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Titel1414

Bemerkungen

Verwüstungsbilanz
Die auf Gewaltanwendung in vielgestaltigen Formen setzende Geostrategie »des Westens« (hinter dem verhüllenden Begriff sind ökonomisch-politische Machtinteressen und -zentren zu identifizieren) trat auf und präsentiert sich immer noch mit dem Anspruch, den so behandelten Ländern »freedom and democracy« und auch wirtschaftliche Chancen zu bringen. Systematisch verschwiegen wird die tatsächliche Bilanz dieser Politik, vom Mittleren und Nahen Osten bis zum Maghreb derzeit in aller Brutalität sich darstellend: Verfall aller Staatlichkeit, Mord und Totschlag als »Normalität«, Zerstörung der Existenzgrundlagen, Flüchtlingselend für Millionen von Menschen. Eine Analyse dieser Verhältnisse ist zu lesen auf www.heise/telepolis: »Gescheiterte Staaten – Leben im Zusammenbruch«, von Tomasz Konicz.

P. S.


Putins Flüsterer
Die Überschrift ist entliehen – einem Beitrag der F.A.Z.-Redakteurin Luisa Maria Schulz. Originell war sie auch da nicht; einige Wochen davor schon ging Béla Anda, stellvertretender Chef von Bild, der Frage nach: »Wer flüstert Putin was ein?« Anda verweist auf die Quelle, aus der bei diesen »Enthüllungen« über Ideengeber des russischen Staatspräsidenten geschöpft wird – Beiträge der US-amerikanischen Publizistin Maria Snegovaya in The Economist und in der Washington Post. Die Flüsterer, so erfährt man, sind keineswegs Zeitgenossen, sondern längst verblichene russische Philosophen: Wladimir Solowjow (1853–1900), Iwan Iljin (1883–1954) und vor allem Nicolai Berdjajew (1874–1948). Putin schätzt sie, empfiehlt sie zur Lektüre und zitiert aus ihren Schriften.

Nun ist der Mann in Moskau, wie aus der deutschen Presse zu erfahren war, eine Reinkarnation Stalins oder Hitlers oder wenigstens Mussolinis. Waren also die genannten Einflüsterer bolschewistische oder faschistische Ideologen? Weder noch. Alle drei hingen dem orthodox-christlichen Glauben an und seiner Verkündigung. Iljin und Berdjajew wurden 1922 von der sowjetischen Regierung aus dem Land gewiesen; Iljin mußte 1934 Hitlerdeutschland verlassen und emigrierte weiter in die Schweiz; Berdjajew siedelte sich in Paris an, seine Werke standen auf dem Index des NS-Regimes.

Was ist dann an solcherart Lektüre Putins so gefährlich? Religionskrieger waren die drei Philosophen auch nicht; sie hatten keinen »Gottesstaat« im Sinn. Aber irgend etwas muß doch an ihrer Einflüsterei bösartig sein? Das Anstößige ist, wenn jemand sich die Mühe einer Lektüre der diesbezüglichen Werke macht, zu entdecken, vor allem bei Berdjajew: Er hatte eine tiefe Antipathie gegen das kapitalistische Gesellschaftsbild und war der Meinung, wie auch die beiden anderen Philosophen, Rußland habe das Recht, einer eigenen sozialen Grundidee nachzugehen. Insofern waren diese Flüsterer »antiwestlich«. Noch dazu meinte Berdjajew, als scharfer Kritiker des sowjetischen Staates, nicht alles am Kommunismus sei falsch. Das geht nun wirklich zu weit. Auch philosophisch muß Liberalität ja nicht übertrieben werden. (Übrigens: Berdjajew war einer der Flüsterer für Hans Scholl, bei dessen Weg in den Widerstand.)
A. K.


Täter – ätä
Der Generalbundesanwalt hat sich entschlossen, Ermittlungen aufzunehmen, weil der US-Geheimdienst NSA mindestens eines der Handys der Bundeskanzlerin abgehört hat. Vertreter der USA beanstanden die Ermittlungsaufnahme. Sie meinen, ein solcher Tatbestand sei auf diplomatischem Wege zu behandeln. Ist man in Washington wirklich so naiv? Ein Diplomat muß zwar imstande sein, Streitgegenstände wie diesen zu vertuschen oder schönzureden, für einen Staatsanwalt genügt das nicht. Er muß fähig sein, keinen Täter zu finden.
Günter Krone


Familienbande
Das Bundesamt für Verfassungsschutz pflegt den Datenaustausch mit Geheimdiensten der USA weitaus intensiver als bisher angenommen, auch mit der NSA, die wegen ihrer Großschnüffelei in deutschen Daten hierzulande ein bißchen in schlechten Ruf geraten ist. Die Süddeutsche Zeitung deckte dies anhand geheimer Regierungsberichte auf.

Die obersten Verfassungsschützer wiesen aber Kritik zurück. Angesichts der »terroristischen Bedrohungslage« sei eine solche Kooperation selbstverständlich notwendig. Politiker der Opposition im Bundestag fordern nun Aufklärung.

Aber was wäre da zu entdecken? Überraschend ist an dem Sachverhalt nichts. Der Verfassungsschutz wurde in der Altbundesrepublik unter Regie US-amerikanischer Dienststellen ins Leben gerufen, und er ist seinem Taufpaten in Washington treu geblieben. Wie eng diese Beziehung ist, läßt sich – wenn man näher hinsieht – an jenem Fall ablesen, den die Behörde gern als Nachweis ihrer erfolgreichen Tätigkeit präsentiert, der Affäre »Sauerlandgruppe«. Da haben Verfassungsschutz und CIA ein gemeinsames Schaustück vorgeführt: »Wie die Bundesrepublik noch einmal vor dem Terror gerettet wurde«. Und Rettungen stehen weiter an, ganz andere – vor allem davor, daß die deutsche Politik denn doch einmal einen Schritt vom rechten NATO-Wege abweichen könnte.
M. W.


Und die BFST?
Das wäre doch mal eine gute Nachricht: Nach Jahrzehnten endlich Glasnost beim BND. Jetzt soll nämlich BND an der Tür stehen, wo BND drin ist. Zumindest wird das für den Bespitzelungsableger »Fernmeldeweitverkehrsstelle der Bundeswehr« (FmWVStBw), das »Ionensphäreninstitut« und vier weitere BND-Außenstellen zutreffen, denn die neuen Schilder »Bundesnachrichtendienst« wurden bereits angebracht.

Aber was ist mit der BFST? Gehört sie dazu? Das würde ich zu gerne wissen.

Vor 26 Jahren, 1988, war ich in Bonn Korrespondent der DDR-Nachrichtenagentur ADN und zerbrach mir irgendwann den Kopf, was sich wohl hinter der kryptischen Bezeichnung »Bundesstelle für Fernmeldestatistik« (BFST) verbergen könnte. Offenbar versehentlich hatte mir die Bundespost nach einer »technischen Überprüfung« der Nachrichtenverbindungen zwischen Bonner ADN-Büro und der ADN-Zentrale in Berlin einen Schaltplan mit dem Stempel »VS – Nur für den Dienstgebrauch« zugeschickt und mich so zum Geheimnisträger ernannt. Aus dem Geheimpapier ging hervor, daß unsere Kommunikation neben anderen merkwürdigen Adressaten wie einer »Außenstelle des Bundespresseamtes« in Hannover und dem »Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen« auch direkt nach München an die BFST weitergeleitet wurde. Seinerzeit wollte oder konnte mir niemand erklären, welcher Mitleser dort im Bayerischen residierte, obwohl der Nachfolger der Organisation Gehlen in München-Pullach schon damals ein heißer Kandidat war.

Vor einigen Jahren teilte mir das Bundespresseamt auf Anfrage offiziell mit, daß es sich bei der »Bundesstelle für Fernmeldestatistik« in München um den Bundesnachrichtendienst (BND) handele und daß dem Presseamt natürlich bekannt gewesen sei, daß an unseren Nachrichtenverbindungen der bundesdeutsche Auslandsgeheimdienst gehangen habe. Im Internet-Lexikon Wikipedia findet man heute den Eintrag, die BFST (auch »Stellwerk« genannt) sei eine »Tarnbezeichnung für die Abteilung 2« des BND und arbeite an der »Informationsgewinnung mit informations- und fernmeldetechnischen Mitteln«. So fein und unschuldig kann man die Überwachung von Journalisten und anderen auch beschreiben.

Wer von den vielen hundert bei der Bundesregierung akkreditierten Korrespondenten damals (wie der Autor) direkt von München »betreut« wurde oder immer noch wird, ist mir nicht bekannt. Aber da jetzt die neue Offenheit beim BND einziehen soll und Tarnnamen geheimer Dienste, vielleicht auch der BFST, offiziell durch »Bundesnachrichtendienst« ersetzt werden, könnten es heute die Journalisten-Kollegen etwas einfacher haben. Falls sie von der Telekom oder einem anderen Vertragspartner künftig in ihrer Post eine fehlgeleitete Nachricht mit dem Vermerk »VS – Nur für den Dienstgebrauch« mit Schaltplan über ihre Lauschpartner finden, dann wird da nicht mehr irgendein obskures »Bundesamt für Fernmeldestatistik« stehen, sondern ganz offen und durchsichtig: BND. Wenn das kein Fortschritt ist ...
Horst Schäfer


Im Land der Griechen
Links, wo das Herz ist – das war und ist so bei Landolf Scherzer. Auch an Kontaktfreudigkeit hat er nichts verloren. Er geht auf die Menschen zu, gewinnt ihr Vertrauen, erfährt die Geheimnisse ihres Lebens, wie sie denken und fühlen, ihren Standpunkt auch, die politische Ausrichtung. Dabei beherrschte Scherzer die Landessprache nicht, als er nach Griechenland reist, sehr bald aber macht er zwei Frauen ausfindig, Germanistinnen beide, mit denen er sich verständigen kann – sie befreunden sich mit ihm, teilen sich ihm mit, seine Offenheit spürend und wie vorurteilslos er ist, reichen ihn weiter mit dem Gefühl: Er wird fair über uns schreiben, scheint begriffen zu haben, wie die Krise über uns kommen mußte, wie wir uns zu behaupten versuchen, gegen die Zwänge behaupten müssen, in die wir geraten sind, diese uns alle erdrückenden Sparauflagen. Ihm sollte ein Dolmetscher an die Seite gegeben werden, daß er vertiefen möge, was er längst ahnt oder schon weiß.

»Stürzt die Götter vom Olymp« zeigt, wie sich Scherzer die Türen öffnen, er in jedem Haus angenommen wird, nicht bloß als Beobachter, nicht bloß als Gast, sondern wie er sehr bald dazu gehört. Man vertraut ihm, empfiehlt ihn weiter, auch dorthin, wo zweiunddreißig verzweifelt-mutige Arbeiter ihren Betrieb vor dem Ruin zu bewahren versuchen: Ohne Lohn, nur für die Fahrtkosten hin und zurück arbeiten sie – »bis wir aus dem Schneider sind und wieder Gewinn machen. Das ist zu schaffen, und wir werden es schaffen!« Bewundernswert bleibt, wie sich Scherzer auch ohne Vorankündigung und Dolmetscherhilfe die Menschen erschließt, die Besitzerin eines Brillenladens zum einen – die Frau trägt ein Kettchen mit dem Judenstern, und schon erfährt Scherzer viel über sie und über das Schicksal jüdischer Griechen unter den Nazis, und weit weit mehr noch wird er erfahren, als die Frau ihm das jüdische Museum empfiehlt, wo er der dortigen Sekretärin die Frage zu stellen wagt, ob sie Jüdin sei. »Ja«, flüstert die Frau, »mein Vater war in Auschwitz.« Es tut sich Scherzer die Kindheit eines Mädchens auf, das nicht mit Märchen, sondern den Schreckensbildern aus dem Konzentrationslager aufwuchs – »Bilder, die nicht vom Griechischen ins Deutsche zu übersetzen sind«. Oh ja, er weiß sich den Menschen zu nähern, hat das bei all seinen Reisen und schließlich auch in Thessaloniki bewiesen, wo er durch viele Einzelschicksale ein Gesamtbild gewinnt, das er mit Hilfe des Wirtschaftsjournalisten Stephan Kaufmann abrundet, der ihm den internationalen Konkurrenzkampf darlegt, der zur griechischen Krise führen mußte – »nicht etwa die vermeintliche Faulheit der Griechen war schuld!« – eine Krise, die jeden, der in Scherzers »Stürzt die Götter vom Olymp« vorkommt, aufs Schwerste belastet.
Walter Kaufmann

Landolf Scherzer: »Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland«, Aufbau Verlag, 320 S., 19,99 €



Streitbar und streitfertig
»Durchbrüche ins Soziale« ist der Titel der Festschrift, die Kolleginnen und Kollegen dem Sozialarbeits- und Politikwissenschaftler Rudolph Bauer zu seinem 75. Geburtstag überreicht haben. Der Jubilar war von 1972 bis 2002 Professor an der Universität Bremen und dort tätig in der Lehre des Studiengangs Sozialpädagogik, an dem von ihm (zusammen mit Jürgen Blandow) geleiteten Institut für Lokale Sozialpolitik und Nonprofitorganisationen sowie in der Wohlfahrtsverbändeforschung. Die Beiträge der Festschrift befassen sich unter anderem mit Fragen der Profession in der Sozialen Arbeit und ihrer Theorie, der Sozial- und Dienstleistungspolitik, der Wohlfahrtsgeschichte, den Nonprofits beim »Management of Misery« und – der »Sache mit den Knödeln« (eine heiter-tiefsinnigen Hommage von Manfred Baierl, dem Grafiker der Zeitschrift Sozial Extra, in deren Beirat Rudolph Bauer lange mitgewirkt hat). Sabine Hering hat den Jubilar zu einem biografischen Interview »verführt«, das ebenso wie die Bibliografie seiner Veröffentlichungen und eines seiner Gedichte (»Mein Gedicht ist ein Messer«) abgedruckt ist. Festschriften, so erklären die Herausgeber Peter Herrmann und Peter Szynka, können »eigentlich nur entstehen …, wenn es um streitbare, streitfertige Personen geht – Personen, die Durchbrüche wagen und nicht bereit sind, im Alltagsfluß unterzugehen«. Als einer solchen Person ist die Schrift dem Ge(l)ehrten gewidmet, der weiterhin aktiv ist, so bei der »Hartz IV«-Kritik, der Entlarvung der demokratieschädlichen Rolle der Bertelsmann-Stiftung und im Engagement gegen die neue deutsche Militarisierung.
R. G.
Peter Herrmann/Peter Szynka (Hg.): »Durchbrüche ins Soziale. Eine Festschrift für Rudolph Bauer«, Wiener Verlag für Sozialforschung, 320 S., 34,90 €


Wehrkraftzersetzend
Auf einen Verlag sei hier hingewiesen, der ein eigenes, sehr widerständiges Profil hat und sich nicht scheut, vier seiner Neuerscheinungen unter den Sammeltitel »Antikriegsromane« zu stellen: Der Donat Verlag in Bremen.

»Das Menschenschlachthaus« nannte Wilhelm Lamszus seine 1912 herausgebrachten Visionen vom kommenden Krieg. Sie schilderten warnend jene Tötungsmaschinerie, die dann 1914 in Betrieb genommen wurde. In der Neuausgabe sind sie ergänzt durch eine Fortsetzung, die unter dem Titel »Das Irrenhaus« 1919 erschien, mit einem Vorwort von Carl von Ossietzky. (160 S., 14,80 €) Vom Wahnsinn des ersten modernen Krieges handelt ebenso »Golgatha« von Peter Schmitz, ein 1935 deutschsprachig in Belgien erschienener Roman, in Deutschland bisher unbekannt (300 S., 16,80 €). Von einer Desertation aus dem kaiserlichen Heer erzählt Wilhelm Lehmann, meist nur als Lyriker bekannt, in »Der Überläufer« (144 S., 12,80 €). Und schließlich: Bastian Müller mit seinem Roman aus dem Zweiten Weltkrieg, »Hinter Gottes Rücken«, zuerst 1947 erschienen, damals von immer noch oder schon wieder »wehrfreudigen« Rezensenten als »ekelhaft« beschimpft. (228 S., 14,80 €) Alle vier Bücher sind mit sachkundigen Erläuterungen versehen.
A. K.


Die May ist gekommen
Was blieb ihr auch anderes übrig, der nach eigenem Bekunden singenden Schauspielerin, als sich ihre Bewunderer anläßlich ihres 90. Geburtstages zur Hommage »Es wechseln die Zeiten« ins Berliner Filmtheater »Babylon« drängten. Das Haus konnte nur eine kleine Zahl ihrer Verehrer fassen – ist die May doch bisher in unzähligen Städten und unterschiedlichsten Landschaften und auf fünf Kontinenten aufgetreten.

Diejenigen, denen es gelungen war, eine Karte zu erwerben oder zu erschleichen, kamen voll auf ihre Kosten. Sie erlebten eine bewegende und beeindruckende Veranstaltung. Die musikalischen Verbeugungen von Gina Pietsch, Stefanie Wüst und Diether Dehm, begleitet von Uwe Streibel, Michael Letz und Andreas Altenhof, standen dem ausgedehnten Abend ebenso gut zu Gehör wie die engagierten Beiträge der ebenfalls von Uwe Streibel brillant begleiteten Schauspielstudenten der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf«.

Jürgen Schebera, der wohl auch für die wunderbar ausgewählten Filmeinblendungen Pate stand, war nicht nur ein sachkundiger Moderator, sondern auch ein souveräner Gesprächspartner der Diva, die es sich nicht nehmen ließ, sich dort in die Konversation einzumischen, wo ihr das notwendig erschien. Und wer die blitzgescheite Dame kennt, weiß, das da mit humorvollen Gedankensplittern ebenso zu rechnen ist wie mit jähen Wendungen oder mit treffsicheren Spitzen. Mit letzteren hielt sie nicht hinter dem Berg, als der Vertreter der Kurt-Weill-Gesellschaft zu einer salbungsvollen Rede ansetzte, bei der Begründung der vom Vorstand beschlossenen Ehrenmitgliedschaft ein wenig die Proportionen verschob und in Fehde mit seinen Manuskriptseiten geriet. »Wir sind ja heute unter uns«, kommentierte die Adressatin der Urkunde. »Jeder tut eben das, was er kann!«

Gisela May hatte, wie sie dem Auditorium offenlegte, schon immer eine positive Beziehung zur Zahl 9, weil die sich rund und gut schreiben läßt. Ihr Verhältnis zur Verbindung der Ziffer 9 mit der Ziffer 0 war anfangs etwas gestört, aber die Aussicht auf die 99 mache alles wieder erträglich.
W. H.


Knebels Stadtlandschaften
Wer Großstadtbilder erwartet mit Verkehrs-Chaos, Menschenmassen, bunten, schillernden Reklamen, der wird enttäuscht. In grauen, zurückhaltenden, gedämpften Farbtönen wird malerische Kostbarkeit erlebbar. Häuser und Fassaden, die oft das ganze Format füllen, wollen genau betrachtet werden, regen zum Verweilen an. Häuser können leben, können anklagen. Der Begriff »Häuserporträts« ist für diese Veduten wohl am treffendsten. Auf Bäume, auf Natur verzichtet Konrad Knebel weitgehend. Seine Bilder brauchen das nicht, das lenkt ab. Durch Haustüren führt er uns in Hinterhöfe und zeigt verlassene oder verfallende Häuser. Sie haben – wie die Menschen – eine Geschichte, eine Zeit. Himmel ist wenig zu sehen, meist trübe und wolkenverhangen.

»Fabrik in Malchow«, gemalt 2013: Ein winziger Streifen Straße, wenig Himmel, das Gebäude füllt das Format; das Dach ist teils abgedeckt, die Fenster sind meist zerschlagen und blind wie leere Augenhöhlen. Der Blick geht durch das Gebäude, da wird es heller. Plötzlich meine ich Maschinenlärm zu hören, Menschen rufen sich etwas zu, Geschäftigkeit auf dem schmalen Straßenstreifen. Dann ist alles wieder still. Häuser sterben wie Menschen. Erschütternd das »Haus«, gemalt 1999: Die Gründerzeitfassade sprengt das Bildformat. Fensterhöhlen, dicht an dicht; die verwitterten Schmuckelemente zerfallen. Ist es schon menschenleer? Kein Licht, Stille. Das Gemälde ist ein Requiem. Und überall sieht der Künstler Ähnliches: in Halle, in Magdeburg, Dresden und vor allem in Berlin. Mietshäuser im Prenzlauer Berg, auch ihre Hinterhöfe, werden luxussaniert. Mieter werden verdrängt. Auch Knebel verlor dadurch sein Atelier. Seine Gemälde sind Geschichte, erzählen Geschichten. Oft sind es Straßenschluchten, steil nach oben führende Gassen wie in Annaberg und Marienberg, liebevoll gemalt. Wenige erleuchtete Fenster lassen Leben ahnen.

Der in Leipzig geborene Konrad Knebel, Jahrgang 1932, zog noch als Kind mit den Eltern nach Marienberg. Bombenangriffe auf Leipzig zwangen die Knebels dazu. In Berlin-Weißensee studierte er bei Arno Mohr, Bert Heller und Kurt Robbel Malerei. Reisen prägten ihn, viele Ausstellungen machten ihn bekannt.

Seine hervorragende Laudatio auf diese Ausstellung schloß der Kunstwissenschaftler Peter H. Feist mit den Worten: »Der zurückhaltende, freundliche Konrad Knebel ist mehr noch als früher zu einem Warner und Mahner geworden. Hören wir auf ihn, indem wir hinschauen.«
Maria Michel

Bis zum 22. August montags bis freitags von 10 bis 15 Uhr in der GBM-Galerie, Weitlingstraße 89, Berlin.