Das »Gedenkjahr 2009«, in dem der »friedlichen Revolution« in der DDR gedacht werden soll (s. Ossietzky 12/2008), rückt näher – die Wahlen zum Bundestag ebenso. Die CDU bereitet sich emsig darauf vor und hat die prächtige Idee, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Beide Ereignisse fest im Blick will sie mit der »Verklärung der DDR« aufräumen und die »Aufklärung über das SED-Unrechtsregime« vorantreiben. Dazu verabschiedete die christlich-demokratische Unionsführung einen Antrag mit dem flotten Titel »Geteilt. Vereint. Gemeinsam. Perspektiven für den Osten Deutschlands«. Anfang Dezember soll der Text, der zugleich als eine der Grundlagen für die bevorstehenden Wahlschlachten vor allem gegen Die Linke dienen soll, in Stuttgart auf dem Parteitag beschlossen werden. Das Thema ist brisant, denn die Gefahr ist groß, und »leider stellen wir«, wie Generalsekretär Ronald Pofalla nach der Verabschiedung des Antrages alarmierte, »heute fest, daß eine Verklärung, ja teilweise sogar eine Geschichtsfälschung mit Blick auf das SED-Unrechtsregime stattfindet«. Das »Vergessen, Verdrängen und Beschwichtigen« dürfe keine Schule machen.
Wie ernst die Lage ist, hat Arnold Vaatz, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in einem Interview für das Berliner Inforadio, zwar untermalt mit zahllosen Stoiberschen »äh«, aber doch unmißverständlich, kundgetan: »Die DDR-Nostalgie schönt in zunehmenden Maße das Bild der DDR und verklärt die Geschichte ... Wir sehen einfach, daß mittlerweile in bezug auf die DDR die Wahrheit verdreht wird, daß sich die Balken biegen.« Deshalb diene die Kampagne »der Richtigstellung des gegnerischen Geschichtsbildes, das aus den Fugen zu geraten droht ... Wer die Wahrheit vergewaltigt, der verdient immer richtiggestellt zu werden.«
Die Richtigstellung ist im höchsten Maße beeindruckend, denn sie erinnert in nahezu unnachahmlicher Weise an die Geschichte selbst, und zwar an die der schwärzesten Zeiten des Kalten Krieges und der späteren berühmten »Rote Socken«-Kampagne. Was CDU-Pastor Hintze damals hastig gestrickt hat, wird jetzt, liederlich gestopft und nach Fußschweiß riechend, wieder auf die Leine gehängt. Die geschichtliche Wahrheit sieht dann im CDU-Papier beispielsweise so aus: »Die DDR wurde unter Führung des SED-Regimes auf Befehl Stalins gegründet und war eine Folge des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg. Walter Ulbricht und seine Parteigenossen unterdrückten rücksichtslos am 17. Juni 1953 mit Hilfe sowjetischer Panzer den Freiheitswillen der Ostdeutschen und ihren Wunsch nach einem wiedervereinten Deutschland. Am 13. August 1961 zementierte der Mauerbau die Teilung Berlins und Deutschlands auf lange Zeit.«
Eine wahrlich tiefschürfende historische Analyse. Als offenbar nebensächlich werden Blockkonfrontation und Kalter Krieg mit keinem Wort erwähnt, desgleichen die Tatsache, daß Westdeutschland bei der Spaltung Deutschlands stets voranging: 1947 und 1948 wurden die westlichen Besatzungszonen zur Bi- und später zur Tri-Zone zusammengeschlossen. Am 20. Juni 1948 wurde die einheitliche Währung aufgespalten und in Westdeutschland und in Westberlin statt der bis dahin gültigen Reichsmark eine separate Währung eingeführt, die die bestehenden Wirtschaftsbeziehungen sprengte. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland erfolgte am 7. September 1949, die der DDR am 7. Oktober des selben Jahres. Am 9. Mai 1955 trat die BRD der NATO bei, fünf Tage danach, am 14. Mai, wurde die DDR Gründungsmitglied des Warschauer Vertrages.
Um so wortreicher ist die Schilderung von Gewalt, Unrecht und wirtschaftlichem Niedergang, den das SED-Regime über Jahrzehnte verschleiert habe. Als Kronzeuge wird der ehemalige Vorsitzende der DDR-Plankommission, Gerhard Schürer, aufgerufen – er wird im kommenden Jahr noch häufig zitiert werden –, der im Oktober 1989 eine »dramatische Verschuldung« im »kapitalistischen Ausland« festgestellt habe. Tatsächlich, die Verschuldung war beträchtlich, sie hing wie ein Bleigewicht am Hals der DDR-Wirtschaft. Laut Angaben der Bundesbank betrug sie zwölf Milliarden Dollar, also nach heutigem Kurs rund 8,5 Milliarden Euro. Eine gewaltige Summe, aber ein Blick auf die Berliner Schuldenuhr zeigt, daß dieser Betrag gerade einmal ein halbes Prozent der heutigen Staatsverschuldung der Bundesrepublik darstellt.
Um die »Mißwirtschaft des SED-Regimes« zu belegen, mangelt es der Union nicht an lebhafter Phantasie. Einfallsreich behauptet sie zum Beispiel, daß »es in der DDR bereits im letzten Jahr ihres Bestehens eine verdeckte Arbeitslosigkeit von 1,4 Millionen Menschen« gegeben habe, was »einer Arbeitslosenquote von ca. 16 Prozent« entspreche. Ja, wo die Verfasser des Kampagne-Papiers Recht haben, haben sie Recht. Die Arbeitslosigkeit hatte ein so schauriges Ausmaß, daß gerade in den 1980er Jahren in der DDR händeringend nach Arbeitskräften gesucht, nahezu an jedem Werktor um »Arbeitskräfte aus der nichtberufstätigen Bevölkerung« gefleht und mit befreundeten Staaten, darunter Polen, Ungarn, Vietnam und Kuba, die Entsendung von Arbeitskräften vereinbart wurde.
Da sich die CDU offenbar bewußt ist, daß der angeführte und anderer Unsinn nur schwer denen zu vermitteln ist, die die DDR erlebt haben, gilt ihre Aufmerksamkeit besonders den nachwachsenden Generationen. Kategorisch fordert sie: »Die Geschichte der deutschen Teilung und der SED-Diktatur müssen zentraler Inhalt des Schulunterrichts in ganz Deutschland werden.« Deshalb fordert die Union das SED-Unrecht und die friedliche Revolution als verbindliche Unterrichtsinhalte in die Rahmenpläne des Fachs Geschichte der Sekundarstufen I und II aufzunehmen, den Schülern Fahrtkostenzuschläge zu gewähren, damit sie sich an authentischen Plätzen, »in den Stasi-Gefängnissen, an Grenzübergängen und in Gedenkstätten«, ein eigenes Bild von den Zuständen in der DDR verschaffen können. Um die bedauerlichen Wissenslücken über das Elend in der DDR auch mit den Waffen der Wissenschaft zu schließen, schlagen die CDU-Granden vor, einen Lehrstuhl zur Erforschung und wissenschaftlichen Aufarbeitung des »SED-Unrechtsregimes« an einer Berliner Universität einzurichten.
Andere Lücken werden dafür gern hingenommen. Die Angaben über die erfolgreiche Entwicklung in Ostdeutschland nach dem Sieg der Revolution und dem Umbau der DDR zu den neuen Bundesländern sind spärlich. Zwar wird eingestanden, daß eine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung noch nicht erreicht wurde, was aber nicht sonderlich verwundern kann, denn »auch im zweiten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung leidet die wirtschaftliche Entwicklung an den Folgen der sozialistischen Mißwirtschaft und der deutschen Teilung«. Um so höher ist zu bewerten, daß »beim Aufbau der neuen Länder Großartiges geleistet« wurde. Das Geleistete ist so grandios, daß die CDU auf kleine Mängel wie Deindustrialisierung, Überschuldung von Ländern und Gemeinden, Vergreisung und Verödung ganzer Landstriche, Abwanderung von 1,5 Millionen Menschen auf der Suche nach Arbeit, Massenarbeitslosigkeit, Diskriminierung der Ostdeutschen bei Tariflöhnen und Rente, Kinder- und Altersarmut gar nicht erst eingehen muß. Wenn es darum geht, im Gedenk- und Wahljahr der »Verklärung der DDR« den Kampf anzusagen und die »Aufklärung über das DDR-Unrechtsregime« zu verstärken, dann sollen solche Belanglosigkeiten die Erfolgsbilanz der zurückliegenden zwei Jahrzehnte nicht trüben.
Allerdings weist das CDU-Grundsatzpapier doch einen gravierenden Mangel auf: Es nennt die DDR noch immer DDR, statt sie wie einst in Anführungszeichen zu setzen oder sie schlicht und einfach wieder Ostzone oder »Zoffjett-Zone« (Adenauer) zu nennen. Aber keine Bange, wenn die Aufklärung erfolgreich voranschreitet, dann wird auch diese kleine, aber notwendige Änderung vorgenommen werden.