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Titel2110

Ungezügelte Weltbühne  (Otto Köhler)

Wie der Präses der Kulturbehörde (s.o.) so die Präses der Behörde für Wissenschaft und Forschung. Es ist dasselbe kulturfeindliche Hanseatenpack. Die Hamburger Senatorin Herlind Gundelach (CDU) hat am 5. August in der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky – ohne daß sie hinausgebeten wurde – in ihrem »Grußwort« die Autoren der Weltbühne wegen »ungezügelter Kritik an der parlamentarischen Demokratie« für das Scheitern der Weimarer Republik verantwortlich gemacht.

Anlaß war die Eröffnung der Ausstellung zum 125. Geburtstag des Weltbühne-Autors Kurt Hiller (Wolfgang Beutin hat ihn am 7. August in Ossietzky gewürdigt). Schon 1933 wurde – das mag die Wissenschaftssenatorin beruhigen – der ungezügelte Hiller im Columbia-Haus von den Nazis ausgepeitscht und ins Gesicht geschlagen. 1934 gelang es ihm, nach London zu fliehen, und 1955 kam er – wohl immer noch zu früh – aus dem Exil zurück, nach Hamburg.

Ich schäme mich nicht nur für diese Wissenschaftssenatorin. Sondern auch für mich selbst. Zum einen, weil ich bei meinen gelegentlichen Besuchen in der Universitätsbibliothek stets eilig an der Ausstellung vorbeilief, bis sie am 26. September offiziell geschlossen worden wäre. Doch sie ist nun bis zum 31. Oktober verlängert. Und es gibt manches zu sehen.

Viele Briefe an Zeitgenossen. Zwei aus seinen letzten Jahren fielen mir auf. Am 16. Juni 1968 schrieb Hiller »mit verbindlichsten Grüßen« dem Axel Caesar Springer einen Brief: Die Parole »Enteignet Springer« sei »lächerlich, pueril und unhaltbar«, schließlich hätte man dann eine Pressefreiheit »wie im Osten«. Hiller fragt: »Aber setzt es Sie in Erstaunen, daß jene alberne Parole aufkommen konnte?« Er könne darüber nicht verwundert sein, wenn er zur Kenntnis nähme, was Martini, Mohler und Schlamm in seiner Welt schrieben. Darum Hillers Idee: Springer solle als Gegengewicht ein »Linksblatt (ohne obsolete Doktrin)« herausgeben, eine Tageszeitung »in der Gesinnung des Berliner Tageblatts oder der Weltbühne vergleichbar«. Hiller: »Ich wage den paradoxen Vorschlag. Tun Sie es doch: Es ist Ihnen vielleicht nicht zuzumuten. Aber es ist Ihnen zuzutrauen.«

Die Ausstellung vermerkt lakonisch: Springer ließ Hillers Brief »durch einen Mitarbeiter abschlägig beantworten.«

Drei Jahre früher hatte ein anderer auf einen anderen Brief reagiert. Rudolf Augstein antwortete, das Thema sei ihm »so unangenehm«, daß er ihm »reichlich spät« (nach sieben Wochen) antworte, »weil ich selber fühle, es müsse etwas geschehen«. Er, Augstein, glaube aber nicht an seine eigenen Fähigkeiten, und: »Ich kann nichts unternehmen, von dessen Mißlingen ich überzeugt bin«, vor allem dürfe man »die organisatorische Arbeit nicht unterschätzen«. Was war’s? Kurt Hiller hatte Rudolf Augstein, damals schon lange Mitglied der von Nazis unterwanderten FDP, später sogar deren Bundestagsabgeordneter, vorgeschlagen, »eine neue sozialistische Partei zu gründen«.
Zum anderen aber schäme ich mich, weil ich einen Brief unbeantwortet ließ, den er mir ins Spiegel-Haus schrieb; damals, Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger, war ich Medienkolumnist des Blattes. Ich hatte mich über den Brief gefreut, Hillers Buch »Köpfe und Tröpfe« (1950) hatten mich als 16jährigen ebenso geprägt wie die rororo-Tucholsky-Bände. Aber ich bin kein Briefeschreiber; weil ich nie ihre Briefe beantwortete, kam Monika (s.o.) vor 47 Jahren von Berlin nach Frankfurt und heiratete mich kurzerhand. Aber diese Lösung empfiehlt sich nicht für alle, die mir Briefe schicken. Ich weiß nicht mehr, was Hiller mir schrieb, ich weiß nur noch, daß ich zu lange überlegte, wie ich ihm antworten soll. Da war Kurt Hiller schließlich am 11. Oktober 1972 tot.

Mein Chefredakteur erzählt mir, daß Hiller in seiner Hamburger Wohnung, anders als ich, vorbildlich Ordnung hielt. Vielleicht gelingt es der Kurt-Hiller-Gesellschaft, die seinen Nachlaß betreut, die Kopie seines Briefes zu ermitteln. Dann antworte ich, versprochen. Es ist ja seither noch nicht mal ein ganzes Halbjahrhundert vergangen.