Seitdem die US-amerikanischen Truppen geschlagen aus Vietnam abziehen mußten, spricht man vom Vietnam-Trauma der USA. Viele Menschen weltweit hätten sich gewünscht, daß sich die USA nie von diesem Trauma befreit hätten und die Welt vor weiteren, vergleichbaren Kriegen bewahrt geblieben wäre. Doch die strategischen und ökonomischen Interessen waren stärker als die Skrupel, ihre GIs in ferne Länder zu schicken und diese in Schlachtfelder zu verwandeln. Und so befinden sich die USA heute immer noch im Krieg, nicht nur in Afghanistan, sondern auch im Irak; und folgt man den wiederholten Ankündigungen US-amerikanischer und israelischer Politiker und zahllosen Presseartikeln, droht zudem ein Krieg gegen Iran. Betrachtet man die US-amerikanische Außenpolitik der beiden vergangenen Jahrhunderte, erscheint die Hoffnung, sie von ihrem Interventionismus abzubringen, als Illusion.
Mit der Monroe-Doktrin wurden Anfang des 19. Jahrhunderts die Grundzüge der US-amerikanischen Außenpolitik festgelegt, und nach dem Krieg in Mexiko 1823 begann die Dominanz der USA in Lateinamerika. Der US-Imperialismus hatte allerdings nie den kolonialen Okkupationscharakter der alten europäischen Staaten. Weder Siedlerkolonialismus noch direct oder indirect rule waren seine Methoden, sondern er bevorzugte ein juristisches Instrument, den Interventionsvertrag, zum Beispiel Ende des 19. Jahrhunderts gegen Kuba.
In seiner jährlichen Botschaft vom Dezember 1904 verkündete Theodore Roosevelt ein Jahr nach seiner Wahl ins Präsidentenamt die neue Version der Monroe-Doktrin für das 20. Jahrhundert und stellte dabei klar, daß die USA nicht nach Land hungerten: »Alles, was dieses Land wünscht, ist, seine Nachbarländer stabil, ordentlich und blühend zu sehen. Jedes Land, dessen Volk sich gut führt, kann auf unsere herzliche Freundschaft zählen. Wenn eine Nation zeigt, daß sie mit vernünftiger Effizienz und Ehrlichkeit in sozialen und politischen Angelegenheiten handelt, Ordnung hält und ihren Verpflichtungen nachkommt, braucht sie keine Einmischung seitens der USA zu fürchten. Wiederholtes Fehlverhalten allerdings oder eine generelle Unfähigkeit, die zur Auflösung des besonderen Zusammenhalts in einer zivilisierten Gesellschaft führt, kann es in Amerika wie auch anderswo erforderlich machen, daß eine zivilisierte Nation eingreift. In flagranten Fällen, wenn die Vereinigten Staaten in der westlichen Hemisphäre mit einem solchen Fehlverhalten oder einer solchen Unfähigkeit konfrontiert sind, können sie sich angesichts der Monroe-Doktrin gezwungen sehen, wie widerwillig auch immer, die Funktion einer Weltpolizei auszuüben.«
In den nächsten 185 Jahren folgten, getreu der Monroe-Doktrin, zahlreiche Kriege, und ein Ende des militärischen Interventionismus der USA ist noch nicht in Sicht. Im »Krieg gegen den Terror« kennt der Interventionsanspruch keine Grenzen mehr; spätestens seit dem Untergang der Sowjetunion umgreift er den gesamten Erdball. Die Einsätze in Afghanistan und im Irak, aber auch die Drohungen gegen Iran oder Syrien sind Teil der »Greater Middle East«-Strategie, mit der die USA den ganzen Mittleren Osten nach ihren Interessen neu ordnen wollen.
Viele sagen den USA ein »zweites Vietnam« voraus. Aber vielleicht ist diese Prophezeiung eher Ausdruck des Wunsches, die USA endgültig von ihrem militärischen Interventionismus abzubringen, als daß sie der Realität entspräche. Die USA bauen im Irak nicht ihre weltweit größte Botschaft mit 3.000 Angestellten und zahlreiche Militärstützpunkte auf, um lediglich ein zerstörtes Land wieder aufzubauen und als Protektorat einzurichten. Dort entsteht vielmehr das Zentrum einer neuen US-arabischen »Provinz Mittlerer Osten«, der Hof des Satrapen. Was sich abzeichnet, ist das endgültige Einschwenken des arabischen Halbmonds zwischen der Türkei und Pakistan auf die Umlaufbahn um die US-amerikanische Erde.
Parallelen, Analogien
Robert S. McNamara, US-Verteidigungsminister der Jahre 1961 bis 1968 unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, blickte dreißig Jahre später zurück auf das »Desaster«, welches die USA in Vietnam erlebt hatten. In seinem Buch »In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam« gibt er im letzten Kapitel elf Gründe für das Scheitern der USA an. Er gesteht ein, daß sich die Kriegsführung in fast allen wichtigen Parametern dieses Krieges geirrt hat: Sie hat sich in dem vermeintlich »übermächtigen Wunsch der Vietnamesen nach Freiheit und Demokratie« getäuscht und vollkommen unterschätzt, »welche Kraft das Nationalbewußtsein einem Volk verleiht, für seine Überzeugungen und Werte zu sterben«. Darüber hinaus gibt er die »völlige Unkenntnis, was Geschichte, Kultur und Politik der Völker Indochinas sowie die Persönlichkeit und Haltung der führenden Politiker dieser Länder angeht« zu. Die USA hätten »nicht erkannt – und das gilt bis heute –, daß den modernen, hochtechnologisch ausgerüsteten Streitkräften und den für sie entwickelten Strategien Grenzen gesetzt sind, wenn es zur Konfrontation mit einem unkonventionell kämpfenden und hochmotivierten Volk kommt«. Sie hätten es nicht verstanden, »die Herzen und den Verstand der Menschen eines vollkommen andersgearteten Kulturkreises« zu gewinnen: »Wir haben keinerlei von Gott verliehenes Recht, jede beliebige Nation nach unseren Vorstellungen zu formen.« Schließlich bekennt er, daß sich die USA schon Ende 1963 oder Ende 1964/Anfang 1965 aus Südvietnam hätten zurückziehen können und müssen, da die politische und militärische Schwäche des von ihnen gestützten Saigoner Regimes unübersehbar gewesen sei. Ersetzen wir »Indochina« und »Vietnam« durch »Afghanistan«, so hätten wir das nach sieben Jahren Krieg realistische und notwendige Eingeständnis des Scheiterns in dem ebenso fremden und unbegriffenen Land am Hindukusch. McNamara betont selbst, daß diese Lehren, die er – zu spät – aus Vietnam gezogen hat, auch für das 21. Jahrhundert Gültigkeit beanspruchen.
Parallelen zwischen den Kriegen im Irak und im Vietnam werden von allen Seiten gezogen, seit einiger Zeit gilt das auch für Afghanistan. Einen anmaßenden Vergleich zwischen Vietnam und Irak stellte George W. Bush in seiner Rede vor den »Veterans of Foreign Wars« im Jahre 2007 selbst auf: »Den Preis für Amerikas Rückzug (aus Vietnam) zahlten Millionen unschuldiger Zivilisten.« Dabei vergaß er die vier Millionen Kriegstoten Indochinas und die 58.000 getöteten US-Soldaten. Sie zahlten den ultimativen Preis für diesen Imperialkrieg. Unzählige Vietnamesen und Amerikaner leiden zudem bis heute unter den verheerenden Folgen von Agent Orange (Dioxin), das die US-Streitkräfte über Vietnam versprühten.
Die Unterschiede zwischen den drei Ländern sind so groß, daß man kaum versuchen würde, sie zu vergleichen, wenn sie nicht vom selben Feind überfallen worden wären. Ho Chi Minh ist weder mit Osama Bin Laden noch Saddam Hussein zu vergleichen, und der Vietcong hat keinen Nachfolger in den Taliban oder in den diversen irakischen Widerstandsgruppen gefunden. Auch demographisch sind die drei Länder ganz verschieden. Vietnam hat eine sprachlich, religiös und kulturell weitgehend homogene Bevölkerungsmehrheit, in Afghanistan und im Irak hingegen sind die Konflikte deutlich stärker ethnisch und religiös geprägt. Schließlich standen hinter dem vietnamesischen Widerstand die Sowjetunion und die Volksrepublik China, nicht nur politisch, sondern auch mit beträchtlichen Waffenlieferungen.
Analogien ergeben sich vor allem auf der US-amerikanischen Seite. Sie beginnen bei dem alten Instrument der Kriegslüge. So konstruierte die Johnson/McNamara-Administration 1964, um die Bombardierung Nordvietnams zu rechtfertigen, den »Zwischenfall« in der Tonking-Bucht, bei dem angeblich ein vietnamesisches Boot ein US-Kriegsschiff angegriffen hatte. Zur Vorbereitung des Golf-Krieges von 1991 ließen die USA eine als Krankenschwester verkleidete kuwaitische Diplomatentochter erfundene Geschichten über den »menschenverachtenden Vandalismus« irakischer Soldaten in kuwaitischen Kinderkliniken erzählen. Und für den Krieg vom März 2003 griffen sie auf die Lüge von den Massenvernichtungswaffen zurück, um wenigstens die eigene Bevölkerung von der Notwendigkeit einer militärischen Strafaktion zu überzeugen. Der Afghanistankrieg fällt bei diesem Vergleich nur ein wenig aus der Reihe. War der Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon auch das Werk von Al Qaida, so läßt sich doch mit der Verfolgung dieser Organisation und ihres Anführers schon lange nicht mehr die ständige Eskalation des militärischen Einsatzes begründen. Der anfängliche Verdacht, daß der »Krieg gegen den Terror« vornehmlich der Sicherung geopolitischer Interessen eines extrem energieabhängigen Wirtschaftssystems dient, hat sich seither zur Gewißheit verdichtet.
Das Ausmaß der Zerstörungen und Verwüstungen, die der Vietnamkrieg angerichtet hat, scheint in Afghanistan und im Irak trotz der gesteigerten Feuerkraft der US-Armee zum Glück nicht erreicht zu sein. Aber auch jetzt setzt sie Waffen ein, die wegen ihrer unkontrollierbaren und unverhältnismäßigen Auswirkungen völkerrechtlich verboten sein müßten. Die tödlichen Hinterlassenschaften des 2. Golfkrieges sind noch nicht vollständig beseitigt, da ist der Irak schon wieder mit radioaktiven Munitionsrückständen und Splitterbomben übersät. Nicht nur die Bevölkerung der betroffenen Länder leidet unter den militärischen Einsätzen, die Kriege fordern auch zunehmend Opfer unter den Soldaten und Soldatinnen der Interventionstruppen. Allmählich werden die zahlreichen Krankheitssymptome, unter denen die 1991 im Irak eingesetzten Soldaten leiden, zumindest in Großbritannien offiziell als Golfkriegssyndrom anerkannt. Es wird auf die prophylaktischen Impfungen gegen den befürchteten Einsatz chemischer und biologischer Waffen zurückgeführt. Und von den Irak-Veteranen von 2003 sollen 30 Prozent unter dem Posttraumatischen Belastungssyndrom (PTSD) mit Panikattacken, Schlaflosigkeit, Herzrasen und Depressionen leiden. Heute begehen ungefähr 120 Personen pro Woche als Folge des Syndroms Selbstmord. Nach einer Umfrage des US-Senders CBS haben sich allein 2005 mehr als 6.200 Kriegsveteranen umgebracht, das sind mehr als die offiziell registrierten Gefallenen. Zur Zerstörung der Lebensgrundlagen führt der Krieg auch in Afghanistan, wo jetzt weite Gebiete mit Landminen verseucht oder wegen Blindgängern gesperrt sind. Hinzu kommt Munition mit abgereichertem Uran (DU-Munition) verheerend. Toxischer und radioaktiver Staub sammelt sich in der Lunge an; die langfristigen Auswirkungen auf Land und Bevölkerung sind noch nicht abzuschätzen.
Kriegsverbrechen wie das Massaker von My Lai 1968 sind im jüngsten Irakkrieg bisher unbekannt, aber die offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen wie im Gefängnis Abu Ghraib beweisen die Barbarisierung des Krieges. In Afghanistan wurde am 25. November 2001 ein Massaker an Taliban mit Wissen des US-Kommandanten verübt. Von den 8000 Taliban, die sich nach heftigen Gefechten ergeben hatten, überlebten nur 400. Wir wissen ebenfalls von Folter und Mißhandlungen in Gefängnissen (Mazar-i-Sharif und Sheberghan); allgemein bekannt sind die Menschenrechtsverletzungen in Guantánamo.
Von der Rechtfertigung zur Aufarbeitung
Um den Krieg gegen Vietnam völkerrechtlich zu legitimieren, veröffentlichte das US-Außenministerium 1965 ein Memorandum über die »Legal Basis for United States Actions Against North Vietnam«. Unabhängige Juristen antworteten 1967 mit einem umfangreichen Gutachten »Vietnam and International Law«, das alle juristischen Rechtfertigungsversuche der US-Administration als unvereinbar mit dem Internationalen Recht zurückwies. Nach dieser Untersuchung war der Vietnamkrieg in seiner Entstehung als Aggressionskrieg ein eklatanter Verstoß gegen das Kriegs- und Gewaltverbot der UNO-Charta und in der Kriegsführung nicht mit dem humanitären Völkerrecht zu vereinbaren. Zu diesem Ergebnis kamen auch andere Untersuchungskommissionen, die die US-Administration zahlreicher schwerer Kriegsverbrechen bis hin zum Völkermord für schuldig befanden.
Den Afghanistankrieg versuchte Washington vor allem als Verteidigungskrieg gegen die Terrororganisation Al Qaida zu legitimieren. Dieser Krieg wird von der Operation Enduring Freedom (OEF) unter US-amerikanischem Kommando geführt – ohne nennenswerten Erfolg. Je länger er dauert – nunmehr sieben Jahre –, desto unglaubwürdiger wird, wie schon erwähnt, der behauptete Verteidigungszweck dieses Krieges.
Die International Security Assistance Force (ISAF) basiert auf der UN-Sicherheitsratsresolution 1386 vom Dezember 2001, die auf sechs Monate begrenzt war, aber immer wieder erneuert wurde. Die Befugnis dieser Militärmission zu Kampfeinsätzen wurde damit begründet, daß nach Artikel 42 der UNO-Charta die Situation in Afghanistan »eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit« darstellte. Mit der Zunahme des Kriegsgeschehens ist ihre Trennung vom Antiterrorkampf der OEF nicht mehr aufrechtzuerhalten, so daß die völkerrechtliche Legitimation der ISAF ebenfalls schwindet.
Als die USA am 20 März 2003 den Irak angegriffen, hatten sie kein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Der offene Völkerrechtsbruch wurde auch nicht nachträglich durch eine Resolution des Sicherheitsrats legitimiert, wie es die US-Administration gewünscht hatte. Die Resolution 1483 bildet eine rechtliche Basis für Wiederaufbaubemühungen.
Nach Bekanntwerden der Folterskandale im Gefängnis Abu Ghraib wurden einige Soldaten verurteilt, aber nur niedrige Dienstgrade. Die verantwortlichen Offiziere der US-Armee blieben bisher verschont. Lediglich Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wurde als Konsequenz aus diesen Skandalen von seinem Amt entbunden.
Einer prozessualen Auseinandersetzung um ihre Kriegsführung vor dem neu gegründeten Internationalen Strafgerichthof (IStGH) in Den Haag haben die USA vorgebeugt: Sie haben ihre früher beabsichtigte Beteiligung und Mitgliedschaft an dem Gericht aufgehoben und durch zwei Resolutionen des UN-Sicherheitsrats wie durch bilaterale Verträge mit über fünfzig Staaten die faktische Immunität ihres politischen und militärischen Personals gesichert.
Ein Versuch, den britischen Ex-Premierminister Tony Blair und seine zuständigen Minister und Generäle vor dem IStGH zur Verantwortung zu ziehen, blieb bisher noch ohne konkretes Ergebnis. Parallel dazu laufen Initiativen mit dem Ziel, in der Nachfolge der Russell-Tribunale dem allgemeinen Gefühl der Unrechtmäßigkeit des Krieges, seiner lügenhaften und erpresserischen Vorbereitung sowie der systematischen Irreführung der Öffentlichkeit einen präzisen und nachprüfbaren Ausdruck in Form einer öffentlichen Untersuchung zu geben.
Um die jüngsten Kriege im Mittleren Osten politisch und juristisch aufzuarbeiten, wird man lange Zeit brauchen. Voraussetzung ist der Rückzug der Interventionstruppen. Unter Besatzung ist keine glaubwürdige Aufarbeitung möglich.