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Titel1416

Sprache des Jobcenters  (Andrea Czichy)

»Was glauben Sie, wo Sie hier sind? Sie sind hier in der Grundsicherung«, sagte mir ein Vermittler des Jobcenters, als ich ihm einen Plan vorstellte, zu dem eine Fortbildung aus dem kursnet der Arbeitsagentur gehört hätte. Ich bin in der Grundsicherung. Ich muss nicht mehr vor dem Fallen in den Abgrund bewahrt werden. Ich bin am Grund angekommen. Eh ich mich versah, war ich dort und kam nicht wieder raus.

 

2001 habe ich ein Studium der Evangelischen Theologie mit einem guten Diplom abgeschlossen. Zu der Zeit stellte die Kirche kaum jemanden an, ich sah mich ohnehin eher als Geisteswissenschaftlerin. In meiner Diplomarbeit hatte ich mich mit Hannah Arendt befasst. Ihr klares, eigenständiges, freies Denken hat mich seither nicht mehr losgelassen. Hier wird kein System gelehrt, vielmehr eine Anleitung zum eigenen Denken und Urteilen.

 

Was aber sollte ich mit diesem Examen tun? Aus meinem kleinbürgerlichen Elternhaus bekam ich weder ideelle noch finanzielle Unterstützung. Nach einem Praktikum in der Politik fand ich eine Stelle als stellvertretende Leiterin der Konzertkasse eines öffentlich-rechtlichen Senders. So weit, so gut. Nur war die Stelle befristet und wurde nach einem Wechsel der Leitung nicht verlängert, obwohl ich für meine Arbeit sehr gute Rückmeldung erhielt.

 

Plötzlich war ich arbeitslos. Ersparnisse aus der Arbeit gingen in die Bafög-Rückzahlung. Die Arbeitsagentur führte mich nicht als Akademikerin, sondern als Verkaufshilfe. Ich suchte vielfach Rat und erhielt keinen. Meine alten Freund*innen verabschiedeten sich, sie waren im Beruf, gründeten Familien. Und mein WG-Zimmer wurde gekündigt. Dies führte zum Umzug in eine andere Stadt, in der ich nicht lange bleiben wollte und nun seit zwölf Jahren bin, weil Stadtwechsel im Arbeitslosengeld II (Alg II) nicht vorgesehen ist. Bald saß ich vor Alg-II-Sachbearbeitern, die nicht wussten, was Theologie ist, musste meine Kontoauszüge vorzeigen und seltsame Anträge ausfüllen. Nach eineinhalb Jahren Arbeitslosigkeit wurde mir zu meinen beruflichen Chancen als Akademikerin gesagt: »Sie, mit Ihrem Lebenslauf, das können Sie vergessen.«

 

So beschränkte sich mein Akademikerin-Sein auf ausgiebiges Lesen und ehrenamtliches Engagement. Alle Versuche führten lange zu nichts. Über die Beteiligung an einem Theaterprojekt kam ich dann in Kontakt mit einer Kirchengemeinde, die ihren Friedhof wieder übernommen hatte. Mir wurde Arbeit in Verwaltung und Trauerbegleitung angeboten, in die ich engagiert mit der Überzeugung einstieg, es nach beinahe fünf Jahren doch noch geschafft zu haben. Nach einem 1-Euro-Job wurde eine mäßig bezahlte 20-Stunden-Stelle mehrfach befristet und nach bald drei Jahren befristet auf fünf Wochenstunden gekürzt, womit ich wieder arbeitslos war.

 

Durchaus hoffnungsfroh versuchte ich auf diese Berufserfahrung aufzubauen. Der Bereich lag mir, ich mochte die Arbeit mit Trauernden. Daher machte ich auf eigene Kosten eine Ausbildung zur Trauerrednerin und hoffte, über das Arbeitsamt weitere Fortbildung zu bekommen. Ich bekam gar nichts, außer Ärger wegen meiner Anträge und eine zynische Beraterin im Alg I, die mich immer, wenn ich pünktlich an ihre Glastür klopfte, wieder rausschickte und mir dann zeigte, dass sie nichts zu tun hatte, als mich warten zu lassen und mir danach mitzuteilen, dass es für mich nichts gäbe.

 

In einer Maßnahme im Alg II mit monatlichen Terminen anstatt vierteljährlichen, die mich zuerst gefreut hatte, geriet ich an einen Vermittler, dessen Lieblingssatz war: »Machen Sie, machen Sie!« Rasch war ich mit meiner Kraft am Ende. Egal, was ich machte, es schien nie genug. Das ungewöhnliche Angebot, für fünf Euro pro Stück meine Anschreiben als Beleg herauszugeben, ignorierte ich. Schließlich bekam ich Stellenangebote als Parkplatzaufseher im Heidepark und für einen Bratwurststand. Ich bin nicht käuflich, aber verletzbar.

 

Wenn über »Hartz IV«/Alg II geredet wird, dann zumeist nur über Geld. Das Schlimmste ist für eine Einzelperson nicht das wenige Geld, obwohl es alles erschwert. So konnte ich jüngst an einem Essen meines Sportvereins nicht teilnehmen, weil mich das 20 Euro gekostet hätte. Es bietet sich aber auch die Chance, Vieles nicht zu brauchen, was sich anderen als Notwendigkeit aufzwängt.

 

Wirklich schlimm sind Demütigung und Druck. Die finanzielle Grundsicherung, die gerade zum Überleben reicht, ist für Menschen am Grund keinesfalls gesichert. Das Thema Sanktion ist immer im Hintergrund anwesend. Etwaige Mehrfachsanktion kann rasch bedeuten, gar nichts zu bekommen. Eine Vermieterin, die mich als »staatlich alimentiert« bezeichnet, wird bei Mietrückstand kündigen. Ob meine »Bemühungen« bei der Arbeitssuche ausreichen, liegt in der für die »Kundin« willkürlichen Entscheidung des Sachbearbeiters.

 

Was daraus entsteht, ist unweigerlich Angst, die wächst, wenn ein Termin im Jobcenter bevorsteht. Der »Einladung« dazu ist die »Rechtsfolgenbelehrung« für den Fall, dass ich ihr »nicht Folge leiste«, beigelegt. Sprache des Jobcenters. Der Inhalt der »Eingliederungsvereinbarung«, die möglichst jede »Kundin« unterschreiben soll, wird nicht »vereinbart«, sondern vom Sachbearbeiter vorgegeben. Als ich nicht unterschrieben hatte, wurde die »Vereinbarung« durch einen »Verwaltungsakt« in Kraft gesetzt. Grundsicherung gibt es nur, wenn Grundrechte dehnbar werden. Angst gehört zum System, ebenso Abwertung.

 

Langzeitarbeitslosigkeit ist ein Zustand, der einem den Stempel »Mängelexemplar« aufdrückt. Kein noch so kurzer Medienbericht über Langzeitarbeitslosigkeit, der mangelnde Qualifizierung und Vermittlungshemmnisse nicht nennt. Das hat Folgen. So bin ich etwa vor drei Jahren zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden, wo eigentlich alles passte, nur die Entdeckung, ich sei arbeitslos, nahm mir jede Chance.

 

Arbeitslosigkeit ist ein Mangel, der aus Mängeln entsteht, diese Haltung hat sich durchgesetzt. Ein vermeintliches »Mängelexemplar« lässt sich auf dem Arbeitsmarkt nicht verkaufen, es muss verramscht werden.

 

Wenn ein Sachbearbeiter möglichst viele Bewerbungen fordert und mir sagt, ich möge mich »breiter aufstellen«, meint »breiter« weiter nach unten. Ich bin verpflichtet, jede zumutbare Arbeit anzunehmen. Was für mich zumutbar ist, entscheide letztlich nicht ich.

 

Ich muss mich auf Stellen bewerben, die ich vermutlich nicht bekomme, auch wenn ich dafür qualifiziert wäre, oder auf Stellen, die ich nicht wirklich bekommen möchte. Der Versuch, dies als meine Arbeit anzusehen, macht es nicht sinnvoller. Andauernd Absagen zu bekommen ist schwer auszuhalten.

 

Als ich ein unbezahltes Praktikum machen wollte, hieß es schlicht: Geht nicht, dann stehen Sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Eine selbstfinanzierte Fortbildung in der Familientrauerbegleitung solle mich ja nicht vom Versuch, eine Arbeit aufzunehmen, abhalten. Und weitere Qualifizierung, konkret pädagogische, sei gar nicht notwendig, die Zeitarbeitsfirma wird auch Helferstellen anbieten. Projekte, in denen es derartige Rückmeldungen gibt, heißen »Vermittlung in Arbeit« oder gleich »Joboffensive«.

 

Diese Art Offensive, Menschen nur in irgendeine Arbeit zu drängen, ist entwürdigend und zynisch. Zu wünschen wäre eine Grundsicherung, die tatsächlich eine Sicherung wäre und Menschen die Möglichkeit böte, sich sinnvoll zu beschäftigen, Anerkennung zu erwerben, unabhängig vom Erwerbsstatus.

 

Ich habe in den letzten Jahren viel Zeit mit Angst, Verzweiflung und Resignation verschwendet. Auch muss ich mich immer wieder gegen Schamgefühle wehren. Bin ich nicht doch selbst schuld, tatsächlich ein »Mängelexemplar«?

 

Um mir gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe leisten zu können, gehe ich inzwischen ein paar Stunden die Woche putzen, meinen gesellschaftlichen Wert erhöht das nicht, aber solange Bücher oder mal eine Ballettkarte möglich sind, ist mir das egal.

 

Es gilt, gegen alle Scham mir meine Würde zu erhalten, mich nicht zu verstecken, mir trotz all des Drucks Freiheit zu bewahren. Und es gilt, mir Orte und Menschen zu suchen, wo der »Ramsch« für ein »Liebhaberstück« gehalten wird. Dies ist in unserer normierten Leistungsgesellschaft schwer zu finden. Ohne so etwas aber wird die Frage »Wie lange halte ich das noch aus?« übermächtig.