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Bedrohung oder Diskriminierung  (Rolf Geffken)

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt wurde Rußland wiederholt unterstellt, es beabsichtige auch gegen die baltischen Staaten militärisch vorzugehen. Die NATO und die USA nahmen dies zum Anlaß, dort verstärkt militärische Einsatzbereitschaft zu demonstrieren. Die Regierungen der baltischen Staaten, vor allem die estnische, betonen immer wieder, daß sie ohne Schutz der NATO Annexionsabsichten Rußlands ausgeliefert seien. Was ist dran an diesen Befürchtungen? Und was ist der mutmaßliche Grund für die ständige Beschwörung einer angeblich russischen Bedrohung der baltischen Staaten?

Zunächst: Alle baltischen Staaten verfügen nur über sehr kleine Streitkräfte. Ein Angriff Rußlands wäre militärisch äußerst leicht durchzuführen. Rußland hat aber zu keinem Zeitpunkt eine militärische Intervention auch nur angedeutet. Zudem sind die baltischen Staaten NATO-Mitglieder. Ein Angriff auf deren Territorium würde die Gefahr eines Weltkrieges heraufbeschwören und wäre für Rußland ein unkalkulierbares Risiko. Warum wird dennoch diese angebliche Bedrohung immer wieder beschworen?

Ein wesentlicher Grund dafür dürfte rein innenpolitischer Natur sein. Die baltischen Staaten – vor allem Lettland und Estland – verfügen über eine bedeutende russischsprachige Minderheit. An sich wäre dies kein Grund für innenpolitische Konflikte mit außenpolitischen Folgen. Vor allem wenn man bedenkt, daß die baltischen Staaten EU-Mitglieder sind und die EU bekanntlich die Rechte und den Schutz nationaler Minderheiten auf ihren Schild gehoben hat.

Doch die Lage der russischen Minderheiten ist in den baltischen Ländern »hausgemacht«. Zum einen handelt es sich begrifflich kaum um eine wirkliche »Minderheit«. Bei der Abspaltung von der Sowjetunion war etwa die Hälfte (!) der Bevölkerung Estlands und Lettlands russischsprachig. Auch heute noch sind russischsprechende Bürger in den großen Städten etwa Lettlands sogar in der Mehrheit.

Obwohl es sich also eigentlich um Zwei-Sprachen-Länder handelt, werden der russischen Bevölkerung grundlegende Bürgerrechte verweigert. Sie besitzt kein Wahlrecht. Ihr Recht auf politische Betätigung ist eingeschränkt, Namen müssen der »Staatssprache« anpaßt werden, und für die »Einbürgerung« bestehen nach wie vor erhebliche Hürden. Das Bildungs- und Hochschulsystem grenzt faktisch und rechtlich russischsprachige Bürger aus. Für bestimmte Berufe und vor allem im öffentlichen Dienst bestehen Eingangsvoraussetzungen, die Angehörige dieser sogenannten Minderheit nur selten erfüllen können. Unter dem Vorwand eines angeblichen »Schutzes« der ehemals unterdrückten »Staatskultur« und »Staatssprache« wird einem großen Teil der Bevölkerung die Loyalität abgesprochen. Dieser Teil der Bevölkerung ist rechtlich und faktisch staatenlos und soll auf diese Weise zur Auswanderung nach Rußland veranlaßt werden.

Es erscheint deshalb wenig verwunderlich, daß russischsprachige Bürger aus Lettland und Estland nicht nur äußerst unzufrieden mit ihrer Lage sind, sondern sogar junge russischsprachige Bürger inzwischen als »Freiwillige« in der Ostukraine kämpfen. Nach einer langen Periode des Schweigens nehmen sie zunehmend ihre Rechte insbesondere auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wahr. In einer Reihe von Fällen, so etwa bei Ausweisungen und der Aberkennung politischer Mandate waren sie bereits erfolgreich. Doch ist unverkennbar, daß vor allem Estland und Lettland weiterhin zentrale völkerrechtliche Bestimmungen verletzen. So vor allem die Rahmenkonvention zum Schutze der Minderheiten, aber auch die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Charta. Der UN-Sonderberichterstatter für Rassismus kritisierte wiederholt die hohen Einbürgerungshürden und die doppelt (!) so hohe Arbeitslosigkeit der russischsprachigen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung. Die EU forderte Estland auf, die EU-Richtlinie über Rassengleichheit in nationales Recht umzusetzen. Doch anstatt sich den Regeln dieser »Wertegemeinschaft« zu fügen, setzte vor allem Estland schon vor dem Ukraine-Konflikt auf aggressive Verschwörungstheorien. So griff, wie Amnesty International bereits im Länderreport Estland 2009 berichtete, die offizielle Polizeibehörde des Landes das Juristische Informationszentrum für Menschenrechte, eine Nichtregierungsorganisation, an und unterstellte Rußland, über dieses Zentrum »wissenschaftliche Forschungen zu Propagandazwecken« durchzuführen. Außerdem wurde ohne jeden Beleg dem Zentrum unterstellt, es verheimliche seine »Finanzierung aus russischen Quellen«.

Umso erstaunlicher und unverständlicher ist es, daß besonders die EU Kritik an der unhaltbaren Diskriminierung in Estland und Lettland nur verhalten äußert. Sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (der gar kein Organ der EU ist) bezeichnete das Ziel Lettlands, den »Schutz der Staatssprache« zu garantieren, als »legitim« (um auf diese Weise eine »Lettisierung« der Namen zu rechtfertigen). Demgegenüber wird versucht, Kritik an den Zuständen ausgerechnet Rußland anzulasten. So wird in einem Arbeitspapier der Forschungsgruppe Osteuropa der Stiftung Wissenschaft und Politik vom September 2013 Rußland die »Instrumentalisierung der Menschenrechte« unterstellt, weil es sich wiederholt bei den verschiedenen internationalen Institutionen über die Diskriminierung der russischsprachigen Minderheit beschwert habe. Das fehlende Wahlrecht bezeichnen die Experten der Stiftung als nur »sekundär«. Die Vorschriften in der Charta der EU gegen Diskriminierung seien »für den Minderheitenschutz ungeeignet«. Die Absicht, auf diese Weise die Völkerrechtsverstöße der baltischen Regierungen zu verharmlosen, ist unverkennbar. Die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen sei nicht anwendbar, weil sie von Estland und Lettland nicht unterzeichnet und nicht ratifiziert seien. Man fragt sich dann aber, warum die Länder nicht ultimativ aufgefordert wurden, dies immerhin fast 25 Jahre nach dem Ausscheiden aus der Sowjetunion zu tun. Geradezu abenteuerlich ist die Behauptung, daß etwa die estnische Regierung »mit der estnischen Sprache als Zentrum staatlicher Identifikation« Kompromißbereitschaft gegenüber den Belangen der Minderheiten reflektiere. Also: Seit wann kann man durch den Zwang zur Assimilation »Kompromißbereitschaft« gegenüber Minderheiten signalisieren?

Bei alldem darf nicht vergessen werden, daß die Angehörigen der russischsprachigen Minderheit in den baltischen Staaten geboren wurden und zunächst in dem Glauben aufwuchsen, dies sei auch ihre Heimat (die Sowjetunion). Aber die Zugehörigkeit dieser Staaten zur Sowjetunion wird retrospektiv pauschal als »Okkupation« eingestuft, und gut die Hälfte der Bevölkerung wird dafür heute immer noch haftbar gemacht.

Zusätzlich bedeutet die nun schon über zwei Jahrzehnte anhaltende Ausgrenzung der russischsprachigen Minderheit zugleich deren soziale und ökonomische Diskriminierung. Die anhaltende Diskriminierung hat tendenziell auch zur Verelendung dieses Bevölkerungsteils geführt. Das sich daraus ergebende Konfliktpotential wird von den dortigen Regierungen bewußt in Kauf genommen.

Die Diskriminierung der russischsprachigen Minderheit verstößt gegen alle geschriebenen und ungeschriebenen Normen des Völkerrechts und der menschlichen Zivilisation. Die verbalen Angriffe gegen Rußland sollen von diesem Sachverhalt offensichtlich ablenken. Die EU täte gut daran, endlich effektiv gegen diese Diskriminierung einzuschreiten, anstatt den Bedrohungsszenarien zu Lasten Rußlands weiter Glauben zu schenken.

Dr. Rolf Geffken ist seit 37 Jahren Fachanwalt für Arbeitsrecht und seit 20 Jahren Leiter des Instituts für Arbeit – ICOLAIR in Hamburg. Er führte zahlreiche Forschungsaufenthalte zu Arbeitsbeziehungen und Menschenrechten in China, Indien und Rußland durch. Zur Zeit arbeitet er an einem die baltischen Staaten betreffenden Forschungsprojekt.