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Erdoğans Krieg gegen die Kurden  (Ulla Jelpke)

Es erscheint wie ein Rückfall in die blutigen 1990er Jahre. Fast täglich bombardieren türkische Kampfflugzeuge Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans PKK im Nordirak und der Türkei. Wieder einmal sind auch Zivilisten unter den Opfern. Ein ganzes Dorf in den Kandil-Bergen wurde dem Erdboden gleichgemacht, neun Bewohner starben. Die PKK reagiert mit Angriffen auf Kasernen und Militärkonvois in der Türkei, bei denen bereits Dutzende Soldaten umkamen. Gleichzeitig rollt eine Massenfestnahmewelle über das Land. Innerhalb einer Woche wurden weit über 1000 Oppositionelle inhaftiert – mehrheitlich Anhänger der im Parlament vertretenen Demokratischen Partei der Völker (HDP), der kurdischen Jugendorganisation und sozialistischer Verbände. Gegen die Vorsitzenden der HDP laufen Verfahren zur Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität, selbst ein Parteiverbot ist nicht mehr ausgeschlossen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte den von ihm begonnenen Friedensprozess mit den Kurden offiziell für beendet. Mit »Separatisten« und »Terroristen« könnte es keinen Frieden geben, fiel Erdoğan in den Sprachduktus der 90er Jahre zurück.


Die Friedensgespräche mit Abdullah Öcalan waren Ende 2012 aufgenommen worden. Dies war eine Reaktion der Regierung auf eine Guerillaoffensive im Sommer des Jahres, bei der die PKK die Kontrolle über weite Teile des Berglandes im türkisch-irakisch-iranischen Grenzgebiet erlangt hatte, und einem von tausenden politischen Gefangenen unterstützten Hungerstreik mit der Forderung, Öcalan als Verhandlungspartner zu akzeptieren. Da eine militärische Lösung der kurdischen Frage sich abermals als Illusion entpuppt hatte, sah sich die Regierung gezwungen, auf Verhandlungen zu setzten. Dass dabei auf Seiten der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) jemals ernsthafte Absichten einer wirklichen demokratischen Lösung bestanden, darf getrost bezweifelt werden. Vielmehr erschien es von Anfang an um ein Spiel auf Zeit zu gehen, in dem die kurdische Seite durch substanzlose Versprechungen hingehalten wurde. Der grundlegende Widerspruch in dem Prozess bestand zudem in der unterschiedlichen Zielstellung der Akteure. Ging es der Regierung primär um die Entwaffnung der Guerilla und eine Einbindung des konservativen Teils der Kurden in den türkischen Staat im Namen des gemeinsamen muslimischen Glaubens, so setzte die PKK auf eine Lösung der ein Jahrhundert bestehenden kurdischen Frage durch Anerkennung aller nicht-türkisch-sunnitischen Identitäten und generelle Demokratisierung des Landes. Zwar stellte auch die türkische Armee ihre Operationen nach Verkündung eines Waffenstillstandes durch die PKK im März 2013 weitgehend ein, doch gleichzeitig wurde der Bau neuer Militärstützpunkte besonders auf zuvor von der Guerilla geräumten Positionen ebenso vorangetrieben, wie der Bau strategischer Staudämme, die auf die Entvölkerung der Region und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Guerilla zielten. Die Guerilla stoppte aufgrund dieser offensichtlichen Kriegsvorbereitungen und fehlender gesetzlicher Garantien bereits im Herbst 2013 ihren eigentlich geplanten Totalrückzug aus der Türkei. Die AKP-Regierung zeigte sich während des gesamten Verhandlungsprozesses unwillig, auch nur eine einzige der zentralen Forderungen der kurdischen Seite wie die Senkung der Zehn-Prozent-Hürde für Parlamentswahlen, die Einführung muttersprachlichen Schulunterrichts oder kommunale Selbstverwaltungsrechte durchzusetzen. Zwar gingen die seit 2009 durchgeführten Massenverhaftungen kurdischer Politiker zurück, doch Tausende Aktivisten blieben in den Knästen. Vor allem aber weigerte sich die AKP, den Friedensprozess transparent zu machen. Anstatt den Friedensprozess gesetzlich abzusichern und alle Parteien zu beteiligen, führte Geheimdienstchef Hakan Fidan Geheimverhandlungen mit PKK-Chef Abdullah Öcalan. Als Vermittler zur PKK-Führung im Irak und im europäischen Exil fungierten Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, die den ansonsten weiter unter Isolationshaft stehenden Öcalan regelmäßig auf der Gefängnisinsel Imrali besuchen durften. Trotz solcher Widrigkeiten schien ein Durchbruch erreicht zu sein, als Regierungsmitglieder und HDP-Abgeordnete am 28. Februar 2015 im Istanbuler Dolmabahçe-Palast gemeinsam ein Schreiben Öcalans mit einem Zehn-Punkte-Plan über den weiteren Verlauf und zentrale Inhalte des Lösungsprozesses vorstellten. Doch umgehend fiel Staatspräsident Erdoğan seiner Regierung in den Rücken, als er erklärte, er lehne das Dolmabahçe-Abkommen ab. In seinem Grußwort zum Newroz-Fest (kurdisches Neujahrsfest) am 21. März 2015 stellte Öcalan zwar noch einmal ein dauerhaftes Ende des bewaffneten Kampfes in Aussicht, wenn das Dolmabahçe-Abkommen umgesetzt würde. Doch praktisch war der Friedensprozess zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Im nun beginnenden Parlamentswahlkampf sah Erdoğan die Unmöglichkeit ein, gleichzeitig türkisch-nationalistische und konservative kurdische Wähler an die AKP zu binden. Um erste zu gewinnen, brüskierte er letztere mit der überraschenden Feststellung, es gäbe überhaupt keine kurdische Frage in der Türkei. Als der HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtaş dann klipp und klar erklärte, dass seine Partei die von Erdoğan erhoffte Verfassungsänderung zur Umwandlung der Republik in eine Präsidialdiktatur niemals mittragen werde, ließ die AKP jegliche Hemmungen gegenüber der HDP fallen. Im Wahlkampf beschuldigten Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu die HDP, eine gottlose Partei zu sein, die sich gemeinsam mit »terroristischen Organisationen«, dem »jüdischen Kapital«, Armeniern und Homosexuellen gegen die Türkei verschworen habe. Die Folge waren über 100 Anschläge auf HDP-Wahlbüros und Übergriffe nationalistischer Mobs auf ihre Wahlkämpfer, von denen mehrere schwer verletzt wurden. Bereits im Wahlkampf begann die Armee wieder ihre Operationen. Das Ziel war es offensichtlich, die PKK zu gewaltsamen Gegenreaktionen zu veranlassen, die dann die HDP Stimmen unter liberalen Wählern in der Westtürkei kosten würden. Doch Erdoğans Strategie ging nicht auf. Statt eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit zu erringen, stürzte die AKP, die Federn an die faschistischen Grauen Wölfe lassen musste, am Wahltag um neun Prozentpunkte auf 41 Prozent ab. Dagegen gelang es der HDP als erster prokurdischer Partei in der Geschichte des Landes, mit 13 Prozent die undemokratische Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden. Ermöglicht wurde dieser Wahlerfolg vor allem durch religiös-konservative Kurden, die ihre Hoffnungen in die bislang von ihnen unterstütze AKP verloren hatten, und zu einem geringeren Teil durch linke und liberale Wähler in der Westtürkei, die der HDP ihre Stimme gaben, um Erdoğans Diktaturpläne zu stoppen.


Erstmals benötigte die AKP damit zum Weiterregieren einen Koalitionspartner. Eine damit verbundene Machtteilung würde aber bedeuten, dass die AKP ihre schamlose Bereicherung nicht mehr ungestört fortsetzen könnte – vielmehr drohten dann neue Bestechungs- und Vetternwirtschaftsaffären ans Licht zu kommen. Sollte die AKP gar einmal ganz die Macht verlieren, drohten vielen ihrer Politiker Anklagen und hohe Strafen wegen Korruption. Derzeit werden Koalitionsverhandlungen zwischen der AKP und der kemalistisch-sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei CHP geführt. Türkische Unternehmerverbände, USA und EU sowie eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Gruppierungen befürworten eine solche große Koalition, um die Spannungen im Land abzubauen. Doch erscheint aufgrund erheblicher Differenzen zwischen den beiden Parteien – und ihren Wählern – eine AKP-CHP-Regierung unwahrscheinlich. Falls sie dennoch zustande kommt, wird ihr keine lange Lebensdauer beschieden. Sollte bis zum 23. August keine Regierung gebildet sein, dann muss der Präsident eine Wahlwiederholung nach drei Monaten anordnen. Dies – oder eine durch die Faschisten der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) unterstützte AKP-Minderheitsregierung – scheint nun Erdoğans Ziel zu sein. Um auf diese Weise wieder die erhoffte Mehrheit zum alleinigen Weiterregieren zu erlangen und vielleicht doch noch die erhofften Vollmachten einer Super-Präsidentschaft zu erhalten, war Erdoğan bereit, den inneren und äußeren Frieden zu opfern. Sein Kalkül scheint darin zu bestehen, durch Härte gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung an die faschistische MHP verlorene nationalistische Wähler zurückzugewinnen und gleichzeitig die HDP als vermeintliche Partei von Terroristensympathisanten unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drängen. In einer chauvinistisch aufgeladenen Atmosphäre, einem Wiederaufflammen von Gewalt und Terror sowie einer regelrecht herbeigebombten äußeren Bedrohung hofft sich Erdoğan als starker Mann und seine AKP als Garantin für Stabilität zu inszenieren.


Zu dieser innenpolitischen – auf den Machterhalt der AKP zielenden – Komponente kommt noch eine außenpolitische Dimension. Im Juni war es den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG im Bündnis mit arabischen Brigaden der Freien Syrischen Armee gelungen, den sogenannten Islamischen Staat (IS) aus der syrischen Grenzstadt Tel Abiyad zu vertreiben. Damit kontrollieren die YPG und ihre Verbündeten einen hunderte Kilometer langen Landstreifen von der irakischen Grenze bis zum Euphrat. Der Versuch, mittels des von der Türkei mit Waffen, Munition und logistischer Hilfe unterstützen IS die Etablierung des kurdischen Selbstverwaltungsgebietes in Rojava zu verhindern, war gescheitert. Stattdessen konnten die YPG sogar auf Luftunterstützung der US-geführten Allianz gegen den IS zählen. Ein weiteres Vordringen der YPG und ihrer arabischen Verbündeten westlich des Euphrat, wo der IS mit Jarablus seinen nach dem Fall von Tel Abiyad wichtigsten Grenzübergang in die Türkei unterhält, erscheint denkbar. Es erschien nicht einmal ausgeschlossen, dass die YPG einen Korridor von Kobani bis zum dritten Selbstverwaltungskanton Afrin östlich von Aleppo freikämpfen könnten. Nun schlug Ankara Alarm. Die YPG seien gefährlicher als der IS, und die Türkei würde niemals die Bildung eines neuen Staates entlang ihrer Grenze dulden, ließ die türkische Regierung verlauten. Mit dem neuen Staat war nicht etwa das IS-Kalifat gemeint, mit dem die Türkei einen regen Grenzhandel mit geschmuggeltem Öl entwickelt hatte, wie von den USA erbeutete Unterlagen eines IS-Funktionärs nachwiesen. Vielmehr bezogen sich die Drohungen aus Ankara auf die Bildung eines möglichen kurdischen Staates – ungeachtet dass dies erklärtermaßen gar nicht die Absicht der YPG und der in den syrischen Kurdengebieten politisch führenden Partei der Demokratischen Union PYD ist. Da der IS seine Schuldigkeit vorerst getan hatte, setzte Ankara auf eine neue Taktik, um die weitere Ausdehnung des Selbstverwaltungsgebietes in Rojava zu verhindern. Nach einem Terroranschlag eines IS-Selbstmordattentäters in Suruç, dem über 30 junge Sozialisten einer Kobani-Solidaritätsbrigade zum Opfer fielen, verkündete Ankara endlich dem IS den Krieg. Im Hintergrund hatte eine Einigung mit den USA stattgefunden, wonach die Anti-IS-Allianz nun den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik bei Ankara für Angriffe auf IS-Stellungen in Syrien nutzen darf. Ankara und Washington einigten sich auf die Errichtung einer Flugverbots- und Pufferzone westlich von Jarablus als Aufmarschgebiet sogenannter »gemäßigter Rebellen« – gemeint sind nicht zum IS gehörende dschihadistische Verbände um die El-Kaida-Gruppierung Al Nusra. Da der IS keine Luftwaffe besitzt, richtet sich die Drohung des Flugverbots allein gegen die syrische Luftwaffe, die in diesem Bereich nicht mehr gegen die dschihadistischen Verbände vorgehen kann. Schon dies ist eine brandgefährliche Politik, die schnell zum NATO-Bündnisfall führen könnte – und die Bundeswehr steht mit ihren Patriot-Raketen in der Türkei bereits mit einem Bein in diesem Krieg.


Im Gegenzug für das scheinbare Einschwenken der Türkei in die Anti-IS-Allianz gaben die USA der Türkei allerdings grünes Licht für einen neuen Krieg gegen die PKK. Obwohl es innerhalb der NATO-Staaten durchaus auch Kritik an den Luftangriffen auf die PKK gab, stellte sich die Militärallianz nach außen hinter ihr Mitglied Türkei. Der Kampf gegen die PKK sei eine legitime Verteidigung gegen terroristische Angriffe, hieß es. Tatsächlich führt die Türkei auch ihren lautstark verkündeten Kampf gegen den IS bislang weitgehend virtuell. Dutzenden Luftangriffen auf PKK-Camps stehen gerade einmal drei Angriffe auf IS-Ziele gegenüber, und unter den in den letzten Tagen verhafteten »Terrorverdächtigen« sind nur wenige mutmaßliche IS-Anhänger. Dagegen beschossen mehrfach türkische Panzer – scheinbar aus Versehen – YPG-Stellungen in Syrien. Zeitgleich mit einem IS-Angriff überflogen türkische Kampfflugzeuge die syrischen Städte Sarrin und Kobani. Da der Krieg gegen die PKK zugleich deren Kampf gegen den IS schwächt, sprechen kurdische Verbände bereits von der »neuen Luftwaffe des IS«.


Das mindeste, was die Bundesregierung in dieser Situation machen müsste, wäre ein sofortiger Abzug der Patriot-Raketen aus der Türkei. Wenn die Bundesregierung es ernst meinte mit ihren Ermutigungen an die türkische Regierung, den Friedensprozess mit den Kurden wieder aufzunehmen, dann sollte sie mit gutem Beispiel vorangehen und das PKK-Verbot aufheben. Jetzt ist massiver Druck auf Erdoğan notwendig – ehe dieser den ganzen Nahen Osten in Brand setzt.