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Titel1412

Fieses von Broilern und Baronen  (Volker Bräutigam)

Der Durchschnittsdeutsche verzehrt im Laufe seines Lebens 500 Hühner. Sei es als Brathähnchen, Suppenhuhn oder weiterverarbeitete Produkte von beiden. Ich bemühe mich nach Kräften, kein solcher Durchschnitt zu werden. Auch, weil ich Antibiotika, Hormone und andere Pharmazeutika nur auf ärztliches Anraten einnehmen möchte und nicht zwangsläufig, zum Beispiel beim Verspeisen eines Brathähnchens.

34,01 Millionen Legehennen wurden im vorigen Jahr in Deutschland produziert, das sind 11,2 Prozent mehr als anno 2010, meldete das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Was geschieht mit diesen Unmengen von Tieren?

Ließe man einem Huhn sein Leben, könnte es 20 Jahre alt werden. Als Produktionsmittel »Legehenne« erreicht es nicht einmal 20 Monate: drei in der Aufzucht, 14 als Eierproduzentin. Spätestens dann setzt im natürlichen Verlauf erstmals die Mauser ein, das Tier wechselt sein Federkleid, legt mehrere Wochen kein Ei. Es verhielte sich fortan, bei jährlich einer Mauser, gegen das Maximalprofitinteresse der Hühnerbarone. Darum lassen sie die Legehenne gleich vor der ersten Mauser schlachten. Trotz der Kosten dafür sowie für Entsorgung und Ersatz mittels Jungtier »rechnet es sich«.

Längst nicht alle Legehennen können als Suppenhühner vermarktet werden, und zum Braten taugt ihr zwar würziges, aber zu zähes Fleisch ohnehin nicht. Der erwähnte Durchschnittsdeutsche will zudem immer weniger Suppenhühner abnehmen, schon deshalb, weil er den Broiler vorzieht, das zarte Brathähnchen. Auch wird ihm ja noch anderes Geflügelfleisch angeboten, darunter das beliebte Putenfleisch. Nur einen geringen Teil der überschüssigen Millionen Legehennen verwertet die Nahrungsmittelindustrie weiter, macht zum Beispiel Brühwürfel daraus oder Geflügel-Mortadella. Der große Rest getöteter Legehennen wird geringerenteils zu Tiernahrung beziehungsweise Tiermehl, der Überschuß landet als Beimischung zur Gülle in der Biogasanlage. Genaue Daten darüber fand ich nicht, es ist ein dunkles und schändliches Kapitel.

»Salami bewahrt Suppenhuhn vor dem Biogas« überschrieb die Neue Zürcher Zeitung kürzlich einen Bericht über den schweizerischen Geflügelmarkt. Die Hühnerbranche im Nachbarland habe endlich einen Weg gefunden, die Tötungs- und Entsorgungskosten für ausgediente Legehennen zu reduzieren. Der Löwenanteil sei bisher in Biogasanlagen gelandet. Ein »unschöner Nebenschauplatz der hochindustrialisierten Eierproduktion« heißt es in der NZZ. Pro Tier würden für die Entsorgung außerdem bis zu 85 Rappen fällig, gut 70 Eurocent. Nun strebe man zur »schwarzen Null«, indem man viele getötete Legehennen für Charcuterie-Produkte verwerte. Dabei seien süddeutsche Betriebe behilflich, die auch einen Teil des eigenen Legehennenberges verwursteten, die Kapazitäten seien aber begrenzt.

Stimmt. Doch selbst wenn nicht: Den Geflügelproduzenten wird es nie gelingen, ihre irren Überschüsse vollständig dem Handel, der Nahrungsmittelindustrie und den heimischen Verbrauchern anzudrehen. Den Schweizern nicht, und den Deutschen erst recht nicht. Dagegen sprechen neben Eßgewohnheiten und Geschmacksvorlieben der Kundschaft die hohen Importmengen, die der »freie Markt« neben der heimischen Erzeugung aufzunehmen hat. Man bemerkt: Kapitalistengerede klingt auf Hochdeutsch auch nicht schöner als auf Schwyzerdütsch.

Wenden wir uns dem Brathähnchen zu. Es ist, biologisch betrachtet, noch ein Küken. Auf schnelles Wachstum gezüchtet, muß es bei 45 Gramm Schlupfgewicht am Ende seiner fünf qualvollen Lebenswochen zwischen 1,6 und 2,2 Kilogramm auf die Waage bringen. Mindestens das 35fache seines Ausgangsgewichts. Nach höchstens 35 Lebenstagen wird es geschlachtet.

Die Turbomast funktioniert nur unter extrem widernatürlichen Bedingungen: meist in Bodenhaltung, ohne Bewegungsfreiheit. Zwei Drittel eines DIN-A4-Blatts pro Tier sind der übliche »Lebensraum«, 23 Tiere haben in den riesigen Zuchthallen zusammen je einen Quadratmeter Fläche zur Verfügung. Zum Mastbetrieb gehören Dauerbeleuchtung, Luftfeuchtigkeits- und Wärmeregulierung sowie proteinreiches Futter, dem zur Erhöhung des Eiweißgehalts Produkte aus der Tierkörper-Verwertung beigemischt sind, von anderen unappetitlichen Zugaben ganz zu schweigen. Die sechs bis acht Antibiotika zum Schutz vor Seuchen in den übervollen Zuchthöllen sind jedoch unbedingt erwähnenswert.

Im November 2011 stellte der nordrhein-westfälische Umweltminister Johannes Remmel die bundesweit erste Studie zum Medikamenteneinsatz in der Hähnchenmast vor, erarbeitet vom Landesamt für Umwelt, Natur und Verbraucherschutz. Untersucht wurden 182 Betriebe mit insgesamt 962 Produktionsdurchgängen. Diese breite Datenbasis garantiert aussagefähige Ergebnisse über die gesamte Branche. Hier die wichtigsten: 96,4 Prozent der Tiere erhielten Antibiotika. Hähnchenmast ohne Antibiotika gab es nur bei 3,6 Prozent aller untersuchten Tiere. Unter den lediglich 18 »sauberen« Betriebenen hatten fünf ein Biozertifikat.

Während eines Zuchtdurchgangs, also innerhalb von 30 bis 35 Tagen, wurde der Studie zufolge eine Vielzahl von Wirkstoffen eingesetzt, darunter, wie schon erwähnt, bis zu acht verschiedene Antibiotika. Durchschnittlich wurden pro Durchgang drei verschiedene chemische Zutaten verabreicht. Bedenklicher Trick: Einige starke, verordnungspflichtige Antibiotika wurden in 53 Prozent der Verwendungsfälle lediglich ein bis zwei Tage als »akut nötig« gegeben; so unterliefen die Fleischfabrikanten die für eine geordnete Verfütterung erforderliche amtstierärztliche Erlaubnisprozedur. In Einzelfällen wurde laut Studie eine Dauerfütterung mit Antibiotika über 26 Tage festgestellt. Im Branchendurchschnitt werden dem Futter an 7,3 Tagen Antibiotika zugesetzt.

Wie in Nordrhein-Westfalen, so in Gesamtdeutschland, das darf man annehmen: 96 Prozent allen Mastgeflügels, das auf den Markt kommt, war demnach zuvor Zwangskunde der Pharmaindustrie.

Die Landwirtschaft hat nach Angaben der Wiesbadener Statistiker die Schlachtmenge von Jungmasthühnern in den ersten vier Monaten dieses Jahres auf 284.000 Tonnen gesteigert, fünf Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2011. Die Jahresproduktion in diesem Segment erreicht derzeit also gut 850.000 Tonnen. Dagegen wurden von Anfang Januar bis Ende April fast sieben Prozent weniger Suppenhühner produziert, »nur« noch 12.800 Tonnen. Aufs Jahr hochgerechnet kommen demnach nur 39.000 Tonnen Suppenhuhn auf den heimischen Markt oder werden mit Fördermitteln der Länder, des Bundes und der EU in den Export gepreßt. Der riesige Überschuß von nicht einmal mehr als Suppenhuhn verkäuflichen Legehennen wird in keiner offiziellen Statistik genannt. Er errechnet sich so: Jahresproduktion wie eingangs erwähnt 34,01 Millionen Tiere zu durchschnittlich je zwei Kilogramm ergeben gut 68 Millionen Kilogramm, also 68.000 Tonnen Totgewicht; zieht man davon die erwähnten 39.000 Tonnen Suppenhuhn ab und, großzügig geschätzt, weitere 12.000 Tonnen, die anderweitig verarbeitet werden, so bleiben immer noch 17.000 Tonnen – Abfall.

Die Geflügelbranche produziert insgesamt 107,5 Prozent des Inlandsbedarfs an allen Arten von Geflügelfleisch (in der Mengenordnung Huhn, Pute, Ente, Gans, Wachtel, Taube). Infolge noch zusätzlicher beachtlicher Importe entsteht ein gewaltiger Überschuß. Er wird, soweit möglich, zu Dumpingpreisen auf afrikanischen Märkten verhökert und trägt dort dazu bei, die lokalen Agrar-, Wirtschafts- und Sozialstrukturen zu zerstören. Der selbst auf diesem Wege nicht mehr absetzbare Rest – viele tausend Tonnen, Genaues ist nicht zu ermitteln – wird vernichtet wie oben schon beschrieben.

Weitere Zahlen fürs Ausmalen: An die Massentierhalter (damit sind nicht nur die Geflügelzüchter gemeint) und an die größten Schlachtbetriebe in Deutschland flossen im vorigen Jahr 1,1 Milliarden Euro öffentliche Fördermittel. Warum wohl: Weil diese Unternehmen »systemisch unverzichtbar« sind und andernfalls pleite gingen, ganz wie gewisse Banken – und/oder weil ihre Lobby die Politiker in der Tasche hat?

Im Einzelnen: Fast eine Milliarde Euro aus Brüssel dienten zur Förderung der Futterflächen für die Masttierhaltung in Deutschland. »Entkoppelte Direktzahlungen«, die pauschal bereitgestellt werden, ohne daß der Empfänger konkrete Produktionsaktivitäten nachweisen muß. Förderzweck: Verbilligung der Fleischproduktion mittels verbilligtem Futter. Ohne die Pauschalzahlungen wäre das Fleisch teurer.

Mit pro Jahr mehr als 80 Millionen Euro aus EU-, Bundes- und Landesmitteln werden Stallneubauten gefördert, trotz bereits vorhandener Überkapazitäten: die übliche kapitalistische Perversion. Und draufgesetzt: Allein 18 Millionen Euro aus deutschen öffentlichen Agrarhaushalten fließen als Zuschüsse an sechs ohnehin hochprofitable Schlachthauskonzerne.

Betrachten wir den eigenen Teller. Der Durchschnittsdeutsche hat im vorigen Jahr 18,9 Kilo Geflügelfleisch verzehrt, 200 Gramm mehr als im Jahr davor. Risiken und Nebenwirkungen dieses Konsums – Umwelt- und Gesundheitsschäden, soziale Verwerfungen im In- und Ausland – lassen sich zwar beschreiben. In Statistiken und Zahlenwerke sind sie aber schwerlich zu fassen. Und falls das doch gelänge: Würde der Durchschnittsmichel darüber objektiv und wahrheitsgemäß informiert?