erstellt mit easyCMS
Titel2110

Big Society der Ungleichen  (Johann-Günther König)

Die britische Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten verfolgt weitreichende Ziele. Regierungschef David Cameron hat sich fest vorgenommen, das »New Labour« abspenstig gewordene Königreich in eine »Big Society« zu verwandeln. Dieser »Plan von atemberaubender Reichweite« (Wall Street Journal) soll das Land zu einem von staatlichen Leistungen und Diensten möglichst unabhängigen Dorado des Kapitals machen (s. Ossietzky 19/10).
Vor 150 Jahren – im Frühjahr 1860 – rissen Londoner Bauarbeiter ein riesiges Loch in den Boden der Metropole, um einen ganz anderen Plan von atemberaubender Reichweite in die Tat umzusetzen: den Bau der ersten U-Bahn-Linie »Metropolitan Railway«. Die Straßen der damals weltgrößten Stadt verwandelten sich in eine gigantische Großbaustelle, viele Straßenzüge mit historisch enger Bebauung wurden kurzerhand abgerissen. Die erste, schon 1863 eröffnete Untergrundbahn-Linie führte vom Fernbahnhof Paddington nach Farringdon. Sie ermöglichte mit den dann rasch folgenden weiteren Linien (»Circle«, »District« und so weiter) ein schnelles Wachstum der Vorstädte, weil sie das Pendeln und nicht zuletzt »Shoppingtouren« in die Innenstadt erleichterte. Heute ist das von viktorianischen Ingenieuren entwickelte erste U-Bahnnetz der Welt mit inzwischen elf Linien 402 Kilometer lang, hat 270 Bahnhöfe und ist nicht frei von Störfällen; in die alten Linien wurde jahrzehntelang viel zu wenig investiert.
An dieses gewaltige Projekt erinnert mich nun die in einem ersten Testbetrieb laufende Umgestaltung des Königreiches in eine »Big Society«, sprich: der Rückzug des Staates aus diversen Lebensbereichen. So gut wie sicher scheint mir jedoch, daß der Versuch, die staatlichen Verwaltungskosten in Bereichen wie Bildung und Sozialhilfe dadurch rapide zu reduzieren, dass man den Bürgerinnen und Bürgern immer mehr Eigeninitiative und Selbstverantwortung abverlangt, weil sie angeblich effizienter und qualitativ besser als der Staat agieren, schief gehen muß. Die bereits vor der Finanz- und Wirtschaftskrise schreiende Not großer Teile der Bevölkerung läßt sich durch verstärktes ehrenamtliches Engagement ganz gewiß nicht lindern.
Die Hilfsorganisation Oxfam stuft gegenwärtig 13 Millionen Briten als arm ein – das ist ein gut Fünftel der Bevölkerung. Schwere Kinderarmut herrscht laut unabhängigen Schätzungen in 1,7 Millionen Haushalten. Laut Sir Michael Marmot, einem Berater der Weltgesundheitsorganisation, muß die Regierung vorrangig die klaffende Schere zwischen Arm und Reich schließen. Bei der Einschulung betrage der Entwicklungsunterschied zwischen reichen und armen Kindern bereits ein Jahr. Auch verweist er auf die auseinanderdriftende Lebenserwartung auf der Insel. Während Männer in den reichen ländlichen Gegenden des Südens durchschnittlich 82 Jahre alt werden, haben sie in Städten wie Glasgow lediglich 73 Lebensjahre zu erwarten.
Briten, die in den vielen armen Gemeinden Großbritanniens leben, leiden laut Marmot an einem »tödlichen Mix« aus Arbeitslosigkeit, Kriminalität, schlechter Ernährung, Bewegungsmangel, Alkoholproblemen und Drogenmißbrauch. Wenn die Regierung demnächst die Sozialausgaben dermaßen kürzt wie geplant – der neue Haushalt wird in diesen Tagen verkündet –, wird sich die Armut zweifellos vergrößern, wie die Ökonomen des renommierten »Institute for Fiscal Studies« bereits mahnend vorrechnen. Die großspurig angekündigte Ausweitung der ehrenamtlichen Arbeit im Sozial- und Bildungsbereich wird zur weiteren Verarmung beitragen, denn sie wird vor allem junge Menschen aus dem bezahlten Arbeitsmarkt verdrängen. Die sogenannten »volunteers« und auch Praktikanten haben keinen Anspruch auf den nationalen Mindestlohn, obwohl sie schon seit längerem gezwungen sind, »full-time« und unbezahlt an Verwaltungs- und anderen Arbeitsplätzen ihr Bestes zu geben. Die Non-profit-Unternehmen, Stiftungen, Glaubensgemeinschaften, Universitäten und Privatschulen können sich folglich für die von der Regierung nun ermöglichte Ausweitung der Selbstverwaltung künftig aus einem Pool arbeitsuchender junger Menschen bedienen, die nichts kosten, aber darauf angewiesen sind, berufliche Erfahrung zu erlangen.
Der Staat soll zugunsten der »Big Society« in den kommenden Jahren deutlich »schlanker« werden. Wenn die Einkommen eines bedeutenden Teils der Bevölkerung dabei im gleichen Maße schrumpfen, wird daraus eine »Bad Society« werden. Ich werde weiter darüber berichten.