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Titel1714

Schulbücher umschreiben?  (Wolfgang Popp/Bernhard Nolz)

Eine wesentliche Aufgabe aufklärerischer und demokratischer Friedenserziehung ist, dem individuellen Vergessen, dem kollektiven Verdrängen, dem Relativieren und Umdeuten der Geschichte durch die Regierenden kritisches Nachdenken, historisches Nachfragen und die Befähigung zu eigenverantwortlichem Handeln in der Gegenwart entgegenzusetzen. Das gilt vor allem für die jüngere Geschichte, um deren Verlauf und Deutung sich gerade wieder einmal die Historiker sowie die Politiker streiten. Es geht um die Ursachen und Folgen des Ersten Weltkriegs, dessen Beginn sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt. Müssen angesichts dieses Streits die schulischen Geschichtsbücher umgeschrieben werden, wie Guido Knopp unlängst in einer Diskussionsrunde fragte. Jörg Berlin verneint diese Frage in der Hamburger Lehrerzeitung, aber er gesteht ein, daß »die geschichts-politisch motivierte Forderung nach einer neuen Tendenz« den Geschichtsunterricht und die Lehrer betrifft. Allerdings trifft die dahinterliegende Behauptung nicht zu, daß die Schulbücher allesamt einseitig der These des Hamburger Historikers Fritz Fischer anhingen, derzufolge Deutschland die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg habe. Weder hat Fischer eine derartige These aufgestellt, noch wird diese jedenfalls in den neueren Geschichtsbüchern einseitig vertreten, wie Jörg Berlin nachweist.

Trotzdem lohnt es sich, diese neueren Geschichtsbücher daraufhin zu befragen, welches Bild von der jüngeren deutschen Geschichte sie den Schülerinnen und Schülern vermitteln, welche Hilfen sie ihnen anbieten, ihre Gegenwart aus der Geschichte wahrzunehmen und zu gestalten. Die Bücher geben nicht nur detaillierte Informationen über einzelne historische Ereignisse und Situationen, sondern bieten auch durch gezielte Fragen die Möglichkeit, selbständig Zusammenhänge zu erarbeiten, Quellentexte zu bewerten und miteinander zu vergleichen, und sie beziehen reichlich Bildmaterialien, Tabellen und Hinweise auf Internetfundorte ein. Allerdings bieten sie in bezug auf einzelne Epochen der neueren Geschichte dann doch ein reichlich gefärbtes Bild der Demokratie-Entwicklung, das die heftigen Auseinandersetzungen etwa zwischen Arbeitern, Proletariern, den demokratischen Bürgerbewegungen, den Sozialisten und Kommunisten und der Bourgeoisie, dem Kapital und der kapitalgesteuerten Politik eher bagatellisiert, als in ihren tiefgreifenden Auswirkungen zu zeigen.

So ist eine eingehendere Thematisierung der Friedensbemühungen und Friedensbewegungen in den jeweiligen historischen Epochen kaum zu beobachten: Schon zwei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg gründete Bertha von Suttner die ersten Friedensgesellschaften in Österreich und Deutschland, die den Friedenswillen breiter Bevölkerungskreise zum Ausdruck brachten. Und sie war maßgeblich beteiligt an den Internationalen Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in Den Haag, die Zar Nikolaus einberief und auf denen ein internationales Schieds-gericht eingerichtet wurde, das Voraussetzung für den späteren Völkerbund und die Etablierung der heutigen Vereinten Nationen (UNO) war. Während der Weimarer Republik wird der schon zu Ende des Krieges erstarkende Friedenswille der Bevölkerung und die sich daraus ergebenden Ansätze zu einer Revolutionierung der gesellschaftlichen Zustände und der Zukunftsperspektiven allzu stiefmütterlich behandelt. In der Behandlung des deutschen Faschismus beschränkt sich die Darstellung von Widerstand weitgehend auf die Weiße Rose und den 20. Juli um Graf Stauffenberg, ohne die vielfältigen, eher verborgenen Widerständigkeiten im Inneren und den massiven Widerstand in den besetzten Nachbarländern gebührend zu würdigen.

Vor allem in den Darstellungen der Nachkriegszeit bis heute wird der Mangel an Sensibilität gegenüber widerständigen Bewegungen sichtbar: Die heftigen Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, um die Atomwaffen oder die Notstandsgesetze, die Massendemonstrationen der 1980er Jahre oder der »Krefelder Appell« mit über vier Millionen Unterstützern gegen den »NATO-Doppelbeschluß« und die Aufrüstungspolitik der Bundesregierung oder der Kampf gegen die Berufsverbote werden höchstens formal erwähnt, ohne ihre zum Teil weitreichenden Einflüsse zu beachten. Der Adenauer-Staat wird nur im Licht der Demokratisierung gezeichnet, ohne die Durchdringung aller wesentlichen Bereiche des Staates mit ehemaligen Nazis auch nur zu erwähnen. Stillschweigen gewahrt wird auch zu den entwürdigenden »Gesinnungsprozessen« gegen Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), deren Verurteilung mit der Aberkennung der Renten als Opfer des Nationalsozialismus verbunden war. Die Entwicklung der DDR erscheint nur unter dem negativen Verdikt des Vergeblichen beziehungsweise des Diktatorischen. Schwierige Vorgänge wie der Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 oder der Mauerbau (1961) werden nur aus westlicher Sicht gesehen; die Vereinigung 1990 wird so dargestellt, als hätten sich zwei gleichberechtigte Staaten zusammengeschlossen und als dauerte die Ungleichbehandlung der ehemaligen DDR-Bürger nicht bis heute an. In den Schulbüchern wird weder die 68er-Bewegung in ihren Folgen hinreichend gewürdigt, noch fällt auf die Entwicklung der Globalisierung und der Privatisierung öffentlichen Eigentums und staatlicher Daseinsvorsorge irgendein kritisches Licht.

Der Streit um die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Militarisierung des Alltags spielen keine Rolle. Die wachsende Friedenswissenschaft mit ihren alternativen Lösungsansätzen für internationale Konflikte und konflikthaltige Situationen wird ebensowenig erwähnt wie die friedenspädagogischen Bemühungen um eine Schule ohne Bundeswehr oder um Hochschulen mit Zivilklauseln und ohne Kriegsforschung.

Auf diese Weise werden die Jugendlichen von heute kaum einen anregenden Einblick in die deutsche Geschichte zwischen Krieg und Frieden, zwischen Arm und Reich, zwischen Alternativen zur Gestaltung ihrer Gegenwart und Zukunft gewinnen können. Eine Revision der neueren Schulbücher wäre also nötig, aber nicht aus Gründen eines neu entfachten Historikerstreits und dieses Mal auch nicht unter Federführung der Bundesregierung und der verschiedenen Schulbuchkommissionen. Die neue Erinnerungspolitik kommt von unten, mit den Worten des Friedensforschers Johan Galtung: »Die Zukunft der Welt liegt stärker denn je in den Händen der einzigen Quelle der Legitimation: der Menschen in der ganzen Welt.«

Eine ausführliche Textfassung mit Quellenangaben und Zitaten erscheint in der Herbstausgabe der Zeitschrift et cetera ppf der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF).