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Titel1411

Sozialabbau 2011, Folge 9  (Franziska Walt und Tilo Gräser)

16. Juni: Die Jobcenter haben im vergangen Jahr 136.400 »Hartz IV«-Beziehern die Zahlungen für einige Wochen oder Monate gekürzt oder sogar ganz gestrichen. Rund 30 Prozent dieser Sanktionen wurden nach Mitteilungen des DGB wegen Meldeversäumnissen angeordnet; Arbeitsunwilligkeit sei nicht das Hauptproblem. »Es fehlt an regulären Stellenangeboten, und ›kompensiert‹ wird der Mangel durch Abschreckung«, kritisiert DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach die gängige Praxis der Jobcenter. Die Jobcenter seien nicht in der Lage, Arbeitslosen vernünftige Angebote zu machen – weder bei Arbeitsplätzen noch bei Eingliederungsmaßnahmen. Mit Sanktionen und deren Androhung würden Arbeitslose gefügig gemacht und abgeschreckt, Ansprüche anzumelden. Und es werde als statistischer Erfolg gefeiert, wenn sich Arbeitslose dann zurückziehen.

20. Juni: Das Bundessozialgericht (BSG) hat laut anwalt.de einer »Hartz IV«-Empfängerin die Zahlung eines Mehrbedarfszuschlags wegen »kostenaufwendiger Ernährung« versagt (BSG, B 4 AS 100/10 R). Der Diabetes mellitus Typ I wie auch andere Krankheiten, an denen die Frau leide, bedinge keinen besonderen Ernährungsbedarf.

21. Juni: »Hartz IV«-Bezieher, die wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe ins Gefängnis müssen, bekommen für die Zeit hinter Gittern kein ALG II. Das Bundessozialgericht in Kassel bestätigte damit eine Entscheidung des Jobcenters Bremen gegen einen Arbeitslosen (Az.: B 4 AS 128/10 R). Der Betroffene muß eine dreimonatige Gefängnisstrafe wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe antreten. Laut Bundessozialgericht besteht bei einem Aufenthalt in einer »stationären Einrichtung« kein Anspruch auf »Hartz IV«-Leistungen. Neben Krankenhäusern werden auch Gefängnisse zu solchen Einrichtungen gezählt.

23. Juni: Nach Angaben des Bundesverbands Deutsche Tafel nutzen jetzt 1,3 Millionen Menschen in der Bundesrepublik, davon ein Viertel Kinder, regelmäßig die Angebote der Tafeln. Das zeige, daß Armut ein »unübersehbarer Bestandteil unserer Gesellschaft« geworden sei. 884 Tafeln versorgen inzwischen bundesweit Bedürftige mit gespendeten Lebensmitteln. Diese Zahlen bezeichnet der Sozialmediziner Gerhard Trabert gegenüber dem Evangelischen Pressedienst als Beleg dafür, »daß sich immer mehr Menschen vom Lohn ihrer Arbeit sowie von den sozialen Transferleistungen nicht ausreichend ernähren können«.

29. Juni: Immer mehr Menschen sind auf Grundsicherung im Alter oder bei einer Erwerbsminderung angewiesen, berichtet die taz. Die Zahl dieser Sozialleistungsbezieher sei von Ende 2003 bis Ende 2009 um 74 Prozent von 439.000 auf 764.000 gestiegen, zitiert das Blatt aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion. Mehr als die Hälfte von ihnen erhielt Grundsicherung im Alter (ab 65 Jahren). Im Durchschnitt müßten die Grundsicherungsempfänger, bei denen die gesetzliche Rente nicht zum Leben reiche, monatlich von 658 Euro (»Hartz IV«-Regelsatz plus Wohnkostenübernahme) leben. Als arm gilt derzeit nach EU-Kriterien, wer weniger als 930 Euro im Monat zur Verfügung hat.

30. Juni: Eine Studie des Otto-Blume-Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) beschäftigt sich mit den Kindern und Jugendlichen im Saarland, die in wachsender Zahl in Armut aufwachsen. Die Saarbrücker Zeitung berichtet: Kinder in »belasteten Lebenssituationen« (Arbeitslosigkeit eines Elternteils, Migrationshintergrund, Leben in einer betreuten Wohnform, Aufwachsen bei einem alleinerziehenden Elternteil) bekommen seltener Nachhilfe zum Lernen als andere Kinder und sind weitaus seltener Mitglied in einem Verein. Und häufiger neigen sie nach eigenen Angaben dazu, sich absichtlich selbst zu verletzen, traurig zu sein und an Selbstmord zu denken.

1. Juli: »Auch im reichen Main-Taunus-Kreis sind immer mehr Menschen in finanzieller Not«, warnt Marcus Krüger vom Sozialbüro Main-Taunus in der Frankfurter Rundschau und weist auf die wachsende Nachfrage von Familien und Alleinstehenden nach bezahlbaren Sozialwohnungen hin. »Alles, was über 45 Quadratmeter mißt und mehr als 360 Euro kostet, kommt für SGB2-Bezieher [gleichbedeutend mit »Hartz IV«-Beziehern; d. Verf.] nicht in Frage«, zitiert die Zeitung den Sozialberater. Das Problem sei, daß in den letzten Jahren immer weniger Sozialwohnungen gebaut wurden. Hinzu komme, daß auch die Zahl der Rentner steige, die auf »Hartz IV«-Leistungen angewiesen seien. Sie landen nicht selten im Pflegeheim, »obwohl sie sich noch selbst versorgen könnten«.

– Die gesetzliche Rente wird um 0,99 Prozent angehoben. »Nullrunden, Minianpassungen, ausufernde Belastungen in der Kranken- und Pflegeversicherung sowie steigende Inflation haben seit 2004 zu einem Rentenkaufkraftverlust von mehr als zehn Prozent geführt«, beklagt der Sozialverband Deutschland (SoVD). »0,99 Prozent mehr Rente reichen nicht aus, um eine Preissteigerungsrate von derzeit rund 2,3 Prozent auszugleichen«, konstatiert der Sozialverband Volkssolidarität.