Was meinte der Bundespräsident, als er am Tag der Einheit dazu aufrief, wir sollten beim Rückblick auf den Vereinigungsprozeß »nicht länger so tun, als sei alles immer nur richtig gewesen«? Dachte er vielleicht an Helmut Kohls Versprechen, auf dem verödeten Boden der ehemaligen DDR würden nun »blühende Landschaften« entstehen? Schon möglich. In welcher anrüchigen Nachbarschaft sich Kohl mit seiner Sprechblase bewegte, ist bislang niemandem aufgefallen: Hitler bediente sich einer ähnlichen Ausdrucksweise, als er am 6. Oktober 1939 vor dem Reichstag den Überfall auf Polen unter anderem mit den Worten rechtfertigte, die einst blühenden ehemaligen preußischen und österreichischen Provinzen, die Polen 1919 übernommen habe, seien im Begriff gewesen, »wieder zu versteppen«.
Aber lassen wir Kohl mal beiseite. Es gibt schlimmere Dinge, über die nach 18 Jahren endlich geredet werden sollte, wenn der Bundespräsident schon dazu aufruft, den Vereinigungsprozeß kritisch unter die Lupe zu nehmen: Dinge, die das Vertrauen in den Rechtsstaat berühren und die innere Aussöhnung des deutschen Volkes behindern.
Zum Beispiel sollten die politisch Verantwortlich nicht länger so tun, als sei alles richtig gewesen, was die bundesdeutsche Justiz bei ihrer Strafexpedition gegen Hoheitsträger der DDR unternommen hat. Leider haben bis heute nicht einmal professionelle Beobachter des Zeitgeschehens zur Kenntnis genommen, daß die Beteiligten in Politik und Justiz damals einen wesentlichen Grundsatz des Strafrechts aller Kulturnationen rigoros beiseite geschoben haben, das Verbot rückwirkenden Bestrafens. So behauptet der Historiker und Politikwissenschaftler Lothar Gruchmann nach einem Rückblick auf das Nazigesetz vom 29. März 1933, das den in der Weimarer Verfassung und im Strafrecht verankerten Grundsatz »Nulla poena sine lege« außer Kraft setzte, erleichtert und ahnungslos, wenn nicht wider besseres Wissen, von derart gravierenden Eingriffen in den Rechtsstaat sei die Bundesrepublik Deutschland »weit entfernt«.
In der Süddeutschen Zeitung vom 25. August 2008 schreibt Gruchmann, mit der bewußten Verletzung dieses fundamentalen Grundsatzes hätten die Nazimachthaber eine qualitative Schwelle der Strafgesetzgebung überschritten, was heißen soll, damit hätten sie Unrecht gesetzlich sanktioniert. Genau diese Schwelle hat auch die bundesdeutsche Justiz überschritten, als sie diesen in Artikel 103 des Grundgesetzes verankerten Grundsatz für ehemalige Bürger der DDR außer Kraft setzte. In dem Verfahren gegen den ehemaligen DDR-Richter Reinwarth rechtfertigte der Bundesgerichtshof am 16. November 1995 den Verfassungsverstoß mit dem Hinweis, mit seinen Todesurteilen wegen Spionage habe Reinwarth die Menschenrechte auf unerträgliche Weise verletzt, deswegen komme hier der Vertrauensschutz des Artikels 103 Absatz 2 nicht zum Zuge.
Ergänzend führte das Bundesverfassungsgericht am 24. Oktober 1996 in dem Verfahren gegen drei Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR aus, das strikte Rückwirkungsverbot des Artikels 103 des Grundgesetzes gelte nur bei jener »besonderen Vertrauensgrundlage«, die ein an die Grundrechte gebundener demokratischer Gesetzgeber mit seinen Strafgesetzen geschaffen habe. Da dies in der DDR nicht der Fall gewesen sei, müsse der strikte Schutz von Vertrauen durch Artikel 103 Absatz 2 zurücktreten. Damit waren ehemalige Bürger der DDR pauschal unter Ausnahmerecht gestellt. Mit seiner Haltung verstieß das Bundesverfassungsgericht gegen eine Entscheidung, die es am 10. Januar 1995 in einem Rechtsstreit um Sitzdemonstrationen gefällt hatte. Darin hieß es, die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten müsse »im voraus vom Gesetzgeber und nicht erst nachträglich von der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt gefällt« werden.
Dieselbe bundesdeutsche Justiz, die keinen einzigen Nazi-Blutrichter rechtskräftig verurteilt hat, setzte gegenüber DDR-Richtern auch andere Rechtpositionen außer Kraft. Bekanntlich kann ein Richter strafrechtlich nur belangt werden, wenn ihm vorsätzliche Rechtsbeugung nachgewiesen wird. Den ehemaligen DDR-Richtern wurde dieser Vorsatz generell unterstellt, während die Nazi-Richter nur zu erklären brauchten, niemals vorsätzlich gegen ein Gesetz verstoßen zu haben. In seinem freisprechenden Urteil gegen den SS-Richter Thorbeck, der kurz vor Kriegsende die Widerstandskämpfer um Admiral Canaris und Pastor Bonhoeffer zum Tode verurteilt hatte und hinrichten ließ, hielt der Bundesgerichtshof dem Angeklagten zugute, daß er den damals geltenden Gesetzen unterworfen gewesen sei. Auch vom Recht eines jeden Staates auf Selbsterhaltung war die Rede. Von all dem kein Wort, als es darum ging, an den Richtern der DDR ein Exempel zu statuieren.
Wahrlich, die Wortführer der deutschen Gesellschaft sollten nicht länger so tun, als sei alles immer nur richtig gewesen, was nach dem Fall der Mauer passiert ist. Andernfalls bleibt alles Schall und Rauch, was bei diesem oder jenem Gedenktag an Lobpreisungen auf uns herabregnet, auch Horst Köhlers schöner Satz vom 3. Oktober, das Gute an Deutschland sei vor allem, »daß wir gelernt haben aus der Geschichte«.
Die Redaktion empfiehlt in diesem Zusammenhang Conrad Talers Buch »Zweierlei Maß«, das mit einem Vorwort von Heinrich Hannover im PapyRossa Verlag erschienen ist.