Der Ort: ein Plattenbau mit abblätternder Fassade in Fürstenwalde-Nord, vor der Tür spielende Kinder. Kein Spielplatz, nein, eine Freifläche vor dem Haus, Parkplatz oder Brache. Kinder rennen herum, fangen sich. Ein Spielmobil kommt einmal pro Woche auf einen Platz in der Nähe, doch dazwischen liegt eine Ausfahrtstraße, über die sich die Kinder nicht wagen. Hier, im hintersten Winkel, ebenerdig, vielleicht beherbergten die Räume mal einen Friseurladen, liegt »Kiez-Kom«, ein während der Wende von Frauen gegründeter Stadtteiltreff. Jetzt führt ihn Birgit Aslan mit kleinem Salär, fast ehrenamtlich, in Trägerschaft des Kulturvereins. Programm: Nähkurse, »Hartz IV«-Beratung, gemeinsame Feste, Veranstaltungen, Lesungen, Erziehungstipps. 90 Prozent der Bewohner im Umfeld sind auf »Hartz IV« angewiesen. »Das ist mein Leben«, sagt Birgit Aslan. Es sei eine sinnvolle Tätigkeit, den Menschen hier – viele von ihnen haben jede Hoffnung verloren – Auswege zu zeigen.
Ich besuche eine Lesung. Undine Zimmer stellt ihr Buch »Nicht von schlechten Eltern« vor, in dem sie von ihrer Kindheit erzählt. Keine Kindheit im goldenen Westen, sondern eine »in Abhängigkeit vom Amt«, bei Eltern, die es nie geschafft haben, von ihrer Arbeit leben zu können. Sie beschreibt stundenlanges Warten auf dunklen Amtsfluren und eine weinende Mutter, die gedemütigt wird. Sie beschreibt Faschingsfeste, wo andere Kostüme hatten und sie sich im letzten Moment etwas aus der Verkleidungskiste der Einrichtung suchen musste, sie beschreibt das Einkaufen und wie das Geld ab Mitte des Monats nicht mehr reichte. Doch Undine Zimmer lächelt, und der Schalk sitzt ihr in den Augen, wenn sie die andere Seite solchen Elends schildert, wie sie mit ihrer Mutter an ihrem Geburtstag Blumen im Park klaute, wie beide zusammen Phantasie und Witz entwickeln, um sich durch den Tag und den Monat zu bringen, und welche Sehnsüchte und Träume ein solches Kind sich schafft.
Zu Beginn der Lesung packt die Autorin einen Koffer aus, stapelt verschiedene Sachen vorn auf den Tisch: Ballettschuhe, einen Gummifrosch, ein Trinkpäckchen. »Hat jemand vielleicht eine Packung Zigaretten?« fragt sie ins Publikum, sie legt sie dazu, verspricht, sie zurückzugeben. Danach fordert sie die Zuhörer auf, jeweils eine der Sachen zu wählen, dann würde sie die entsprechende Passage aus ihrem Buch lesen. Sofort ruft eine Frau: »Ballettschuhe«. Und Undine Zimmer liest die Episode aus ihrem Buch vor.
Es ist immer ein Wagnis, etwas aus seinem Leben preizugeben, es kann peinlich und selbstbezogen wirken, es kann andere langweilen, kann nach Selbstmitleid klingen. Nicht hier. Nach der Lesung entspannt sich eine lange Diskussion, die Anwesenden erzählen von sich, öffnen sich. Undine Zimmers Buch endet mit dem Befund, dass ihre Eltern ihr Bestes gegeben haben, trotz ihrer Traurigkeit, ihrer Einsamkeit und der vielfachen Demütigungen, die die Gesellschaft für all jene, die ganz unten sind, bereithält – und das von Geburt an. Im Kindergarten, in der Schule oder der Ausbildung immer an Geld denken zu müssen, auf Klassenreisen verzichten zu müssen, all das. Undine Zimmer beschreibt es nüchtern mit etwas Witz und viel Liebe zu ihren Eltern, denen sie mit dem Buch ein Denkmal setzt. Exemplarisch diese Kindheit gegenwärtig für drei Millionen Kinder in Deutschland, denen es ebenso und schlimmer noch geht.
Undine Zimmer: »Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie«, S. Fischer, 256 Seiten, Taschenbuch 9,99 €, gebunden 18,99 €