Kinderarmut hat sich in den letzten Jahren massiv verbreitet, so der Befund des EU-Parlaments. Zwar verpflichten sich alle Staaten außer den USA zur Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention und folglich mindestens zu den gleichen Rechten aller Kinder auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnung, Freizeit und ausgewogene Ernährung. Doch das europäische Statistikamt Eurostat hat alarmierende Zahlen zur Lage in Europa veröffentlicht. Demnach waren im Jahr 2014 rund 26 Millionen Kinder (unter 18 Jahren) von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Dies entspricht 27,7 Prozent der Kinder in den damals noch 28 EU-Mitgliedstaaten.
Das Problem der Kinderarmut existiere in allen EU-Mitgliedstaaten, wobei Rumänien mit 51 Prozent die dramatischsten Zahlen bei von Armut bedrohten Kindern aufweise, vor Bulgarien mit immer noch 45,2 Prozent und Ungarn mit 41,4 Prozent (EU-Maßstab für Armutsgefährdung sind weniger als 60 Prozent des mittleren nationalen Nettohaushaltseinkommens). Für Dänemark werden bei immerhin 14,5 Prozent die niedrigsten Prozentsätze verzeichnet, gefolgt von Finnland (15,6 Prozent) und Schweden (16,7 Prozent). Mit 19,6 Prozent beziehungsweise 23,3 Prozent liegen Deutschland und Österreich im unteren Mittelfeld. »Außerdem nimmt die Mangelernährung von Kindern in Europa zu. Laut UNICEF hat sich die Zahl der Kinder, die nicht an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Fleisch, Geflügel oder Fisch essen können, in Ländern wie Estland, Griechenland und Italien seit 2008 verdoppelt« (aus: »Mehr als ein Viertel der Kinder in Europa armutsgefährdet«, www.europarl.de, 20.11.2015). Als multidimensionales Problem bedeutet Kinderarmut nicht nur, über wenig Geld zu verfügen, sondern auch, dass die Grundbedürfnisse von Kindern wie Nahrung, Kleidung und Wohnraum nicht oder nur mangelhaft gestillt werden können. Zudem ist sie oft mit sozialer Ausgrenzung und dem fehlenden Zugang zu qualitativer Bildung und Gesundheitsdienstleistungen verbunden. Besonders Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil sind einem größeren Armutsrisiko ausgesetzt.
Diese bitteren Zahlen müssen vor allem im Kontext des gestiegenen Reichtums in Europa betrachtet werden. Denn offenbar hat das Verhältnis zwischen dem obersten Prozent und den restlichen 99 Prozent der Bevölkerung weltweit inzwischen wieder Dimensionen erreicht wie im Europa des 18. Jahrhunderts vor der Französischen Revolution. Waren es damals Adel und Klerus, also die obersten ein bis zwei Prozent, die über den größten Teil des verfügbaren Bodens und Eigentums verfügten, so sind es heute Großaktionäre und Geldaristokratie, die den Großteil des Vermögens in Deutschland, in Europa und auf der Welt kontrollieren und damit auch über das Schicksal der Mehrheit der menschlichen Bevölkerung bestimmen. Wenn die 62 Reichsten dieser Erde zusammen so viel Vermögen besitzen wie die untere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung (über 3,6 Milliarden Menschen), wenn das oberste Prozent der Menschheit mehr besitzt als die restlichen 99 Prozent zusammen, hat dies gravierende Folgen für die Menschheit (vgl. Oxfam 2016: »Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen«, https://www.oxfam.de) und drückt auch eine ungleiche Verteilung von Macht und Herrschaft über Menschen und deren Arbeitskraft aus.
Die UNICEF-Studie »Fairness for Children« zum Kindeswohl in Europa und den wohlhabendsten Ländern der Erde von 2016 kommt zu dem Resultat, dass die Einkommensunterschiede in den meisten reichen Industriestaaten seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 gewachsen sind, vor allem in den großen südeuropäischen Ländern: »In Zypern, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien sind die ärmsten Kinder in einer sehr schwierigen Lage, sowohl relativ (zum Median) als auch mit Blick auf die real zur Verfügung stehenden Mittel.« (Dieses und die folgenden Zitate aus der UNICEF-Studie von 2016 »Eine faire Chance für alle Kinder«, https://www.unicef.de.) Auch haben nur wenige Länder erkennbare Fortschritte bei der Überwindung von Unterschieden beim Lesen sowie bei der Überwindung schlechter Lesekenntnisse erzielt. Selbst in Ländern wie Finnland und Schweden, welche bis vor kurzem noch als Beispiele für hohe Bildungsstandards und -gerechtigkeit galten, seien sowohl Ungleichheiten als auch niedrige Schulleistungen angestiegen. Laut UNICEF-Studie weist inzwischen kein Land deutliche Fortschritte auf bei der Reduzierung der Differenz zwischen den von den ärmsten Kindern berichteten Gesundheitsbeschwerden und denjenigen des Durchschnitts. Stattdessen sei die Kluft im Bereich Gesundheit in 25 reichen Industrieländern angestiegen, besonders in Irland, Malta, Polen und Slowenien. »Unterschiede in der Lebenszufriedenheit (zwischen den unteren zehn Prozent und dem Median) sind in den meisten Ländern nicht zurückgegangen, sondern angestiegen. Verhältnismäßig hohe Anstiege dieser Unterschiede traten vor allem in Belgien, der Tschechischen Republik und Spanien auf.«
Wenig überraschend: Kinder aus den ärmsten Haushalten leiden eher unter einer niedrigen Lebenszufriedenheit sowie schlechterer Bildung. Auch würden sie seltener regelmäßig Sport treiben beziehungsweise sich ungesünder ernähren als der Durchschnitt. Als Beweis, dass der Kampf für soziale Gleichheit von zentraler Bedeutung für die Förderung des allgemeinen Kindeswohls ist, resümiert der UNICEF-Report: »Länder in denen die Einkommensunterschiede zwischen den ärmsten Kindern und dem Durchschnitt kleiner sind, weisen tendenziell ein höheres allgemeines Niveau beim Kindeswohl auf.« Die für den Report untersuchten Länder mit einer eher egalitären Einkommensverteilung tendieren demnach dazu, die Benachteiligungen beim Kindeswohl stärker abzubauen. Ebenso gebe es Hinweise darauf, dass sich große Einkommensunterschiede innerhalb der Gesamtgesellschaft nachteilig auf das allgemeine Kindeswohl auswirkten.
Auch seien die Unterschiede zwischen den Geschlechtern beim gesundheitlichen Wohlbefinden von Jugendlichen weit verbreitet und weiterhin fortbestehend. In allen untersuchten Ländern seien Mädchen im Gesundheitsbereich benachteiligt. Zehn Ländern bescheinigt UNICEF eine angestiegene Kluft zwischen den Geschlechtern, und vor allem 15-jährige Mädchen berichteten über eine niedrigere Lebenszufriedenheit als gleichaltrige Jungen. Darüber hinaus erkennt der UNICEF-Bericht in vielen Ländern einen Zusammenhang zwischen einer niedrigeren Lebenszufriedenheit und einem Risikoverhalten wie zum Beispiel Mobbing. Zudem zeigten besonders Migrantenkinder in Deutschland, Island, Irland, Italien, Spanien und den USA eine niedrigere Lebenszufriedenheit als Kinder ohne Migrationshintergrund.
Die UNICEF-Studie hält die Tatsache, dass es nur wenige Fortschritte beim Schließen der Kluft zwischen den unteren zehn Prozent der Kinder und dem Durchschnitt gebe, für besorgniserregend und fordert angesichts des Ausmaßes der Benachteiligung beim Kindeswohl dringend Maßnahmen. »In den OECD-Ländern liegen die am meisten benachteiligten Kinder beim Leseverständnis drei Schuljahre hinter dem Durchschnitt zurück. In Bulgarien, Chile, Mexiko und Rumänien haben circa 25 Prozent der 15-Jährigen mangelnde Fähigkeiten und Kompetenzen bei der Lösung von grundlegenden Aufgaben in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. In 25 Ländern klagt mehr als eines von fünf Kindern täglich über ein oder mehrere Gesundheitssymptome (sic!). In der Türkei sagen dies sogar mehr als die Hälfte der Kinder.« Während die selbsteingeschätzte Lebenszufriedenheit in reichen Ländern durchschnittlich bei acht von zehn Punkten liege, schätzt in der großen Mehrheit der Länder mehr als ein Kind von 20 seine Lebenszufriedenheit auf nur vier oder weniger von zehn Punkten ein. Eine sehr geringe Lebenszufriedenheit zeigten in Polen zehn Prozent und in der Türkei 15 Prozent der Kinder.
Die wenigsten Menschen in Deutschland wissen, dass über 90 Prozent der sogenannten EU-Hilfsgelder gar nicht »den Griechen« zugutekamen, sondern größtenteils deutschen und französischen Banken (vgl. FAZ.de, 4.5.2016). Wie die seit Ausbruch der Krise massiv gestiegene Kinderarmut und Kindersterblichkeit in Griechenland wieder reduziert werden könnten, fand in den letzten Jahren leider keine große Aufmerksamkeit (vgl. »Folgen der Sparpolitik. Säuglingssterblichkeit in Griechenland steigt um 43 Prozent« in: Spiegel online, 22.2.2014). Diese Entwicklung vollzieht sich nicht schicksalhaft, sondern gehorcht einem klaren Gesetz des neoliberalen Kapitalismus, seiner Krisen- und Kriegs-Regulationen. Während Kinderarmut und die verschiedensten Kindeswohlgefährdungen gravierend zunahmen, stieg der Vermögensreichtum in Deutschland und Europa enorm an – auch dank der steuerlichen Schonung durch legale und illegale Praktiken.
Zehn Jahre nach der »Agenda 2010« kann festgehalten werden, dass »Deutschland … als eines der reichsten EU-Länder mit Hartz IV die umfassendste soziale Stigmatisierung von Armen zustande gebracht« hat (taz, 12.3.2013). Dieser Zivilisationsbruch in der Geschichte der Sozialstaatlichkeit soll nun im ganzen Euroraum umgesetzt werden – mit den entsprechenden Folgen auch für Kinder. Wie Christoph Butterwegge richtig schreibt, wurde vor allem durch Hartz IV »das soziale Klima der Bundesrepublik vergiftet und ihre politische Kultur erheblich belastet. Heute wird das mit dem Namen von Peter Hartz verbundene Konzept den Ländern im Euroraum, die am schwersten von der Banken-, Schulden- und Währungskrise betroffen sind, als wirtschafts-, arbeitsmarkt- und finanzpolitisches Patentrezept empfohlen oder per ›Fiskalpakt‹ oktroyiert. Ebenso wie die Absenkung des Rentenniveaus à la Riester (Teilprivatisierung der Altersvorsorge), Rürup (Einführung des ›Nachhaltigkeitsfaktors‹) und Müntefering (Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch Erhöhung des Renteneintrittsalters) ist das Lohndumping à la Hartz zum Exportschlager der Regierung Merkel geworden« (neues deutschland, 7.1.2013). Das ist also nicht nur gewollt, sondern soll europäischer Standard werden. Ist dieser Plan umgesetzt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit in Deutschland darauf mit einer Agenda 2020, Hartz V und der Rente ab 70 reagiert werden, um die »Wettbewerbsvorteile« beizubehalten. Dann wird neuer Druck auf die europäischen Nachbarn ausübt werden, und das race to the bottom geht solange weiter, bis es gestoppt wird.
Erich Fried empfahl den Armen »im Kampf gegen die Reichen / so unbeirrbar« zu sein, »so findig / und so beständig / wie die Reichen im Kampf / gegen die Armen sind«.