hier nicht verraten.
Und dann das »nicht weniger Wahre«. Es hat die Aktionen in Mittenwald wirklich gegeben mit alten und jungen Antifaschisten gegen alte und junge Gebirgsjäger. Ab 2002 sieben Jahre lang. Tote gab es viele – das waren jene, die den Nazisoldaten zum Opfer fielen. Jedoch keine Toten in der Jetztzeit. Allerdings: Mundtot gemacht werden sollten die Rechercheure durchaus. Rufmord war an der Tagesordnung. Die Rechercheure kamen aus der autonomen Antifa und aus der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Auch Morde der Veteranen untereinander wären im wirklichen Leben nicht ausgeschlossen gewesen. Man lese nur mal Julius Maders »Banditenschatz«, Berlin/DDR 1966. Da kommen sogar in der Haft jene SS-Leute um, die auszusteigen und auszusagen drohen.
Der Kameradenkreis der Gebirgsjäger unternahm – unterstützt von Justiz und Staatsschutz – sehr viel, um die Rechercheure mundtot zu machen. Man präsentierte gefälschte staatsanwaltschaftliche Briefe, um Verfahren gegen Antifaschisten auszulösen. Zweimal gab es in Nürnberg Gerichtsverfahren, die vor allem Dank Rechtsanwalt Eberhard Reinecke aus Köln gut für die Antifaschisten ausgingen. Doch ein beschlagnahmtes VVN-Archiv blieb als Kopie im Besitz des Staatsschutzes. In dem Archiv sind die Namen und Truppenteile sowie Tatorte gesammelt, Fakten zu den widerlichsten massenhaften Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in Griechenland und Italien. »Solche Maßnahmen gegen uns konnten nicht verhindern, dass wir Fakten präsentierten und öffentlich Anklage erhoben; Medien griffen unsere Veröffentlichungen auf«, berichtete einer der Akteure. Rund 100 Veteranen wurden angezeigt bei der Ludwigsburger Zentralstelle für NS-Massenverbrechen. Die Verjährung von Totschlag bewahrte die Verbrecher vor Haft und ebenso die Regelung, dass nicht der kollektive Mord zur Verurteilung führen konnte, sondern nur die konkret und einzeln nachgewiesene Tat. In einem Fall kam es dennoch zur Verurteilung eines Gebirgsjägers. Allerdings starb er vor Haftantritt. Andere Täter wurden in Italien verurteilt, blieben aber auf freiem Fuß, denn Deutschland lieferte sie nicht aus.
Die Wirklichkeit war so spannend wie es der Roman nun ist. Was darin fehlt, steht in der von der VVN-BdA vorgelegten Dokumentation »Eine Mordstruppe« – die Wahrheit über den völkisch-militaristischen Gebirgsjäger-Kameradenkreis. In einer Hinsicht bleibt der Roman hinter der Wirklichkeit zurück – was seine Spannung und Lesbarkeit keineswegs mindert. Die Bundeswehr taucht im Roman nur als Fanklub für die alten Kameraden auf, nicht aber als eine Kraft, die in der Tradition der Nazigebirgsjäger blieb. Auf den Pfingsttreffen der alten und jungen Gebirgstruppler haben regelmäßig Verbrechensbeteiligte gesprochen – sie waren wieder bei der Truppe, und dieser Dienst schützte sie vor Strafverfolgung. Und auch die Generalität war bei den Treffen wieder vertreten: Entweder in Gestalt des Karl-Wilhelm Thilo, der es zum Kommandeur in Mazedonien brachte und dann stellvertretender Heeresinspekteur der Bundeswehr wurde. Oder die Generäle der Gebirgstruppe Klaus Reinhardt und Generalinspekteur Klaus Naumann. Der eine war Bundeswehrkommandeur im Kosovo, der andere begründete die »neue« Bundeswehr nach 1990. Und beide verteidigten die Nazitruppe und ihre Verbrechen, wo immer sich eine Gelegenheit bot. Solche Gelegenheiten ergaben sich in Hinterwald, pardon, Mittenwald sehr oft.
Lissbeth Lutter: »Hinterwald«, Verlag de Noantri, 473 Seiten, 20 €