Jeder Beruf und Stand hat seine besondere Ethik. Auch über Wirtschaftsethik wurde in evangelischen und katholischen Akademien jahrzehntelang gern geplaudert – bis zum Siegeszug des Neoliberalismus. Seitdem sieht alles ganz anders aus. Professor Karl Hohmann, Inhaber eines Lehrstuhls für Wirtschaftsethik in München, sagt es deutlich: »Unsere ethischen Vorstellungen wie Teilen, Mitleid und Solidarität stammen aus der vormodernen Zeit. Heute leben wir unter den Bedingungen des Gewinnstrebens.« Welcher Profitmacher hörte solches nicht mit Freuden, da es zum einen der Wahrheit entspricht und zum andern ihm ein gutes Gewissen verschafft? Die Freude vergrößert sich, wenn Hohmann in diesem Zusammenhang den »marktwirtschaftlichen Wettbewerb« rühmt, der »die Lage der Menschen dramatisch verbessern« könne.
Frohen Herzens und reinen Gewissens kann nun also zum Beispiel Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt im Namen all seiner Verbandsmitglieder verkünden, es könne ethisch geboten sein, die Löhne zu senken und Arbeitnehmer auf die Straße zu setzen, wenn die Marktwirtschaft das verlange, weil es dem Gewinnstreben diene. Auf die Dauer werde das ja die Lage der Besitzlosen und Geringverdienenden »dramatisch verbessern«, wie Fachleute festgestellt hätten. Zu hohe Löhne dagegen seien Gift für die Wirtschaft, und »vorgezogene Weihnachtsgeschenke« wie etwa eine Erhöhung der Renten um einige Promille schadeten der wirtschaftlichen Entwicklung und seien schon deshalb unethisch.
Dasselbe können wir, wenn auch in anderen Worten, schon seit längerem auf Aktionärsversammlungen hören und in Geschäftsberichten großer Unternehmen lesen. Der Chef des Münchener IFO-Instituts und Honorarprofessor für Nationalökonomie, Hans-Werner Sinn, fügt hinzu: »Mit etwas Ungerechtigkeit lebt es sich besser.« Auch das gehört zur neuen Wirtschaftsethik, ebenso wie das bis in die Tage der Bankenkrise immer gern abgelegte Glaubensbekenntnis unserer Bundeskanzlerin: »Es gibt einen Markt, und den muß man ungestört leben lassen.« Und wenn bei Firmenzusammenlegungen Tausende von Menschen entlassen werden, »dann schrumpft sich eben in Deutschland eine Branche gesund«, wie die sogenannten Wirtschaftsweisen sagen.
Aber nicht nur Lehrstühle für die neue Wirtschaftsethik dienen dazu, die Gemeinheiten des kapitalistischen Systems als sittliche Taten zu rechtfertigen. Ihnen gesellt sich die verwandte Sozialethik zu. An der Universität Konstanz ist dafür Professor Friedrich Breyer zuständig, der sich wie der an der Universität Bochum für Moraltheologie verantwortliche Professor Wiemeyer nicht länger mit »vormodernen« Ideen abfinden will. Sie lehren, daß es durchaus der Sozialethik entspricht, wenn 75jährigen Patienten keine teuren Therapien mehr verschrieben werden. Im gleichen Sinne fordert Lüder Gerken, Chef der Stiftung Ordnungspolitik und der Hayek-Stiftung, daß jeder Kranke sich an den Behandlungskosten zu beteiligen habe. »Der Versicherte hätte den Anreiz, nur die ärztlichen Untersuchungen in Anspruch zu nehmen, die wirklich nötig sind.« Und so ist es selbstverständlich auch der reine Ethos, der Professor Friedrich Thießen, den Inhaber eines von der Commerzbank finanzierten Lehrstuhls für Wirtschaft in Chemnitz, ausrechnen läßt, ein Hartz-IV-Empfänger könne mit 132 Euro im Monat auskömmlich leben (s. Ossietzky 19/08).
Gibt es an deutschen Universitäten überhaupt noch Wissenschaftler, die bei Wirtschaftsethik an Verteilungsgerechtigkeit, an Wohlstand für alle, gar an Solidarität denken? Oder sind sie bald alle – in West wie Ost – abgewickelt?