Die klammheimliche Freude vieler Zeitgenossen über die entlastende Botschaft des Schlafwandler-Buches des australischen Historikers Christopher Clark – die Deutschen sind am Weltkrieg 1914–1918 nicht mehr schuld als andere auch – läßt sich an Meinungsumfragen ablesen. Laut Forsa-Umfrage vom Januar sind 58 Prozent der Deutschen schon auf den Zug aufgesprungen. Nur noch 19 Prozent glauben an eine Hauptschuld Deutschlands. Aber dabei blieb es selbstverständlich nicht. Schon bald meldeten sich konservative deutsche Historiker zu Wort, die aus der frohen Botschaft geschichtspolitisches Kapital zu schlagen versuchten. In der Tageszeitung Die Welt, die für solchen Revisionismus eine Plattform bot, verkündeten Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Cora Stephan und Thomas Weber, was nunmehr ihres Erachtens aus der durch Clark, Münkler und andere Autoren revidierten Geschichte des Ersten Weltkrieges zu lernen sei: Wenn der Schuldvorwurf von den Deutschen genommen werde, so entfalle auch die Begründung für die – wie sie schreiben – »Abschaffung des deutschen Nationalstaates«.
Ihr Gedankengang lautet: Die angstbesetzte Idee vieler Europäer, daß Deutschland wegen seiner historischen Kriegsschuld supranational eingebunden werden müsse, damit es nicht erneut Unheil stifte, sei damit hinfällig. Denn »die Vorstellung von der friedensstiftenden Wirkung der europäischen Einigung« beruhe dann ihrer Meinung nach »auf falschen Prämissen«. Die gegenwärtige europäische Krise mache klar, »daß ein Europa scheitert, das auf historischen Fiktionen beruht. Falsche Lehren aus der Vergangenheit könnten sich als fatal für das europäische Projekt erweisen«. Sodann folgt die spezifische politische Lehre, welche diese deutschnational eingefärbten Historiker aus der Geschichte des Ersten Weltkrieges ziehen: »Pazifismus und die Überwindung des Nationalstaates sind nicht die einzig denkbaren Schlußfolgerungen aus den Weltkriegen. Denn weder sind die alten Ängste vor deutscher Hegemonie verschwunden, noch hat die Moralisierung außenpolitischen Handelns [gemeint ist die moralische Verwerfung von Krieg; W. W.] seit 1990 zu einer größeren Integration der Bundesrepublik in die europäische Staatengemeinschaft geführt. Im Gegenteil: Einen Menschenrechtsinterventionismus, der sich nicht an nationale Interessen bindet, versteht außerhalb Deutschlands kein Mensch.« Keiner unserer Nachbarn wolle »in einem übernationalen großen Ganzen aufgehen«. Die Idee, daß mit »Europa« der Nationalismus bekämpft werden müsse, habe »den Nationalstaat zu Unrecht diskreditiert« (zitiert aus: »Warum Deutschland nicht alleine schuld ist«, in: Die Welt, 4.1.2014).
Diese Historiker ziehen also aus ihrer revisionistischen Sicht auf den Ersten Weltkrieg die Lehre, zu Lasten der europäischen Einigung den Nationalstaat wieder zu rehabilitieren. Die andere, die pazifistische Lehre aus dem Ersten Weltkrieg, die schon in den frühen Jahren der Weimarer Republik von Millionen von Menschen gezogen wurde und damals in der Parole »Nie wieder Krieg!« zum Ausdruck gebracht wurde, lehnen diese Historiker ab. Für sie geht von 1914 keine Mahnung zum Frieden aus, sondern die Ermunterung zu einer deutschen Politik des Militärinterventionismus. Von einer Legitimation durch die Vereinten Nationen wollen sie nichts wissen, ihnen reicht der Hinweis auf nationale Interessen. Damit gehören sie zu jenen geschichtspolitisch argumentierenden Deutschen, die nun auch die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg dazu benutzen, um einer militarisierten Außenpolitik das Wort zu reden und sie der Öffentlichkeit als »Neue Normalität« zu verkaufen.
Da wurde es sogar der Welt-Redaktion zu bunt. Deren Mitglied Richard Herzinger fand die Schlußfolgerungen der vier Historiker für die Gegenwart »weitreichend«. Denn die Autoren neigten dazu, »die aggressiven Absichten und Handlungen des Deutschen Reiches [im Jahre 1914; W. W.] insgesamt« herunterzuspielen. Den Autoren gehe es offensichtlich darum, eine »freie nationale Machtpolitik« zu rehabilitieren, in der Moral keine Rolle spiele. Daß sie auch noch den »Zivilisationsfortschritt« in Zweifel zögen, »den die europäische Einigung und die damit verbundene Ächtung des Krieges als Mittel innereuropäischer Konfliktlösung gebracht haben«, führt seines Erachtens vollends in die Irre (»Der Nachhall von 1914. Die Lehre aus dem Ersten Weltkrieg kann nicht die Rehabilitierung nationaler Machtpolitik sein«, in: Die Welt vom 27.1.2014).
Aber die geschichtsrevisionistische Welle läuft weiter. Das ZDF bereitet derzeit für den Herbst 2014 eine sechsteilige Dokumentation zur Geschichte Deutschlands vor. Erzählt und moderiert wird die Reihe von dem australischen Professor Christopher Clark. Er wirft »von außen einen Blick auf uns Deutsche« (ZDF-Ankündigung) und präsentiert uns beispielsweise, wie schon einmal, eine Geschichte Preußens, in welcher der Militarismus nicht vorkommt (Christopher Clark: »Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, übersetzt von Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer, München 2006). Auch die vier oben genannten Historiker setzten in ihrem Manifest den Begriff Militarismus in Anführungszeichen, als hätte es diesen nur in der Fantasie von Pazifisten gegeben. So schließen sich die Kreise.