Nach Auffassung amtlicher Staatsschützer, führender Innenpolitiker und tonangebender Publizisten, die für sich in Anspruch nehmen, der Staat zu sein, sind Demonstranten, wenn nicht die Bürger überhaupt, potentielle Störer und Täter. Sie müssen deswegen ausgespäht, abgehört, gegebenenfalls geprügelt und obendrein bestraft werden, vor allem wenn sie Kritik üben und sogar links stehen. Während das angeblich staatsschützende Wirken der Geheimdienste, namentlich der sogenannten Verfassungsämter, zumeist im Dunkeln bleibt, tritt das Vorgehen der Polizei manchmal ganz deutlich ans Licht der Öffentlichkeit.
Wir haben das in den vergangenen Monaten bei den Kundgebungen und Demonstrationen gegen den Bahnhofsumbau in Stuttgart erlebt, die gewaltsam aufgelöst wurden. Wir haben es wieder in Dresden erlebt, wo Demonstranten, die sich zu einer friedlichen Sitzblockade zusammengefunden hatten, einen Großaufmarsch von Neonazis verhinderten, und zwar trotz aggressivsten Polizeieinsatzes. Im Nachhinein finden mit zum Teil fadenscheinigen Begründungen Ermittlungsverfahren wegen versuchten Totschlags, Landfriedensbruchs und Körperverletzung statt; nach wenig glaubwürdigen Polizeiangaben wurden dort 106 Beamte verletzt. Schon vorher waren Nazigegner bespitzelt und etwa eine Million Mobilfunkdaten gesammelt worden.
Ähnliches geschah kürzlich in Berlin. Dort fand eine Kundgebung von Neonazis vor den Redaktionsräumen der marxistisch orientierten Tageszeitung junge Welt und dem Denkmal für Rosa Luxemburg statt, geschützt von 500 mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken ausgerüsteten Polizisten. Die Festlegung des Kundgebungsortes durch die Behörden war eine »politische Entscheidung«, wie verlautete. Nicht der Eingang zur Redaktion wurde gesichert, vielmehr wurden die Neonazis vor den Protesten Hunderter von Gegendemonstranten abgeschirmt.
In Stuttgart waren bei einer Demonstration Ende Juni acht Polizisten mit einem Knalltrauma und einer mit Verletzungen an Kopf und Hals ins Krankenhaus eingeliefert worden; man ermittelte unter anderem wegen versuchten Totschlags. Daß aber die Polizei – selbst nach Meinung unverdächtiger bürgerlicher Medien – von Anfang an mit großer Härte gegen Demonstranten vorging, blieb bisher ohne juristische Konsequenzen. Übergriffe der Polizei werden ohnehin nur selten angezeigt, weil das erfahrungsgemäß wenig Erfolg verspricht. Die Statistik weiß: 95 bis 98 Prozent der Verfahren gegen rechtswidrige Anwendung der Staatsgewalt werden eingestellt.
In Göttingen wurde ein Student der versuchten Körperverletzung bezichtigt und sogar angeklagt, weil er als Passant in der Nähe einer Demonstration einen Schritt zurück getan hatte und dabei einem Polizeibeamten in den Weg geraten war. Der Angeklagte habe ihm ein Bein gestellt, sagte der Polizist offenbar auf Veranlassung seiner Vorgesetzten. Er sei dadurch während der Verfolgung eines Demonstranten, der weglief, gestolpert. Jedenfalls wurde der Angeklagte wegen seines Ausfallschrittes von mehreren Polizisten überwältigt, in Handschellen zur Wache transportiert, angezeigt und angeklagt. Daß er – ausnahmsweise – nicht verurteilt wurde, lag an einem vernünftigen, nicht ideologisch verblendeten Richter.
Ein niedersächsischer Landtagsabgeordneter der Linken hatte dieses Glück nicht. Er wurde von einem Amtsrichter in Hannover zu einer Geldstrafe von 5.200 Euro verurteilt, weil er sich bei einer Schülerdemonstration vor dem niedersächsischen Landtag in angeblich unzulässiger Weise eingemischt hatte. Vorgeworfen wurde ihm, einen Polizeibeamten gestoßen zu haben. Doch festgestellt wurde vor Gericht lediglich, daß der Angeklagte die Arme des Beamten in der Absicht zu schlichten heruntergedrückt hatte. Dennoch die Verurteilung.
Daß Demonstranten kriminalisiert werden, hat System. Es läßt sich nicht damit rechtfertigen, daß sogenannte Autonome Straftaten begehen. Seit langem ist bekannt, daß die Polizei Provokateure aus den eigenen Reihen einsetzt, um aggressive Einsätze als begründet und notwendig erscheinen zu lassen. Statt zu deeskalieren, wird geknüppelt. In fast allen Fällen folgt dann das, was kürzlich der Sprecher der Stuttgarter Parkschützer gesagt hat: »Die Polizei fantasiert, dramatisiert und kriminalisiert.«
Wenn die Innenminister von Bund und Ländern die Gefahren von rechts kleinreden, linke Feindbilder verbreiten, den Staat nach innen aufrüsten und die Überwachung perfektionieren, wird die Absicht klar: die Bürger einzuschüchtern – die zunehmend Anlaß haben, sich über Kulturabbau, Demokratieabbau und Sozialabbau zu empören. Bemerkenswert, daß es in Justiz und Polizei nach wie vor ehrenwerte Menschen gibt wie den unvoreingenommenen Richter in Göttingen oder den Polizisten, der wenigstens noch zugab, daß er nur kurz gestrauchelt ist.
Wolfgang Bittner, der am 29. Juli 70 Jahre alt wird, wirkt zuverlässig an vielen Bemühungen mit, Recht und Gerechtigkeit zu verbreiten oder wenigstens den Mangel daran spürbar und bewußt zu machen. Er ist promovierter Jurist, aber zu seinem Beruf hat er die Schriftstellerei gemacht. Neben seinen lakonischen »Rechts-Sprüchen«, 2002 im Ossietzky-Verlag erschienen, hat er zahlreiche Romane, darunter einige für Jugendliche, ferner Kinderbücher, Sachbücher wie »Beruf: Schriftsteller« und Beiträge für Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen geschrieben. Sein jüngster Roman »Schattenriß« ist vor wenigen Wochen im Verlag André Thiele (VAT) erschienen.