In den USA witzelt man, Delaware, der zweitkleinste Bundesstaat, bestehe aus drei Kreisen, aber nur bei Ebbe; bei Flut blieben gerade noch zwei. Doch in den Medien ist Delaware ganz oben und wird da wohl zumindest bis zur Kongreßwahl am 2. November bleiben.
Es geht um Christine O’Donnell (41), die sich gegen die eigene Republikanische Partei als Kandidatin für den Sitz im Senat durchgesetzt hat und nun den Kandidaten der Demokraten schlagen will. Das wird schwierig. O’Donnell gilt als sehr hübsch. Ansonsten sprechen für sie nur die guten Worte und Dollars von Sarah Palin, die 2008 Vizepräsidentin werden wollte. Außerdem betont die Dame aus Delaware immer, daß Jesus ihr fest zur Seite steht. Und die Bibel.
Unglücklicherweise entdeckte ein Fernsehmoderator alte Aufnahmen von O’Donnell, die sich da als junge, aber schon eifrige Christin an ein Tabuthema gewagt hatte: »Die Bibel sagt, Lust empfinden sei Ehebruch. Man kann nicht masturbieren, ohne Lust zu empfinden.« Also verstoße Sex außerhalb der Ehe, auch allein praktiziert, gegen das sechste Gebot, sei also ein »No-No«. Das gab ein Medienfest! Ein Blogger zeigte ein (gefälschtes) Foto von Tausenden Demonstranten, die auf bunten Transparenten bekundeten, sie würden sich ihr Recht auf Selbsthilfe nicht nehmen lassen.
O’Donnell blamierte sich weiter: Evolution sei »ein Mythos.« Warum sonst hätten sich die Affen nicht weiter entwickelt?
Dann grub der Moderator Nichtchristliches aus, und sie bestätigte: In jungen Jahren habe sie »ein wenig mit Hexerei experimentiert. Ich bin nie einem Hexenbund beigetreten, habe mich aber mit Menschen eingelassen, die solche Dinge machten ... Eines meiner ersten Rendezvous hatte ich mit einem Hexenmeister.« Und sie gab auch ein »Mitternachtspicknick auf einem satanischen Altar« zu. Für die Medien war das höchst reizvoll, für führende Republikaner nur peinlich – vorallem als sich obendrein O’Donnells feine Hochschulreferenzen als falsch erwiesen.
Wird die Kandidatin viele Wähler abschrecken? Das wäre schädlich für die Partei, die sehnlich hofft, die Mehrheit im Repräsentantenhaus und im Senat zu erobern. Wer die Mehrheit besitzt, erhält den Vorsitz in allen Ausschüssen und Unterausschüssen, wo reale Politik gemacht wird. Dann könnten die Republikaner auch Obamas schüchterne Fortschritte – mehr waren es bisher nicht – noch wirksamer bremsen und seine Chancen zur Wiederwahl 2012 endgültig demolieren. Da jeder Bundesstaat, ob klein oder groß, zwei Sitze im Senat hat, ist auch Delaware wichtig. Bei der Wahl der 435 Repräsentanten wiegen einzelne Sitze nicht ganz so schwer, aber hier und da sind spannende Rennen und knappe Ergebnisse zu erwarten.
Manche Republikaner gehören zur »Tea Party«-Bewegung: laut, nationalistisch, sehr fromm, argwöhnisch – eben solche wie O’Donnell. Oder Sharron Angle aus Nevada. Auch sie will die Abtreibung verbieten. Gefragt, ob ein vom Vater vergewaltigtes Mädchen abtreiben dürfe, sagte sie nein: »Zweimal Unrecht schafft keinmal Recht« – auch dafür habe »Gott einen Plan«.
Der Parteirat rümpft die Nase über die verrücktesten Kandidaten und teilt die Wahlkampfgelder entsprechend aus, doch alle sind sie sich einig in ihrem Eifer gegen jede Gesundheitsreform wie auch gegen höhere Steuern für Millionäre und Milliardäre; sie wollen das Bildungssystem und das Rentensystem privatisieren und Hilfen für die Ärmsten abschaffen; sie hetzen gegen »illegale Einwanderer«, vor allem die Latinos, obwohl viele Unternehmer diese billigen Arbeitskräfte erbarmungslos ausbeuten. Zunehmend agitieren sie auch gegen Muslime.
Und selbstverständlich stimmen sie im Haß gegen den Präsidenten überein: Obama sei kein Amerikaner, sondern stamme aus Kenia, er sei kein Christ, sondern – oh Schreck – ein Moslem. Vor allem zwei Männer verspritzen täglich im Funk und Fernsehen stundenlang ihre Lügen. Russ Limbaugh spricht von »Ayatolla Obama«. Und Glenn Beck verkündet Millionen von meist frommen, älteren, weißen Kleingeistern mit Hilfe von Kreide, Tafel und beinahe echten Tränen nicht nur, dass unser Klima keineswegs gefährdet sei und man im Ozean ungehindert nach Öl bohren müsse, sondern verbreitet auch Obama sei Rassist und hasse Weiße (also wohl auch seine eigene Mutter und seine Großeltern), zudem sei er Sozialist, Kommunist, Nazi – egal, wenn es das Publikum nur erschreckt. Diese Schimpfwörter sind bei Tea-Party-Veranstaltungen auf Plakaten zu sehen. Millionen Menschen im Lande richten sich völlig nach Limbaugh und Beck.
Hinter diesen Volksverhetzern und ihren Nachahmern stehen unbemerkt die unvorstellbar reichen Erdöl-, Rüstungs-, Versicherungs-, Pharma- und Finanzherren, die ihre Marionetten mit Millionenbeträgen versorgen. Nach einer Entscheidung des Obersten Gerichthofs dürfen ihre Firmen als »juristische Personen« anonym bleiben.
Starken Einfluß auf die Politik nimmt der Brauereikonzern Coors aus Colorado. Noch mächtiger, wenn auch kaum bekannt, ist die Erdölfirma der Brüder Charles und David Koch, die acht- und neunstellige Summen an Think-Tanks und Lobby-Gruppen mit allerlei wohlklingenden Namen verteilt. Sie gilt als Gründerin der Tea-Party-Bewegung und finanziert sie wohl bis heute. Die Kochs fördern alles, was reaktionär ist, vor allem die Leugnung jeglicher Umweltgefahren. Mit Glenn Beck stehen sie sich gut und er wiederum mit dem Besitzer des Fox-Fernsehkanals, Rupert Murdoch, dem neben seinem riesigen Medien-Besitz in England und seiner Heimat Australien auch das Wall Street Journal gehört, das auflagenstärkste Blatt in den USA, sowie die New York Post, die der Bild-Zeitung ähnelt. Alle Murdoch-Medien kennen bei ihren Attacken auf Obama keinerlei Schamgrenzen.
Die fortschrittlichen Kräfte sind wie üblich zerstritten. Manche haben Obama längst aufgegeben: wegen Afghanistan, wegen des Verrats an Honduras, wegen der dürftigen Gesundheits- und Finanzreform, wegen der nicht eingehaltenen Versprechen an die Gewerkschaften und die Einwanderer, wegen der unterlassenen Abkehr von Bushs Außenpolitik und wegen Nichtbestrafung der Schuldigen. Zu oft sei er vor jenen Geldriesen eingeknickt, die mit Wahlspenden und Lobbyistenhorden die US-amerikanische Politik dominieren
Andere zählen dagegen einige gute Taten auf und warnen beschwörend: Falls die Republikaner die Mehrheit in einer oder gar beide des Kongresseskammern gewinnen, werde der Weg zum Weißen Haus für jemand wie Sarah Palin geebnet, und dann drohe dem Land der Absturz in die schrecklichste Reaktion, schlimmer noch als unter Bush. Kurz: Man müssen gegen die Republikaner und darum für die Demokraten kämpfen, auch wenn das bei vielen von ihnen nur mit zugehaltener Nase möglich ist.
Am 2. Oktober versammelten sich in Washington mehr als hunderttausend Menschen. 400 Organisationen nahmen teil, von Umweltschützern bis zu Kommunisten. Viele betonten, vorrangig müßten jetzt alle gegen die Republikaner kämpfen. Andere forderten den Zusammenschluss aller fortschrittlichen Kräfte zu einer von der Demokratischen Partei unabhängigen Bewegung. Wenn Obama wirklich gekämpft hätte, meinten sie, würden viele Menschen wählen gehen, die nun verärgert oder apathisch zu Hause blieben. Die Demokraten seien eben keine fortschrittliche Partei. Als jemand erwiderte, ganz so gefährlich wie die Republikaner seien die Demokraten nun wieder nicht, ging die Diskussion von vorn los.
Diese Debatte über das vermeintlich oder tatsächlich kleinere Übel ist schon sehr alt. Wird uns die Wahl am 2. November zu neuen Einsichten verhelfen?