Wer im Zweiten Weltkrieg aufwuchs, hörte danach von den Großeltern Erzählungen über die Gute Alte Zeit 1871 bis 1914. Da herrschte in Mittel- und Westeuropa dreiundvierzig Jahre lang Frieden, und die Währung war stabil. Danach: zwei Weltkriege, eine Weltwirtschaftskrise, Völkermord, zweimal Zerstörung von Geldvermögen durch Währungsreformen.
Die Enkel aus der Kohorte der 1939 bis 1945 Geborenen, denen man diesen Gegensatz erklärt hatte, können heute selbst längst Großeltern sein. Sie blicken in Westdeutschland auf ihre eigene Gute Alte Zeit zurück: von der Währungsreform 1948 bis zur Weltwirtschaftskrise von 1975. Es gab kaum Arbeitslosigkeit, die Reallöhne stiegen, eine begüterte Mittelklasse auch von abhängig Arbeitenden, darunter eine wachsende Massenschicht der Intelligenz, entstand, und es war wieder Frieden. Negativ erscheint dagegen die Gegenwart: zunehmende Ungleichheit und Armut, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, kriegerische Gewalt an der Peripherie der Europäischen Union.
Die Erzählung von der Zweiten Guten Alten Zeit wird am überzeugtesten nicht von den 1939 bis 1945 Geborenen vorgetragen, sondern von den um ein Jahrzehnt Älteren, vor allen den Angehörigen des Jahrgangs 1929 (plus minus ein paar weitere Jahre): zu jung noch, um an den Nazi-Verbrechen und an der Kriegsniederlage teilzuhaben, alt genug, um den nun beginnenden Aufstieg aktiv zu nutzen und mitzugestalten. Sie sind in gewisser Weise die Gründergeneration beider deutscher Staaten. Der Abstieg seit Mitte der siebziger Jahre spiegelt sich im fünften Band der »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« von Hans-Ulrich Wehler (1931–2014), der die Jahre 1945 bis 1990 behandelt. Nach Helmut Schmidt versteht der Autor die Welt nicht mehr und schimpft nur noch. Kurz vor seinem Tod legte er eine gut informierte Geschichte der Ungleichheit vor, die eine Wende zum Schlechteren beschreibt.
Die seit den siebziger Jahren Geborenen werden mit diesen Erzählungen nicht viel anfangen können. Sie kennen es nicht anders, als es ist. Vielleicht werden sie, wenn sie selber im Rentenalter sind, die heutige Gegenwart als eine Gute Alte Zeit schildern. Zu wünschen ist dies ihren Kindern und Enkeln nicht. Wer heute Zwanzigjährigen erläutern will, daß es einmal eine Bundesrepublik ohne Arbeitslosigkeit, mit lebenslangen recht gut bezahlten Beschäftigungsverhältnissen und sicherer Altersversorgung gab, erlebt zuweilen gelangweiltes bis unmutiges Abwinken: Für solche Retrospektiven könne man sich nichts kaufen.
Längst hat auch die Wissenschaft sich der unterschiedlichen Lebenswelten von Alterskohorten angenommen.
Eric Hobsbawm (1917–2012) unterteilte das von ihm so genannte »Kurze zwanzigste Jahrhundert« in drei Perioden: das Zeitalter der Katastrophen (1914–1945), das Goldene Zeitalter (1945–1973) und den »Erdrutsch«, der bis in die Gegenwart reicht. Zur Ersten Guten Alten Zeit gehört für ihn nicht nur die Periode um 1900, sondern das ganze »Lange Neunzehnte Jahrhundert« (1780/1789–1914), in dem eine optimistische Erwartung kontinuierlichen Aufstiegs viele Anhaltspunkte gefunden habe. Spätestens als das ererbte Vermögen seiner Mutter in der Inflation entwertet wurde, vorher aber schon mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzte eine neue Generationserfahrung ein.
Der Ökonom Thomas Piketty (geb. 1971) kommt zu teilweise anderen Ergebnissen. Das neunzehnte Jahrhundert war für ihn durch wachsende Ungleichheit gekennzeichnet. Der Ertrag aus immer größer werdenden, oft schon ererbten Vermögen überstieg in wachsendem Maß das Einkommen aus Arbeit. In den beiden Weltkriegen wurden diese überschüssigen Kapitalmassen geschmälert. Hobsbawms Zeitalter der Katastrophen ist für Piketty eine Epoche größerer Gleichheit. Beide stimmen aber in der Beurteilung der darauffolgenden Periode überein. Staatliche Umverteilungsmaßnahmen und ein relativ hoher Anteil von Löhnen und Gehältern am Volkseinkommen sorgten zweieinhalb Nachkriegsjahrzehnte für mehr Gleichheit als in der »Belle Époque« oder dem »Gilded Age« vor 1914. Seit etwa 1970 aber wird dieser Prozeß wieder revidiert.
Was sich hier als Ergebnis wissenschaftlicher Analyse darstellt, könnte schon durch den österreichischen Althistoriker Franz Hampl (1910–2000) als ideologischer Topos dekonstruiert worden sein. Er hat herausgefunden, daß es bei den Römern die »laudatio temporis acti« gab, das Lob einer besseren Vergangenheit, die aber nur in der Rückschau, nicht in der Realität bestand. Von hier zu den Träumen vom verlorenen Paradies ist es dann nicht mehr weit.
Alles nur Ideologie? Und, falls ja: Worauf beruht sie? Antwort: auf Unzufriedenheit mit der Gegenwart, aus der immerhin der Wunsch resultieren kann, es möge künftig besser werden. Und dieser kann zu dem Entschluß führen, etwas dafür zu tun, ohne daß man sich irgendeine Vergangenheit zum Vorbild nehmen muß. Eine gute alte Zeit mag es nie gegeben haben. Die Möglichkeit, daß eine bessere Zukunft machbar sei, ist durch eine Abkehr von Regression und Nostalgie nicht aus der Welt.
Wenn – wie gezeigt – die Erste Gute Alte Zeit charakterisiert war durch Kapitalmassen, die sich danach – 1914 bis 1945 – katastrophal entluden, die Zweite Gute Alte Zeit der Arbeit mehr zu ihrem Recht verhalf als während der vorigen Jahrhundertwende und wenn jetzt die Probleme der wilhelminischen und viktorianischen Epoche wiederzukommen drohen, dann könnte daraus gelernt – und es könnte vorgebeugt werden: durch hohe Besteuerung der großen Vermögen, Einkommen und Erbschaften sowie Investition des Ertrags solcher Umverteilung in gesellschaftlich und individuell nützliche Infrastruktur. Das wäre dann eine Gute Neue Zeit. Wer statt dessen – wie gegenwärtig die Europäische Zentralbank und die Bundesregierung – auf verordnetes Entsparen mittlerer Guthaben ausweicht und die sich anhäufenden gewaltigen Reichtümer ungehindert weiterwachsen läßt, verhindert eine solche mögliche bessere Zukunft.