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Titel1714

Der Krieg um die Köpfe  (Georg Rammer)

Erinnerung als subjektive Wahrheit ist Teil der Identität. Beim staatlichen Gedenken geht es aber nicht um historische Wahrheitssuche. Die Erinnerung soll gelenkt und geformt werden, damit sie aktuellen Ideologien und politischen Zielen dienen kann. Die Erinnerungspolitik verrät viel über die Interessen der Elite. Diese kämpft – in Staat, Parteien oder Interessengruppen – um Köpfe. Das strategische Ziel ist Deutungshoheit. Die Elite weiß: Die Bedeutung historischer Ereignisse ergibt sich durch den Kontext, in den die Erinnerung gestellt wird.

Zahlreiche Institutionen arbeiten daran, vergangenen oder aktuellen Ereignissen durch einen ganz bestimmten Kontext eine Bedeutung zu geben, die den Interessen der Elite entspricht. Das, was früher mit dem bösen Wort »Gehirnwäsche« belegt wurde, heißt heute PR, Kommunikation oder »Framing«.

Beispiel Bertelsmann-Stiftung. Sie vermittelt Regierenden und Volksparteien immer wieder Handreichungen, um deren »politische Reformkommunikation« zu verbessern. Wählerwirksame Kommunikationsstrategien stellen für die Volksparteien als »markt-, also wählerorientierte politische Verkaufsorganisationen« (Ulrich Sarcinelli) eine Überlebensfrage dar. Politische Agitation und Suggestion, genannt Kommunikation, müsse mentale »frames« und unbewußte Vorstellungen berücksichtigen, Begriffe besetzen, politische Sachverhalte personalisieren; sie müsse in einer positiven Rhetorik Zielvisionen entwickeln und paßgenau Zielgruppen ansprechen. Und: Sie muß durch effektive »Narrative« Vertrauen gewinnen – eine wichtige politische Ressource.

Bundespräsident Gauck beherrscht diese Kunst und betätigt sich unablässig als Geschichtenerzähler, um die deutsche Politik in einen neuen Sinnzusammenhang zu stellen. Er will der Bevölkerung immer wieder den Mythos von Freiheit und Verantwortung, vom Kampf für Demokratie und Menschenrechte eintrichtern. Sein Vor-Vorgänger Köhler hatte die falsche Geschichte erzählt, als er kriegerische Ambitionen Deutschlands in den Zusammenhang »wirtschaftliche Interessen« stellte. Die Strafe folgte auf dem Fuße.

Die Manipulation durch die Medien spitzt sich durch die Tatsache zu – darauf weist der Soziologe Jörg Becker hin (taz, 28.7.2014) –, daß »die Deutungsmacht von nur mehr vier oder fünf weltweit operierenden Nachrichtenagenturen« erobert wurde. Und es gebe mehr PR-Agenten als Journalisten; die Weltpresse sei voll von Berichten, die von ihnen in Umlauf gesetzt wurden. Die kriegsführenden Regierungen bedienten sich der PR-Agenturen, um die Kriegsberichterstattung nach Kundenwunsch zu gestalten. Becker spricht von einem »militärisch-industriell-kommunikativen Komplex« und von der »politischen Instrumentalisierung der Kriegsberichterstattung und Kriegsbegründung«.

Geschichten erzählen, Sinnzusammenhänge herstellen, Deutungshoheit erringen: Sie sollen die Loyalität der Menschen auch dann sichern, wenn eine Politik gegen die Interessen breiter Bevölkerungsmehrheiten durchgesetzt wird – gut zu beobachten bei strategisch bedeutsamen Vorhaben oder Krisen: TTIP, Ukraine, Palästina, NSA.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler wendet die hohe Kunst der Erinnerungspolitik beim Thema des Ersten Weltkrieges an. Als Wissenschaftler weiß er um die Absichten, Motive und die strategischen Ziele des deutschen Kaiserreiches im Vorfeld des Krieges. Gewiß kennt Münkler den berühmt-berüchtigten Neujahrsbrief (1905) von Kaiser Wilhelm II. an Reichskanzler von Bülow mit der Direktive: »Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig, per Blutbad, und dann Krieg nach außen.«

Die Erfahrungen des »Willens zum Krieg« könnten Folgerungen für heutige militärgestützte Großmachtpolitik Deutschlands nahelegen. Aber Münkler verfolgt ein anderes Ziel: Er will die Schuldfrage gar nicht erst hochkommen lassen, mit dem Argument, politische Themen dürften auf keinen Fall in moralische verwandelt werden. Indem er die Rolle des scheinbar neutralen Beobachters einnimmt, wird der Erste Weltkrieg in seiner Bearbeitung zu einer zweckrationalen Angelegenheit. Er stellt imperialistisches Denken, Großmachtambitionen und darauf abgestimmte Militärstrategien in eine Reihe sachlicher Abläufe: ohne Akteure, ohne Interessen, ohne Gedanken an Blutbad und Krieg. Indem er die Perspektive der herrschenden Klasse einnimmt, wird der Krieg zu einer quasi logischen, zwangsläufigen Folge einer historischen Entwicklung und militärischen Taktik. Unter dem Deckmantel des neutralen ideologiefreien Historikers wird Münkler zum Ideologen, zum Kriegsversteher.

Menschen kommen bei Münkler nur als Herrscher oder Strategen vor. Seine scheinbar wertneutrale Analyse paßt gut zur deutschen Großmachtpolitik des neuen Jahrtausends. Hinter Kriegen stehen nicht Akteure und wirtschaftliche und strategische Interessen, sondern Sachzwänge. Und die Kriege werden besser führbar, indem man sie mit Gauck in den Sinnzusammenhang von Freiheit, Demokratie und Menschenrechte stellt.

In einem Interview mit Spiegel online hat Münkler im Juli eine aktive Außenpolitik Deutschlands mit militärischen Mitteln gefordert und gegen die »Stechschrittpazifisten von der Linken« gewettert: »Diese Haltung [der militärischen Zurückhaltung; G. R.], eine Extrawurst einzufordern, halte ich für verantwortungslos und unklug. Deutschland sollte im Sinne von Bertolt Brecht ein Land wie jedes andere sein. Wir sind heute in der EU und in der NATO, und in der sind wir der reichste und größte Akteur in Europa. Da kann man sich nicht immer so klein machen und so tun, als würde man nicht existieren.« Der Fachschaftsrat Sozialwissenschaften der Universität, an der Münkler wirkt, hat gegen den Wissenschaftler, der hier zum »politischen Phrasenautomaten« werde, klar Stellung bezogen: »Das Beispiel Münkler zeigt, daß die Diskussionen über die Verstrickung akademischer Forschung mit militärischen Interessen, die unter dem Begriff der ›Zivilklausel‹ geführt werden, nicht auf den naturwissenschaftlich-technischen Bereich verkürzt werden sollten. Die Sozialwissenschaften spielen sich nicht im luftleeren Raum ab, sondern sind Teil von gesellschaftlichen Kämpfen und ideologischen Kräfteverhältnissen.«

Die Deutungshoheit der Elite kann durchkreuzt werden, wenn Erinnerung nicht im Dienste der Macht und der imperialen Interessen instrumentalisiert wird, sondern das Nachdenken anregt über Menschen als Subjekt ihrer Geschichte mit ihrer Tragik, ihrer Menschlichkeit und ihrem Streben nach Glück.