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Titel202013

Verbrüderung der Schafe und Wölfe  (Wolfgang Bittner)

Einst hatten die Schafe furchtbar unter den Läusen zu leiden, wodurch es zu Krankheiten, Verängstigung und einer großen Unzufriedenheit in ihrer Herde kam. Als sie einem Wolfsrudel begegneten, schickten sie ihren Leithammel und den Ersten Minister hinüber, um Rat zu holen. Auch die Wölfe sandten Abgeordnete aus. Ort der Zusammenkunft war ein Hügel, weshalb allgemein von einem Treffen auf höchster Ebene oder Gipfeltreffen gesprochen wurde. Es fand sowohl in den Medien des Schafs- als auch des Wolfsvolkes überaus starke Beachtung.

»Verzeiht, daß wir Euch mit unseren Angelegenheiten behelligen«, begann der Leithammel der Schafe seine Rede unter dem Blitzlichtgewitter der Reporter, »aber unser Volk befindet sich in einer schweren Krise: Wir haben Läuse im Pelz. Wir leiden unter einer Heimsuchung durch diese blutsaugenden Parasiten. Es ist schon zu Unruhen und Produktionseinbußen gekommen, und wir wissen keinen Ausweg mehr.«

»Das ist ganz einfach«, sprach der Leitwolf. »Wir haben seit langem hervorragende Mittel gegen Ungeziefer. Wenn Ihr wollt, können wir uns in Zukunft um Euch kümmern und mit Euch leben.«

»Vielen Dank für Eure Hilfsbereitschaft«, erwiderte der Leithammel. »Aber uns geht es eigentlich nur darum, von den Läusen befreit zu werden. Wir werden uns Euer freundliches Angebot überlegen.«

Inzwischen waren jedoch bereits viele Schafe zu den Wölfen übergewechselt, wo es saftiges Gras zu fressen gab. Da fragte der Erste Schafsminister: »Wird denn das Gras auch für alle reichen, wenn wir uns zusammentun?«

»Nur keine Sorge«, erwiderte darauf der Wirtschaftsminister der Wölfe, »wir fressen kein Gras. Aber wo Schafe satt werden, da werden auch Wölfe satt.«

Das fanden alle einleuchtend. Zwar gab es auch Einwände, doch die wurden als abwegig und unvernünftig zurückgewiesen. Unter dem Jubel sowohl des Schafs- als auch des Wolfsvolkes schloß man einen Vereinigungsvertrag und feierte die Verbrüderung mehrere Tage lang. Die Politiker beider Völker nannten das Abkommen eine mutige Entscheidung, eine Kooperation zu beiderseitigem Vorteil und einen zukunftsweisenden Schritt in die richtige Richtung.

Auch die Medien waren voll von Lob; man sprach von Augenmaß, von blühenden Landschaften zu beider Nutzen und davon, daß der Vernunft eine Chance gegeben worden sei. Immer noch unbelehrbare Kritiker unter den Schafen wurden davongejagt und mußten ihr Leben künftig fern der Herde fristen. Soweit sich unter den Alttieren Unmut äußerte, wurden die Vorteile der blühenden Landschaften beschworen. Ferner war bei den einen von Geduld die Rede und bei den anderen von Nüchternheit. Einige Oberhammel erhielten sogar den Friedenspreis der Wölfe und ihren höchsten Orden, den goldenen Reißzahn am Bande. Und alljährlich feierte man Anfang Oktober ein großes Fest zur Verbrüderung der Schafe und Wölfe gegen die Läuse.