»Wer ist das?« fragte ich meinen Banknachbarn, als ein auffallend eleganter junger Mann mit einer leichten Afrofrisur ans Rednerpult trat. Er hielt eine überzeugende Rede gegen den Rassismus in den USA, forderte die Freilassung von Angela Davis aus ihrer monatelangen Isolationshaft und verurteilte den Vietnamkrieg. Dann stimmte er in den Ruf Hunderter ein, die auf der Kundgebung im Frühjahr 1971 nahe San Francisco Freiheit für die Bürgerrechtskämpferin verlangten. »Das ist unser neuer Kongressabgeordneter in Washington«, lautete die Antwort – und es hörte sich ein wenig stolz an.
Ron Dellums, so erfuhr ich, war wenige Monate zuvor, im November 1970, als Abgeordneter der Demokratischen Partei ins Repräsentantenhaus in Washington gewählt worden. Mit 35 Jahren war er der Jüngste der wenigen afroamerikanischen Vertreter im US-Kongress und der erste aus dem vorwiegend weißen Nordkalifornien. Sein konsequentes Eintreten für Angela Davis auf vielen Kundgebungen – ich berichtete 1971/72 für die DDR-Medien über den Prozess gegen die Kommunistin – machte ihn mir sympathisch.
Diese Sympathie wuchs, als man mir erzählte, dass er sich während des Wahlkampfes mit Präsident Richard Nixon (für den Angela eine »gefährliche Terroristin« war) und seinem Stellvertreter Spiro Agnew vor allem wegen deren Kriegspolitik gegen Vietnam angelegt hatte. Der Vizepräsident nannte den Kandidaten daraufhin einen der »unverbesserlichen Radikalen«, von denen »die Politik unbedingt gesäubert werden muss«.
Ron Dellums‘ Antwort auf Agnew und Nixon ließ nicht lange auf sich warten – und sie gehört in die Geschichtsbücher. Vor Journalisten erklärte er laut San Francisco Chronicle: »Wenn es radikal ist, den Wahnsinn und die Grausamkeit des Vietnamkrieges zu bekämpfen, wenn es radikal ist, gegen Rassismus und Sexismus sowie alle anderen Formen der Unterdrückung zu sein, wenn es radikal ist, Armut, Hunger, Obdachlosigkeit und andere Formen des menschlichen Elends zu beseitigen – dann bin ich stolz, ein Radikaler genannt zu werden.« (diese und folgende Übers.: H. Sch.)
Jahre später nahm er den Faden erneut auf und sagte der Washington Post: »Und wenn es radikal ist abzulehnen, dass 70 Prozent des Bundeshaushalts für Zerstörung und Krieg ausgegeben werden, dann bin ich ein Radikaler.«
Diesem Anspruch versuchte Ron Dellums, Sohn eines Hafenarbeiters, als Abgeordneter in Washington treu zu bleiben – trotz unzähliger parlamentarischer Niederlagen. Er kämpfte für seine Prinzipien, auch, wenn es gerade »unpopulär« war. Und alle zwei Jahre wurde er in insgesamt 13 Wahlen mit wachsender Mehrheit wiedergewählt.
Die New York Times nannte den selbst erklärten Sozialisten einen »lebenslangen Champion für soziale Gerechtigkeit« und einen Demokraten »mit einer linken Agenda, die Bürgerrechte und Programme für Menschen statt Waffensysteme und Krieg bevorzugt«. Für viele US-Bürger weit über seinen Wahlkreis hinaus sei Dellums der Vertreter einer fortschrittlichen Politik unter dem Motto gewesen: »Keinen Krieg, Kürzung der Militärausgaben, Lösung der sozialen Probleme der Nation«.
Dellums stimmte im Kongress nicht einer einzigen US-Aggression zu. Mit zahlreichen Initiativen setzte er sich bereits in den siebziger Jahren gegen erheblichen Widerstand für den Boykott Südafrikas wegen dessen Apartheid-Politik ein.
Mit dutzenden Anträgen insbesondere im Streitkräfteausschuss, dem Dellums zum Ärger der Lobbyisten des militärisch-industriellen Komplexes angehörte, versuchte er, den Vietnamkrieg zu beenden, und forderte Untersuchungen zu den Kriegsverbrechen seiner Regierung. Diese Verhaltensweise sowie seine Teilnahme am Stockholmer Friedenskongress und sein Treffen mit Kubas Staatschef Fidel Castro führten dazu, dass er offen als Kommunist verleumdet wurde.
Der Vorsitzende des Ausschusses, Felix Edward Hébert, hatte die Abgeordneten seiner Partei, der Demokraten, davor gewarnt, Dellums in den Streitkräfteausschuss zu wählen. Er nannte ihn »den schwarzen Bombenwerfer von Berkeley«. Er sei ein »Radikaler« und stelle ein »Sicherheitsrisiko« dar.
Dieses »Sicherheitsrisiko« wurde 20 Jahre später, 1993, sogar zum Vorsitzenden des für den US-Verteidigungsetat und militärische Operationen zuständigen Parlamentsausschusses gewählt – der erste Afroamerikaner und der erste Antikriegsaktivist auf diesem Posten. Der Kalte Krieg war zu Ende, und für kurze Zeit war die Hoffnung auf die vielfach angekündigte »Friedensdividende« groß.
Doch Dellums merkte bald, dass er seinen Parteikollegen Clinton nicht zu einem Friedenspräsidenten machen konnte. Als es ihm nicht gelang, entscheidende Kürzungen im Militärhaushalt zugunsten sozialer Programme zu erreichen, legte er nach zwei Jahren den Ausschussvorsitz nieder. Er wollte nicht Feigenblatt der Rüstungsindustrie sein. Doch Dellums trug dazu bei, eine linke Agenda am Leben zu erhalten, die durch die Kandidatur von Bernie Sanders bei den Vorwahlen 2015/16 zu einer breiten Bewegung werden konnte.
Spiro Agnews Forderung von 1970, die US-Politik von Ron Dellums und ähnlich »radikalen« Politikern zu »säubern«, hatte noch ein bezeichnendes Nachspiel: Der US-Vizepräsident musste im Oktober 1973 sein Amt niederlegen – wegen Korruption, Bestechung, Erpressung und Steuerhinterziehung.
Nur zehn Monate später wurde auch sein Chef Nixon wegen des Watergate-Skandals – dem von ihm angeordneten und von US-Geheimdienstagenten ausgeführten Einbruch in die Zentrale der Demokratischen Partei im Hotel Watergate – gezwungen, das Präsidentenamt aufzugeben.
Ron Dellums, der überzeugte und »unverbesserliche Radikale«, gehörte dem Kongress 27 Jahre an, bis zu seinem Rücktritt 1998. Er starb am 30. Juli mit 82 Jahren an Prostatakrebs.