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Titel222013

Luftangriff auf Anklam  (Heinrich Hannover)

Für mich als alten Anklamer ist Anklam immer Heimat geblieben, in die ich gern zurückkehre. Obwohl es nicht mehr die Stadt mit der schönen, in Jahrhunderten gewachsenen Altstadt ist, die im Krieg unwiederbringlich zerstört wurde. Aber die Erinnerung läßt das alte Stadtbild und die Menschen, die es belebt haben, jedesmal wieder neu entstehen.

Da sind wieder die beiden hohen Kirchtürme der Nikolai- und der Marienkirche, die beim Blick vom Relzower Berg ins Peenetal das malerische Stadtbild fast wie aus einem Kupferstich von Merian prägten. Da entsteht wieder der Marktplatz mit historischen Häusern und einer Perle der Backsteingotik. Da gibt es wieder die heile, auf beiden Seiten mit Geschäftshäusern bebaute Steinstraße zwischen Marktplatz und Steintor, auf deren einer Seite alltäglich abends zwischen 18 und 19 Uhr der »Bummel« stattfand, bei dem die Jugend sich traf und Zettel mit Verabredungen und Liebesbotschaften austauschte. In der Friedländer Straße entstehen wieder die hohen Linden, von denen zwei vor meinem Elternhaus standen, das 1945 von der Besatzungsmacht enteignet und zu Volkseigentum erklärt wurde. Da glaube ich wieder das geheimnisvolle Tuten der Schiffe im Hafen zu hören. Und die Frau des Fischers, die frühmorgens mit der Klingel durch die Straßen ging und rief: »In’n Haben liggt en Boot mit gräune Hiring.« Oder den Bauern vom Lande, der mit seinem Pferdewagen über das Kopfsteinpflaster polterte und rief: »Kartoffeln!«

Aber ich habe die Anklamer Straßen auch mit Hakenkreuzfahnen an allen Häusern gesehen. Und ich erinnere mich an marschierende Kolonnen und an eine Wehrmachtsschau mit Fliegerabwehrkanonen auf dem Markt, die den Eindruck bestärkten, daß Deutschland für den nächsten Krieg gerüstet wurde. Unvergessen ist der Ausspruch des für die Luftwaffe zuständigen Ministers Hermann Göring, er wolle Meier heißen, wenn feindliche Flugzeuge es schaffen würden, Bomben auf deutsche Städte abzuwerfen.

Schon in der Schule waren wir frühzeitig auf den Krieg vorbereitet worden. In der Cotheniusschule lernten wir das Lied »Ich bin Adolf Hitlers kleiner Soldat«. Und auf dem Lilienthal-Gymnasium hatten wir einen Klassenlehrer, der Kreispropagandaleiter der Nazipartei war und viel vom Heldentum der Soldaten schwatzte, sich aber selbst mit gesundheitlichen Vorwänden vor dem Heldentum zu drücken wußte. Wenn er uns das Aufsatzthema »Der Führer spricht« stellte, erwartete er von uns Lobeshymnen auf einen Führer, der inzwischen als größter Kriegsverbrecher aller Zeiten in die Geschichte eingegangen ist.

Aber es gab auch Lehrer, an die ich mit großer Hochachtung zurückdenke. Theodor Eichhoff, ein leidenschaftlicher Shakespeare-Forscher, der uns in Englisch und Geschichte unterrichtete, hatte den Mut, zu einer Zeit, als Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion verwüstete, Napoleons in einer Katastrophe endenden russischen Feldzug von 1812 zu thematisieren. Er zitierte aus alten französischen Zeitungen, was die Franzosen damals über die katastrophale Niederlage und den vieltausendfachen Tod der Soldaten erfuhren: »Seine Majestät, der Kaiser, ist wohlbehalten wieder in Paris eingetroffen:« Wir Jungs waren noch zu dumm, um die aktuellen Bezüge zu begreifen, die dieser antifaschistisch eingestellte Pädagoge uns nahebringen wollte.

Es gab auch in Anklam Menschen, die schon vor Hitlers Machtübernahme ihre Zeitgenossen öffentlich warnten: »Wer Hitler wählt, wählt den Krieg«. Das stand auch im Pulverturm, dem Anklamer Kommunistenblättchen. Ich mag fünf Jahre alt gewesen sein, als ich den arbeitslosen Juristen Bruno Tiegs auf der Straße stehen und den Pulverturm verkaufen sah. Als meine Mutter sagte, daß der Mann Kommunist sei, kriegte ich Angst, daß er in unser Haus eindringen könnte. Daß der Mann eine zukunftsträchtige Wahrheit verkündete, habe ich erst sehr viel später begriffen.

Auch die Eltern meines Freundes und Klassenkameraden Peter Lachmund, der Amtsrichter Hans Lachmund und seine Frau Margarethe, wußten, was auf uns zukam und vor wem man Angst hätte haben müssen. Kennzeichnend für ihren Mut und ihre christlich motivierte humane Gesinnung war, daß sie mit Anklamer Juden noch zu einer Zeit Verbindung hielten, als diese schon nach Polen deportiert waren.

Die Mehrheit der damals erwachsenen Deutschen stand jedoch fest hinter ihrem »Führer« und seiner Bande und ließ sich in einen Angriffskrieg führen, der 50 Millionen Menschen das Leben kosten sollte, unzählige Städte und Dörfer ruinierte oder vernichtete und auch aus Anklam ein Trümmerfeld machte. Ich gehörte zu den Jungen, die 1943 als 17jährige Soldaten werden mußten und unter der Befehlsgewalt führertreuer Offiziere und Generäle mithalfen, den Krieg in andere Länder zu tragen. Bis er eines Tages nach Deutschland zurückkam.

Als Anklam am 9. Oktober 1943 zum ersten Mal bombardiert wurde, gab es schon eine von der deutschen Luftwaffe eröffnete Tradition von Luftangriffen auf Städte im Feindesland. Bomben auf Warschau, Rotterdam, Coventry und viele andere Städte waren dem Luftangriff auf Anklam vorangegangen. Da Anklam mit den Arado-Werken, in denen seinerzeit die Montage von Jagdflugzeugen stattfand, ein militärisches Ziel bot, hätte man mit einer Bombardierung durchaus rechnen müssen. Aber Anklam galt als »bombensicher«. Und die Anklamer nahmen Fliegeralarm nicht mehr ernst, weil immer wieder andere Städte gemeint waren, wenn feindliche Bomberflottillen hoch am Himmel über Anklam hinwegbrummten.

Am 9. Oktober 1943 aber war Anklam gemeint. Der amerikanische Luftangriff galt den Arado-Werken, und die erste aus 57 Flugzeugen bestehende Welle warf um 11.42 Uhr ihre Bombenlast ab, die das Zielgebiet traf. Es entstand eine enorme Rauch- und Staubwolke über der Stadt, so dass die zweite aus 49 Flugzeugen bestehende Welle ihre Bomben ungezielt abwarf und die verheerenden Schäden im Stadtzentrum verursachte. Nach nur vier Minuten war das Vernichtungswerk getan.

Im Anklamer Heimatkalender von 1993 und 2003 findet man erschütternde Erlebnisberichte von zwei Anklamer Lehrern und Heimatforschern, Hermann Scheel und Werner Abshagen.

Aus Hermann Scheels Bericht: »Sonniges Spätsommerwetter lag über dem Land. [...] Da ertönten um 11.30 Uhr plötzlich die Sirenen. [...] Auf den Straßen gingen die Anklamer gemächlichen Schrittes, als ginge der Alarm sie nichts an. Es war ein reger Sonnabendverkehr, wie er besonders lebhaft ist zur Zeit der Kartoffelernte. Viele Fuhrwerke vom Lande standen in den Straßen und auf dem Markte.«

Hermann Scheel suchte mit einigen Schülern den Schutzraum der Cotheniusschule auf, wo sie den Lärm der Bombeneinschläge und das Erzittern des Bodens erlebten. Als Scheel und die anderen in den Keller geflüchteten Menschen das Haus nach dem Ende des Angriffs verließen, bot sich ihnen ein trostloser Anblick. Vom Nebenhaus fehlte die ganze Giebelwand, so daß man in alle Zimmer hineinsehen konnte. Eine Sprengbombe war unmittelbar vor dem Torweg der Schule niedergegangen. Dort gähnte ein tiefer Trichter von sechs Meter Durchmesser, der sich mit Wasser füllte, weil das Wasserrohr getroffen war. Fuhrwerke, die in der engen Straße Schutz gesucht hatten, lagen zertrümmert an den Hauswänden. Ein großer Blutfleck am Dachsims eines Hauses zeigte an, wohin die Explosion ein Pferd geschleudert hatte. Der Besitzer des Fuhrwerks lag stark blutend in einem Torweg. Die Cotheniusschule war einsturzgefährdet. Das Haus nördlich der Schule war ein Trümmerhaufen. Die Mädchenschule hatte zwei Volltreffer erhalten. An Stelle der drei folgenden Häuser waren riesige Bombentrichter. Unter den Trümmern der Häuser wurden mehrere Menschen begraben. Da auch die Schule in der Wördeländer Straße zerstört wurde, waren alle drei Volksschulen der Stadt ohne Gebäude. Es war ein Glück, daß noch Ferien waren. Aber 30 Kinder der Volksschulen wurden bei dem Angriff auf der Straße oder in ihren Wohnungen getötet.

Auch Werner Abshagen wollte, als der Fliegeralarm kam, zunächst nicht an einen Luftangriff glauben. Aber dann schlug eine erste Fünf-Zentner-Bombe in der Stettiner Landstraße, etwa 50 Meter von seiner Wohnung entfernt, ein und riß das halbe Dach herunter. Auch Abshagen schildert die Schäden und Brände, die er zu sehen kriegte, und zählte 40 Tote, die auf der Straße lagen. Und er erlebte, daß Plünderer vielen Toten die Schuhe ausgezogen hatten.

Abshagen zählt einige der zerstörten Häuser und Straßen auf: »Großer Wall: Haus für Haus brennt. (...) Brüderstraße: Rauch- und Trümmerstraße. (...) Verbindungsstraßen zur Peenstraße – alles brennt. (...) Marths Fischkahn ist im Wasser verschwunden. (...) Nikolaikirche steht, aber die Eckhäuser brennen. Wolfs Apotheke brennt (....). Südseite des Marktes brennt, Westseite brennt, Nordseite brennt – man könnte irrsinnig werden. Eine Stunde später sind alle Feuerwehren vom Kreis zur Stelle und warten, warten auf – Einsatzbefehl des Kreisleiters. Der Befehl kommt nicht, das Feuer kann weiter um sich greifen.«

Abshagen ist mit Recht wütend darüber, daß man lieber die Häuser brennen ließ, als die Zuständigkeit des Kreisleiters zu übergehen. Plötzlich fehlt das Wasser und 400 Meter Schläuche müssen zur Peene gelegt werden, die dann auch verbrennen. Die Keilstraße zwischen Marktplatz und Marienkirchplatz brennt. Die Marienkirche brennt, die Glocke stürzt in den Turm. im Umkreis der Marienkirche sind 27 Häuser zerstört. Es gibt 317 namentlich bekannte, nach anderen Quellen über 400 Tote und 400 bis 500 Verletzte.

Ein Glück, daß das Krankenhaus heil geblieben war, in dem viele der Schwerverletzten Aufnahme fanden und nach und nach medizinisch behandelt werden konnten. Das neue Krankenhaus, das noch heute ein architektonisches Schmuckstück der Stadt bildet, war auf Initiative meines Vaters in Zusammenarbeit mit dem von 1927 bis 1945 amtierenden Bürgermeister und Architekten Johannes Bauer entstanden und 1937 bezogen worden. Welche unhaltbaren Zustände in dem alten, viel zu klein gewordenen Krankenhaus in der Ravelinstraße geherrscht hatten, hatte mein Vater im November 1933 in einem Brief an den Bürgermeister geschildert. Jetzt war eine gewaltige Aufgabe von den Ärzten, den Schwestern und dem übrigen Personal zu bewältigen. Kriegsbedingt gab es nur noch zwei Krankenhausärzte, meinen Vater, der seit 1924 Chefarzt der chirurgischen Abteilung war, und seinen Assistenzarzt Klemm. In einem Brief vom 29. Oktober 1943, also drei Wochen nach dem Luftangriff, schrieb mein Vater: »Im Krankenhaus liegen noch immer sehr viele sehr schwer Verletzte, aber ich hoffe jetzt, daß alle wenigstens am Leben bleiben.«

Vielleicht leben noch einige seiner Patienten, die damals noch Kinder oder Jugendliche waren. Und ich hoffe, daß sie zu den Menschen gehören, die dabei geblieben sind: »Nie wieder Krieg!«

Rede Heinrich Hannovers in Anklam am 9. Oktober 2013 zum 70. Jahrestag des ersten Luftangriffs auf Anklam.