Mehr als 2,5 Millionen Kriegsdienstverweigerer arbeiteten in den vergangenen fünf Jahrzehnten als Zivildienstleistende in mehr als 37.000 Institutionen. Aus humanitären Gründen zogen sie es vor, Behinderten, Kranken, Kindern oder alten Menschen zu helfen, anstatt mit der Waffe in der Hand das Töten zu lernen. Trotz der schikanösen »Gewissensprüfung«, die erst 1984 für die meisten Verweigerer abgeschafft wurde, entschieden sich diese jungen Männer für den Ersatzdienst. Mit der Verabschiedung des Wehrrechtsänderungsgesetztes am 24. März 2011 durch den Deutschen Bundestag ist die Wehrpflicht ausgesetzt. Damit geht auch der Zivildienst zu Ende. Keine Pflichtdienste mehr – das ist ein Grund zur Freude. Aber: Bundesfamilienministerin Kristina Schröder – und nicht nur sie – erwartet eine soziale Katastrophe, vor allem in der Altenpflege. Neue Arbeitsverhältnisse sollen nun an die Stelle des Zivildienstes treten: »Gleichzeitig mit der Aussetzung der Pflichtdienste im Wehrpflichtgesetz wird der gleichfalls im Wehrpflichtgesetz angelegte freiwillige Wehrdienst fortentwickelt. Auf diese Weise sollen Freiheit und Verantwortung neu austariert werden«, steht im Gesetz.
»Wer pflegt uns, wenn wir alt sind?« ist schon länger eine der großen Zukunftsfragen geworden. Versicherungspflichtige Stellen für ausgebildete Pflegekräfte werden abgebaut oder durch »Mini-Jobs« mit Niedriglöhnen ersetzt; wer bleibt, ist überlastet. Gratisarbeiterinnen, vornehmer Ehrenamtliche genannt, sind schwer zu finden. Die zu ihrer Mobilisierung initiierten Kampagnen hatten bis jetzt nicht den gewünschten Erfolg. Staat und Wohlfahrtsverbände suchen nach Lösungen, um Kosten zu sparen, vor allem Personalkosten. Arbeitsdienste im Sinne von sozialen Pflichtjahren werden immer wieder diskutiert, wären aber ohne Verfassungsänderung schwer durchzusetzen, denn das Grundgesetz Artikel 12 gebietet: »Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht (...) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.«
Neben den freiwilligen Wehrdienst tritt nun der Bundesfreiwilligendienst (BFD). Jugendfreiwilligendienste (dazu zählen das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr sowie entwicklungspolitische Freiwilligendienste wie »weltwärts« für junge Männer und Frauen) gibt es schon lange. Die Freiwilligendienste unterscheiden sich vom klassischen »Ehrenamt«, indem die »Freiwilligen« sich für einen bestimmten Zeitrum verpflichten, ein bestimmtes Stundenkontingent pro Woche abzuleisten. Seit langem wird in der Bundesrepublik darüber diskutiert, wie die übrigen »Freiwilligendienste« in verbindlichere und verläßlichere Strukturen gebracht und auf personell unterversorgte Arbeitsbereiche konzentriert werden können, ohne daß sie dann dem Vorwurf eines Pflichtdienstes ausgesetzt wären. Im Sozial- und Gesundheitswesen und besonders in der Altenhilfe und -pflege bestand auch vor der Verkürzung und schließlich Aussetzung des Zivildienstes eklatanter Personalmangel. Weil Markt und Staat diese Arbeiten nicht regulär bezahlen wollen, erhöht sich der Bedarf an unbezahlter, sogenannter ehrenamtlicher Arbeit. Nach wie vor arbeiten in diesen Bereichen größtenteils Frauen. Altenpflege ist fast in Gänze Frauensache. Nicht selten ging das »Ehrenamt« auf Kosten der eigenständigen Existenzsicherung: aktuell und im Alter. Daran wird auch die neuerdings mögliche Bezahlung mit einem Niedrigstlohn nicht viel ändern.
Mit dem Slogan »Nichts ist erfüllender, als gebraucht zu werden« wirbt jetzt das Familienministerium auf Großplakaten und in Zeitungsanzeigen (Kosten: 3,5 Millionen Euro) für den BFD, der durch das Bundesfreiwilligendienstgesetz geregelt wird. Das Bundesamt für Zivildienst, das in »Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben« umbenannt wird, soll auch überprüfen, daß durch den BFD keine regulären Arbeitsplätze vernichtet werden. Die »freiwillige« Verpflichtung, für die Männer und Frauen aller Altersklassen angeworben werden, dauert mindestens sechs und höchstens 18 Monate, umfaßt 40 Stunden in der Woche für unter 27jährige und mindestens 20 Wochenstunden für Ältere; sie bringt rund 330 Euro monatliches Taschengeld ein und wird in soziale und ökologische Bereiche, Sport, Integration und Kultur vermittelt. Schwerpunkte sind die Kinder- und Jugendbetreuung und die Altenbetreuung und -pflege. Die großen Wohlfahrtsverbände sind beteiligt. 35.000 Menschen hofft man dafür zu gewinnen.
ExpertInnen sind skeptisch, ob ausreichend viele Menschen bereit sind, einen Teil ihrer persönlichen Freizeit in die neuen Dienste einzugeben. Das Ministerium behauptet, das Interesse sei enorm, aber bis Mitte Juni hatten sich nur 1.000 »Freiwillige« für diesen Dienst gemeldet, mit 1.500 Bufdis wollte man am 1. Juli starten. »Das ist nichts«, sagen VertreterInnen von Wohlfahrtsverbänden.
»Zeit das Richtige zu tun« ist ein Slogan auf den teuren Werbeplakaten. Was aber ist »das Richtige«? ExpertInnen fordern schon lange, nach dem Abbau des Zivildienstes mehr qualifizierte sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Sozialbereich und vor allem in der Altenpflege zu schaffen. Mit der Förderung des BFD fährt der Zug in die entgegengesetzte Richtung – und die eben ausgehandelten, ohnehin schon niedrigen Mindestlöhne von 8,50 Euro für die Pflegebranche können dadurch leicht umgangen werden.