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Faschismus – ein hierzulande entsorgter Begriff  (Kurt Pätzold)

Vor einigen Jahren war Studenten der Humboldt-Universität zu Berlin aufgegeben worden, zum nächsten Seminartermin einen Text von Carl von Ossietzky zu lesen. Nach der Aufforderung der Seminarleiterin, sich zu ihren Leseeindrücken zu äußern, fragte eine Studentin: »War Ossietzky ein Kommunist?«, und auf die Gegenfrage »Wie kommen sie darauf«, lautete die Antwort: »Er schreibt ›Faschismus‹.« Der Begriff scheint hierzulande zu einem Erkennungszeichen von Kommunisten geworden zu sein wie weiland ihr Parteiabzeichen mit Hammer und Sichel. Und in der Tat ist der Begriff, wenn es um die Partei Hitlers und das Regime der Jahre 1933 bis 1945 geht, in Wort wie in Schrift aus dem Sprachverkehr gezogen. Gründlich, ein Blick in Schulgeschichtsbücher bezeugt das. Der Etikettenschwindel der deutschen Faschisten, denn darauf zielte der Gebrauch des Begriffs, irritiert nicht. Hierzulande ist von Nationalsozialismus, nationalsozialistischer Diktatur oder Herrschaft und so weiter die Rede, mitunter und ein wenig verschämt in der Abkürzung NS-Regime. Niemand scheint zu irritieren, dass diese sprachliche Verzeichnung das Deutsche vom Französischen oder Englischen trennt, denn in unserem Nachbarland wie auf der Insel benutzt niemand, ausgenommen im Zitat, andere Begriffe für die deutschen Zustände jener Jahre als den des Faschismus oder und häufig den pejorativen Nazi in Wortverbindungen wie Nazi Germany und so weiter.


Hier geht es um mehr als um Begriffs- und Wortwahl oder gar -klauberei. Mit dem Begriff Nationalsozialismus wird der deutschen Partei und dem deutschen Regime – übrigens ganz wie es dessen ursprüngliche Benutzer wünschten –, eine Einzigartigkeit bescheinigt, ein – neudeutsch – Alleinstellungsmerkmal zuerkannt. Einander verwandte faschistische Regime mag es in Italien, Ungarn, Österreich, Rumänien gegeben haben, der deutsche »Fall« ist denen nicht zuzuordnen. Mit dieser These ist eine gedankliche Tür geöffnet, ein Fluchtweg der von der Frage wegführt, warum sich in mehreren europäischen Staaten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und als Antwort auf die revolutionären Bewegungen politische Kräfte erhoben, die sich überall als die schärfsten Verfechter der Konterrevolution erwiesen, aber nirgendwo so gewalttätig und brutal zum Ziele gelangten wie im Deutschen Reich.

Desinteresse an theoretischer Durchleuchtung
Nun lässt sich fragen, warum der Verweis des Begriffs Faschismus aus dem wissenschaftlichen und politischen Sprachgebrauch im Deutschen, dessen Ursprung weit in der Geschichte der alten Bundesrepublik liegt, so ganz ohne Debatten der Fachleute abgegangen ist. Die, wenn befragt, rechtfertigten ihn mit dem Verweis auf den »Holocaust«, der – zum Hauptkennzeichen des Regimes erklärt – dessen spezifische Kennzeichnung und Abgrenzung erfordere. Die Antwort liegt aber wohl eine Schicht tiefer im weitgehenden Desinteresse an der theoretischen Durchleuchtung des Faschismus selbst in Kreisen von Historikern. Das hat sich verstärkt, seit vor nunmehr einem Vierteljahrhundert die Herausforderung der historischen Materialisten weitgehend zum Schweigen gebracht worden ist, die seitdem jedenfalls in der Öffentlichkeit so gut wie unhörbar wurde. Das bedeutet jedoch nicht, dass auch das Interesse an der Erforschung der Geschichte der NSDAP und des faschistischen Regimes nachgelassen und ein Rückgang an wissenschaftlicher Literatur festzustellen sei. Sie wird nunmehr von der dritten und vierten Historikergeneration vorgelegt und das mit immer neuen Ergebnissen, die auch Spezialisten längst nicht mehr sämtlich zur Kenntnis nehmen können. Wer etwa im Katalog der Staatsbibliothek Berlin unter dem Stichwort »Nationalsozialismus« in diesen Tagen (hier das Ergebnis vom 11. September 2015) nach Literatur fragt, erhält 11.519 Angaben. Allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres hat sich die Zahl der eingestellten Bände um 29 vergrößert, die in Deutschland, Italien, den USA, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden erschienen sind.


Welche Forschungsfelder und -themen werden von den Forschenden bevorzugt? Deutlich ist nach wie vor die Konzentration auf die Geschichte des Terrors, der Konzentrationslager bis zu den Todesmärschen bei ihrer Räumung, der Judenverfolgungen und des Judenmordens, der »Euthanasie« und der Okkupationspolitik. Die Widerstandsforschung ist noch immer auf Stauffenberg und die Verschwörung des 20. Juli 1944 und auf weitere dem zugeordnete oder verwandte Ereignisse und Militärpersonen fokussiert. Arbeiten zum antifaschistischen Kampf der Arbeiter und der Reste ihrer Organisationen bilden Ausnahmen. Eine erhebliche Zahl von Veröffentlichungen befasst sich mit der Geschichte von Orten und gesellschaftlichen Einrichtungen, deren Spektrum von Bibliotheken bis zu Sportclubs, von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bis zur Handelskammer Hamburg reicht. Die Durchmusterung der Literaturtitel bezeugt die Vereinzelung der Forschungen und den weitgehenden Verzicht auf übergreifende Themen etwa der Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Konzentration auf Hitler und »Deutschlands dunkle Jahre«
Nun sind die meisten Bürger dieser wie jeder anderen Republik keine Leser der in Staatsbibliotheken verwahrten Schriften. Wenn sie sich denn mit der Geschichte jener, neuerdings vorzugsweise als »Deutschlands dunkle Jahre« bezeichneten Zeit befassen, folgen sie dem Angebot von Zeitschriften und Zeitungen und – sind sie anspruchsvoller – den Empfehlungen, die ihnen dort für ihre Lektüre gegeben werden. Und die richten sich vorzugsweise nicht auf das System, sondern auf einen Mann; Hitler. Einen zusätzlichen Anstoß erhält diese Ausrichtung in diesen Tagen durch die bevorstehende kommentierte Veröffentlichung seines Buches »Mein Kampf«, das womöglich auch unerläutert in den Buchhandel gelangen wird, nachdem die Sperrfrist seiner Veröffentlichung, über die bisher die Bayerische Landesregierung gebot, abgelaufen ist. Befördert wird diese Ausrichtung der Faschismusbeschäftigung auf Hitler und »Mein Kampf« zusätzlich durch eine sich um dessen Schrift rankende Theateraufführung. Das inzwischen am Nationaltheater in Weimar gezeigte Stück wird Aufführungen in Graz, München, Zürich, Mann und Berlin erleben. Im wohlwollenden Zeitungsbericht eines Besuchers heißt es: »Der zweistündige Abend hat eine mitunter geradezu gemächliche Unterhaltsamkeit« und »Rechnet man die Grundstimmung des Abends hoch, so ist sie heiter – und souverän unentschieden, wie man mit Ungeheuerlichkeiten umgehen soll.« (neues deutschland, 7.9.2015) Da erinnert man sich an Friedrich Wolfs »Professor Mamlock« (1933/34), Charlie Chaplins »Der große Diktatur« (1940), Bertolt Brechts »Furcht und Elend des Dritten Reiches« (1943/45 USA) und mag sich fragen, ob sich derlei belang- oder hirnlose Sätze auch zu diesen und ähnlichen Kunstwerken hätten schreiben lassen. Da sprachen Künstler Warnungen aus, scheuten weder Bekenntnisse noch Botschaften. Einen Vorgeschmack des Unsinns der sich über deutsche Leser in diesem Zusammenhang noch ergießen wird, vermittelt die Stuttgarter Zeitung (2.9.2015), ebenfalls angeregt durch die Weimarer Aufführung. Hier nun wird behauptet, dass »Mein Kampf« noch immer die Deutschen beschäftige und sie »das Buch nicht los[werden]«. Charakterisiert wird es als »Sammelsurium aus Vorurteilen, Verschwörungstheorien, Allmachtsphantasien und purem Hass«. Ja, »Lebensraum« habe er schon erobern wollen, aber eigentlich sei er ein Rassekämpfer gewesen, der die Juden als »Hauptfeind der germanischen Rasse ansah«.


Die Geschichtsschreibung ist an derlei Interpretationen nicht unbeteiligt. Jedoch eine Geschichtsschreibung, deren Autoren nicht durchweg Historiker sind. Sie liefern den Publizisten in Redaktionen und Verlagen das Material. Hier die Titel von drei Publikationen der Kategorie Hitlerbiografien: 2014 erschien in Stuttgart von Christoph Raichle »Hitler als Symbolpolitiker«, die Arbeit war im Jahr zuvor an der Universität Stuttgart als geschichtswissenschaftliche Dissertation Ebenfalls 2014 veröffentlichte Rainer Fuchs, Psychologe und Emeritierter Ordinarius für Pädagogik und Pädagogische Soziologie der Technischen Universität München, sein Spätwerk, dessen Erscheinen er 98jährig eben noch erlebte. Es wurde in Bamberg gedruckt und erhielt den Titel »Adolf Hitler. Vom Schulversager zum Diktator. Seine Persönlichkeit aus entwicklungspsychologischer, motivationstheoretischer und psychiatrischer Sicht«. Ein Marcel Dobberstein veröffentlichte 2012 »Adolf Hitler. Die Anatomie einer destruktiven Seele«. Das Buch, dessen Verfasser Musikwissenschaftler ist, empfahl der agenda Verlag Münster so: »Der Blick in diese Seele lässt verstehen, was nach 1933 Geschichte wurde und warum sie apokalyptisch enden musste. Einmal mehr führen Hybris und verdeckte Ohnmacht zum radikalen Utopismus. Der Führer und seine Deutschen kämpfen gegen den Verlust eines falschen, narzisstischen Selbst. In diesem Kampf sind Politik und Krieg nur Mittel zum Zweck.«

An die Psychologie und Medizin verwiesen
Die Tendenz, die nicht völlig neu ist, sich aber deutlich verstärkt hat, verweist Fragen, die mit den theoretischen und methodischen Instrumentarien der Historiker zu beantworten sind, an die Psychologie. Das geschieht nicht, weil die Historiker ratlos wären, sondern weil ihre Antworten unwillkommen sind. Denn selbst historisch-idealistische Forschungen handeln von Gesellschaften, Staaten, Wirtschaftssystemen, Parteien und Menschengruppen, die Geschichte machen – bestimmt oder getrieben von ihren Interessen und Zielen. Mit der Verengung auf die Psyche von Individuen, Klein- oder Großgruppen ist man das Geflecht von Fragen an die Vergangenheit los und macht sich auf den Weg ins Innere Hitlers, seiner Komplizen und seiner Millionengefolgschaft.


Zu dieser Tendenz gehört als ein Zweig auch die Überweisung der Fragen der Historiker an die Medizin. Das jüngste Produkt dieser Sicht auf die Geschichte des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges ist soeben, im September 2015, vorgelegt worden. Das Erscheinen des Buches »Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich«, ist von Rundfunk- und in Zeitschriftenredaktionen noch vor seiner Auslieferung an den Buchmarkt begrüßt und auch gefeiert worden. Der Verfasser Norman Ohler ist kein Mediziner oder Biochemiker, der sich auf Drogenkonsum spezialisiert hätte. Er hat eine Journalistenschule absolviert und ist als Autor von Romanen und Drehbüchern hervorgetreten, auch als Regisseur. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch offeriert das Werk unter anderem so: »Norman Ohler geht den Tätern von damals buchstäblich unter die Haut und schaut direkt in ihre Blutbahnen hinein ... Als Deutschland 1940 Frankreich überfiel, standen die Soldaten der Wehrmacht unter 35 Millionen Dosierungen Pervitin. Das Präparat ... machte den Blitzkrieg erst möglich und wurde zur Volksdroge im NS-Staat.« Das freilich ist eine gänzlich neue Erklärung von Frankreichs und Großbritanniens Niederlage im Mai und Juni 1940. Konzentriert aber ist die Untersuchung auf Hitler. Wäre der nicht von seinem Leibarzt, der darüber Buch führte, 1944 permanent unter Drogen gesetzt worden, hätte der »Führer« nicht bis 1945 durchgehalten. Damit ist auch die Frage nach der Dauer des Krieges beantwortet. Für die ist letztlich Dr. Morell verantwortlich. Hätte er statt zu Arzneien und Giften zu Placebos gegriffen, stünde als Datum des Endes des Weltkrieges jedenfalls in Europa ein anderer und früherer Tag als der 8. Mai 1945. Für die Verbreitung derlei Literatur werden von Verlagen möglichst namhafte Reklameschreiber aus der Historikerzunft gesucht, und sie finden sich. In diesem Falle der emeritierte Hans Mommsen, dessen möglicherweise auch unter dem Einfluss von Drogen verfasstes Fazit lautet: »Dieses Buch ändert das Gesamtbild«, und es werde gezeigt »wie Weltgeschichte durch medizinische Trivialitäten gesteuert werden kann«. (zitiert in Der Spiegel 37/2015)

Faschismus aus deutscher Geschichte herausseziert
Das Hauptkennzeichen und das -ergebnis dieser Geschichtsdeutungen besteht darin, dass der Faschismus als Ideologie, Partei, Bewegung und Regime aus der Geschichte des deutschen Imperialismus gleichsam herausseziert wird. Er ist, wie ein Berliner Politikwissenschaftler in den Debatten erklärte, ein Sonderfall und auf irgendeine rätselhafte Weise in den Gang deutscher Geschichte gelangt. Diese Version, mit der sich bürgerliche Ideologen um die Durcharbeitung deutscher Geschichte seit dem Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert herumdrücken wollten, wurde alsbald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbreitet. Lange glaubte man sie als erledigt. Doch 2014, angestiftet durch den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges, wurden die Deutschen darüber belehrt, dass es einen besonderen und extrem aggressiven deutschen Imperialismus gar nicht gegeben habe. Also konnte der Faschismus auch nicht dessen Fortsetzung und äußerste Aufgipfelung, musste er etwas Anderes und Besonderes sein. Die Vorlage für diese Legende hatte der britische Historiker Christopher Clark gegeben. Der Mann befriedigte ein Bedürfnis: Wenn schon die deutsche Wirtschafts- und Außenpolitik, wird sie auch nicht mit Panzern und Bombenflugzeugen durchgesetzt, in Europa Erinnerungen an die Deutschen mit dem Hakenkreuz weckt, dann sollen Historiker nicht auch noch über den deutschen Imperialismus gleich ob kaiserlicher, faschistischer oder anderer Prägung, über Kontinuität und Diskontinuität deutscher Geschichte meditieren. Das ist nicht nur eine Herabsetzung deutschen Ansehens, sondern bezeugt auch Ablehnung, wenn nicht Feindschaft gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, meint der bayerische Verfassungsschutz.

Der Text basiert auf Professor Pätzolds Redemanuskript anlässlich der Ossietzky-Matinee am 3. Oktober 2015 zum Thema »Schloss-Initiative: Wie gedenkt Deutschland heute und künftig in der Hauptstadt Berlin seiner faschistischen Vergangenheit?«