Wenn sich Politiker wie Dieter Wiefelspütz (SPD) und Uschi Eid (Die Grünen) und Autoren wie Henryk Broder und Arnulf Baring abschätzig über die relativ realistische China-Berichterstattung der Deutschen Welle äußern, deren Mitarbeiter attackieren, die Überprüfung etwaiger Parteimitgliedschaften fordern und dabei Argumente benutzen, die zuvor wörtlich in Publikationen der chinesischen Sekte Falun gong zu lesen waren (s. Ossietzky 21/08), dann ist das leicht zu erklären: Zwischen ihnen besteht Konsens darüber, daß uns an der Volksrepublik China, dem Land hinter dem Hindukusch, außer Menschenrechtsverletzungen nichts zu interessieren hat. Worte wie die des Ex-Kanzlers Schröder »Deutschland muß die Modernisierung Chinas unterstützen und auf Belehrungen oder Bloßstellungen verzichten« wirken dann kaltschnäuzig und werden instinktiv zurückgewiesen.
Wer regelmäßig Ostasien bereist, wird feststellen, daß Länder wie Bangladesch, Burma, Laos oder die Philippinen auf einem Niveau stagnieren, wie es in China vor zwanzig Jahren herrschte, bevor sich die Volksrepublik mit den Muskeln von Millionen Wanderarbeitern aus dem Sumpf emporgebaut hat. Aber solche Vergleiche sind in deutschen Massenmedien nicht üblich. Das Königreich Thailand hat vor hundert Jahren drei südlich benachbarte Sultanate annektiert, deren Bevölkerungen eine andere Sprache sprechen und einer anderen Religion angehören. Seit Jahren führen dort Rebellen einen erbitterten Unabhängigkeitskampf mit inzwischen Tausenden von Toten: Buddhisten werden enthauptet, Muslime in ihrer Moschee zusammengeschossen – an Brutalität übertrifft diese Auseinandersetzung alles, was man China in Bezug auf Tibet vorwirft. Aber die deutsche Öffentlichkeit erfährt nichts davon, niemand äußert ein Wort des Bedauerns. Das zeigt, wie selektiv unsere Wahrnehmung von Weltproblemen ist. Chinas Probleme – eigentlich schon groß genug – werden in Deutschland mit dem Vergrößerungsglas wahrgenommen, seine Fortschritte in extremer Verkleinerung.
Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Als die führenden chinesischen Politiker sich entschlossen, dem Sozialismus weitgehend zu entsagen und die Marktwirtschaft zu fördern, war für sie die Bundesrepublik (»soziale Marktwirtschaft«) der wichtigste Orientierungspunkt in der westlichen Welt. Der Vorstand der Deutschen Bundesbank wurde zu einer Flußfahrt auf dem Yangtse eingeladen, um chinesischen Zentralbankern von seinen Erfahrungen abzugeben. Das Patentamt in München wurde Vorbild für Entwicklung und Organisation des chinesischen Patentrechts. Der in Shanghai produzierte Volkswagen war zeitweise das meistgefahrene Auto des Landes. Ein Audi-Nachbau wurde Funktionärsfahrzeug unter dem Traditionsnamen »Hong Chi« (Rote Fahne). Das schien ein verheißungsvoller Neuanfang zu sein.
In der Geschichte Chinas hat es immer wieder Sekten gegeben, die das Land in Bürgerkriege stürzten – von den Gelben Turbanen (im Jahre 189 unserer Zeitrechnung) bis zur Taiping-Erhebung (1850-1864). Das kann zur Erklärung dafür dienen, daß die Führung des Landes heute allergisch auf »religiöse« Gruppen reagiert, die sich der Autorität des Staates widersetzen.
Im 19. Jahrhundert ließ Deutschland Missionare nach China reisen, um die Heiden dort, die bereits mit drei wesentlich älteren Religionen ausgelastet waren, zum besseren Glauben zu bekehren. Das endete mit dem Boxeraufstand und einem Krieg, auf den das deutsche Kaiserreich sich nach den Worten seines Generalstabschefs einließ, um den chinesischen Markt zu erschließen. Im Anschluß daran patrouillierten deutsche Kanonenboote auf dem Yangtse. Das Christentum fiel in China auf wenig fruchtbaren Boden.
Heute versuchen deutsche Politiker und Publizisten mit vergleichbarem missionarischen Eifer, China zur Gewährung von Glaubensfreiheit zu erziehen. Dem chinesischen Wanderarbeiter, der siebzig Euro im Monat verdient, wäre damit wenig geholfen. Ihm nutzt auch keine Einschränkung der Informationsfreiheit in Deutschland. Was er braucht, ist eine Arbeitsausfall-Versicherung.