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Titel1812

Karl Marx in Brasilien  (Susanna Böhme-Kuby)

Ohne die Instrumente der Marxschen Theorie läßt sich die heutige Krise des Kapitalismus nicht schlüssig analysieren und erklären. »Der Klassenkampf nach dem Ende des Klassenkampfes« – so der Titel des jüngsten Buches des Ökonomen Luciano Gallina – schreitet konsequent von oben gegen unten voran und beseitigt die sozialen und politischen Errungenschaften der europäischen Arbeiterklasse. Da die großen Medien diese schlichte Erkenntnis aber vermeiden (müssen), speisen sie die Gehirne der Menschen weiterhin mit gezielter Desinformation: »Erfordernis der Märkte«, »Zwänge der Globalisierung« und so weiter und schüren damit Unsicherheit, diffuse Angst und letztlich Resignation. Das läßt sich auch in Italien beobachten, wo ohnehin schon die staatlichen Sparmaßnahmen, die tief in die tägliche Existenz breiter Schichten einschneiden, konkrete Angst vor dem sozialen Abstieg provozieren. In Rom appellierte kürzlich eine Gruppe nonkonformistischer Wirtschaftsexperten an den Staatspräsidenten, doch endlich seine Stimme als Garant der Pressefreiheit gegen den täglich stattfindenden »Informationsraub« zu erheben, die Medien zu einer differenzierteren Berichterstattung aufzufordern, sie dürften die Monti-Politik nicht länger als alternativlos und allein seligmachend darstellen.

Von Marx ist anderswo die Rede. Angelo d’Orsi, politisch aktiver Historiker der Universität Turin, der in seiner Stadt seit Jahren ein mehrtägiges »Festival Storia« (Geschichtsfest) organisiert, reiste nach Brasilien, um in der Universität Campinas an einer der seit 1996 periodisch stattfindenden »Cemarx-Tagungen« teilzunehmen, dem »Marx-Engels-Colloquium«. Darüber berichtete er in il manifesto (4.8.2012) unter anderem Folgendes: Das viertägige Treffen war wie ein Festival organisiert, das mit einer Vielzahl von zum Teil parallelen Veranstaltungen 253 Redner, vorwiegend aus Lateinamerika, einige aus den USA und Europa, und mehr als 500 Zuhörer in Kontakt brachte. Also kein akademisches Kolloquium, sondern ein lockeres Mit- und Gegeneinander mit hohem Anspruch und heißen Disputen über Themen, an die in Europa kaum noch jemand denkt, zum Beispiel über die historischen Grundlagen und Entwicklungen der Oktoberrevolution, über mögliche oder ausgeschlagene Alternativen, über Lenin, Trotzki, Stalin und so weiter. Es ging um Theorie, aber vor allem um Praxis und neben Karl Marx war Antonio Gramsci einer der Meistzitierten. In Brasilien wird ihm heute eine führende Rolle neben Lenin im Marxismus des 20. Jahrhunderts zuerkannt.

Doch für die Debatten über aktuelle Fragestellungen wurden auch andere europäische und amerikanische Marxisten herangezogen: Rosa Luxemburg und Karel Kosik, Herbert Marcuse, Ernest Mandel und Nicos Poulantzas, José Carlos Mariátegui, David Harvey und Daniel Bensaïd. Bei ihnen allen erhofft man sich in Lateinamerika Hilfe zur Klärung aktueller Kampfpositionen, denn, so d’Orsi, diese Völker und ihre politisch-intellektuellen Avantgarden sehen sich in einem Krieg – und de facto sind sie es – gegen die Europäer und Nordamerikaner, die – nachdem sie die Ressourcen der Welt für ihr eigenes Wachstum ausgebeutet haben – nun das Wachstum der anderen beschränken oder diese Länder wiederum den Direktiven ihrer internationalen Institutionen unterstellen wollen, die von einer Handvoll Mächtiger beherrscht werden. Und »gegen unsere [in Europa; S. B.-K.] wütende Manie, die gesamte Tradition der kommunistischen Bewegung über Bord zu werfen, gegen unsere übereilte und bedenkenlose Liquidierung des marxistischen Erbes, gegen unseren unbedachten Umgang mit Gramscis Gedankengut, gegen die ominöse Ausbreitung der Postmoderne«, so d’Orsi hat man viele Tausende Kilometer entfernt von Europa keine Scheu, rote Fahnen zu hissen und Namen zu zitieren, die uns Europäern bestenfalls noch ein Lächeln entlocken. Denn wir wähnen uns »jenseits« von György Lukács oder Louis Althusser und zitieren lieber Slavoj Zizek und Alain Badiou. In Brasilien demonstriert das marxistische Denken hingegen eine Lebendigkeit – eingedenk all seiner Brüche und Tragödien –, die auch die Opposition zum Bestehenden in Europa wieder zum Leben erwecken könnte, um zu zeigen, daß ein anderer Sozialismus möglich ist. Marx ist keineswegs tot, wie man uns Europäer glauben gemacht hat, damit wir uns der neuen Weltordnung anpassen, in der wir in jedem Fall nur noch Objekte und nicht mehr Subjekte sind. »Marx hat auch diese heutige Dauerkrise schon vor hundertfünfzig Jahren beschrieben und den Ausweg daraus skizziert, und wenn er doch Recht damit hätte?« So die Schlußfrage des Turiner Historikers.