Bringen wir den Terminus »Erinnerungskultur« mit den von Andrea Stephani übersetzten Worten der 1942 geborenen und mit zahlreichen Literaturpreisen geehrten französischen Kriminalautorin Dominique Manotti auf einen Punkt: »Ein Land, das seine Geschichte totschweigt, verfault von innen.« Der Grad der Gesundung eines Gemeinwesens, seiner Zivilisiertheit also, ermißt sich demnach auch aus der Art des Umgangs des Einzelnen und der Gesellschaft mit seiner Geschichte. Denn, wie konnten wir schon bei William Faulkner lesen (»Requiem für eine Nonne«, übersetzt von Robert Schnorr) und später, fast gleichlautend, bei Christa Wolf, in ihrem Erinnerungsroman »Kindheitsmuster«, erster Satz: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.«
Das Zitat von Dominique Manotti stammt aus ihrem neuen 2013 in Frankreich (»L’évasion«) und jetzt auf deutsch (»Der Ausbruch«) erschienenen Roman. Die Schriftstellerin nutzt die Möglichkeiten des Krimis zur politischen Aufklärung und Bildung und erhellt damit jene finsteren Ecken, in die selten eine Fernsehkamera hineinleuchtet. Kein Wunder: Sie ist Historikerin, lehrte an verschiedenen Pariser Universitäten Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit und leitete als Generalsekretärin die Pariser Gewerkschaftssektion der Confédération française démocratique du travail, CFDT (s. auch Ossietzky 24/13).
Der »Ausbruch« führt in das Italien der Roten Brigaden und anderer linksradikaler Gruppierungen mit ihren terroristischen Aktionen ab 1970. Er führt in die Zeit der »Strategie der Spannung« (1969 und Folgejahre), in der eine Reihe »unter falscher Flagge« inszenierter terroristischer Aktivitäten von Geheimdiensten, der Geheimloge P2 und Geheimorganisationen wie Gladio sowie von Rechts-extremisten die öffentliche Meinung zuungunsten der politischen Linken manipulieren sollten, öffentlichkeitswirksam begleitet von den meisten Medien und auch dem Canale 5, dem Fernsehsender des aufstrebenden Berlusconi.
Hauptschauplatz jedoch ist Frankreich, wohin sich mit Duldung des französischen Staatspräsidenten Mitterrand italienische Aktivisten ins Exil begeben durften. Das Buch eines jungen italienischen Ausbrechers über seine gemeinsame Zeit mit einem Protagonisten der extremen Linken, teils autobiographisch, teils ersonnen, stellt die Frage nach Wahrheit und Lüge in der eigenen Biographie und ruft alle auf den Plan: die italienischen Polit-Exilanten, die um ihre Anerkennung als politische Flüchtlinge bangen, die italienische Polizei und die Geheimdienste, die eine Diskussion über ihre Verwicklung in die Ereignisse befürchten müssen. Der Ausgang ist tödlich.
Eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel »Der Krimi ist politisch« von Hamburgs Politkrimi- und Noir-Verlagen sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hamburg, gefördert von der Landeszentrale für politische Bildung und der Hamburger Kulturbehörde, findet von September bis Dezember 2014 in der Hansestadt statt. In ihrem Rahmen spricht Dominique Manotti, begleitet und gedolmetscht von Ariadne-Lektorin Iris Konopik, am Montag, 6. Oktober, 19.30 Uhr, im Büchereck Niendorf-Nord, Nordalbinger Weg 15, über ihr Schreiben und über das Schmieden von Mythen – und diskutiert die immer noch aktuelle Frage, wem die Geschichte gehört (Infos zu den Veranstaltungen unter www.argument.de).
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Erinnerungsarbeit »gegen das Verfaulen« betreibt auch der österreichische Schriftsteller Ludwig Laher mit seinem Dokumentarroman »Bitter«. So wie in Deutschland, Frankreich oder Italien wuschen auch in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg viele ihre Hände in Unschuld, Täter und Mitläufer. Und derer gab es viele, hatten doch am 10. April 1938, nur wenige Wochen nach dem 12. März, dem Tag des Einmarsches deutscher Truppen, und nach der Unterzeichnung des Gesetzes über den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich 99,7 Prozent der Stimmberechtigten sich für diesen Anschluß ausgesprochen. Zugegeben: nach offiziellen Angaben. Aber da auch die österreichischen Bischöfe am Abstimmungstag »aus innerster Überzeugung und mit freiem Willen« das Wirken der nationalsozialistischen Bewegung »für die Zukunft mit ihren besten Segenswünschen« begleiteten, dürfte das Ergebnis nicht nennenswert geschönt sein (Quelle: Lesebuch zur Deutschen Geschichte, Harenberg, 1989).
Einer, der schon frühzeitig auf diesen Tag hingearbeitet hatte, ja, ihm entgegenfieberte, war Friedrich Kranebitter, 1903 in Wildshut, Oberösterreich, geboren, gestorben 1957 in Linz an der Donau, der oberösterreichischen Landeshauptstadt.
Wikipedia kennt seinen weiteren Lebenslauf: Matura und dann Studium an der juristischen Fakultät in Wien mit Promotion zum Doktor beider Rechte, parallel dazu eine intensive Weiterbildung bei der Polizei. Mitglied der Wiener NSDAP-Ortsgruppe seit 1931, Mitglied der SS 1934. Und dann im schon erwähnten März 1938, endlich, an der österreichischen Polizeiuniform die leuchtend rote Hakenkreuzbinde. Mitglied der Staatspolizeileitstelle Wien. Im April Leiter der Gestapo-Außenstelle der Wiener Neustadt. Das Morden konnte beginnen. Ab 1941 SS-Sturmbannführer, bald schon Kommandeur der Sicherheits-polizei und des Sicherheitsdienstes im ukrainischen Generalbezirk Charkow, der damals viertgrößten Stadt der Sowjetunion. Das Morden konnte weitergehen. Es endete erst in Italien, mit der Landung der Alliierten. Hier war Kranebitter ab 1943 im Gestapohauptquartier Verona für die Erstellung von Transportlisten in KZs in Deutschland, Polen und Österreich (Mauthausen) zuständig.
Laher nennt seinen Protagonisten »Fritz Bitter«, schließlich ist es ein Roman: »Natürlich ist er es. Natürlich ist er es nicht.« Ein Roman? Laher in der Einleitung: »Fritz Bitter ist das gewissenhaft zusammengetragene Produkt von Dokumenten und Selbstzeugnissen, von Erinnerungen der Lebenden und der Toten, vor allem der Toten.« Und von den Weißwäschern und Verstellkünstlern in der Nachkriegszeit.
Dominique Manotti: »Ausbruch«, aus dem Französischen von Andrea Stephani, Ariadne Krimi 1218, Argument Verlag, 253 Seiten, 17,00 €; Ludwig Laher: »Bitter«, Wallstein Verlag, 238 Seiten, 19,90 €