Im Dezember 1932 brachte die Evangelische Kirche »Richtlinien zu den Fragen der geschlechtlichen Sittlichkeit« heraus, deren wichtigsten Aussagen, zitiert nach dem Kirchlichen Amtsblatt für die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, waren: »Die eheliche Gemeinschaft ist lebenslänglich und daher grundsätzlich unlöslich.« »Die Schwangerschaftsunterbrechung ist Sünde gegen das 5. Gebot.« »Die Verhütung der Geburten kann ... niemals freigegeben werden.« »Homosexuelle Vergehen sind schwere Sünden und müssen strafrechtlich verfolgt werden.«
Bis weit in die 1960/70er Jahre hinein waren diese menschenfeindlichen Aussagen tatsächlich Richtlinien in der westdeutschen Gesellschaft, bis sie schließlich durch starke Bewegungen gegen die Amtskirchen und durch Strafrechtsreformen in Frage gestellt wurden und weitgehend verschwanden. Dennoch gibt es im Raum oder Umfeld der Großkirchen inzwischen wieder nicht unerhebliche Kräfte, die »christlichen Fundamentalisten« (die man nach Erich Geldbach, Professor für Ökumene, auch »Christianisten« nennen könnte), die es auf Grund ihrer Bibelideologie offenbar nicht verwinden können, daß jene Richtlinien das geltende Recht und die gesellschaftliche Ordnung nicht mehr bestimmen.
Abgesehen von ihrem Kampf gegen die Evolutionslehre Darwins ist ihr Kampf um die »geschlechtliche Sittlichkeit«, also gegen Homosexualität und gegen jedweden Schwangerschaftsabbruch und damit gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau, für sie verpflichtende Aufgabe.
Die christlichen Fundamentalisten engagieren sich in rund 230 pädagogischen, diakonischen, publizistischen und missionarischen Einrichtungen im Dachverband der »Deutschen Evangelischen Allianz«, der laut Wikipedia 1,3 Millionen Mitglieder hat und eng vernetzt ist mit der weltweiten Allianzbewegung mit ihren geschätzten 600 Millionen Anhängern. Sie gewinnen bei uns Einfluß durch Zusammenarbeit mit weiten Teilen der Großkirchen bei gemeinsamen Aktionen wie der »Satellitenmission ProChrist«, dem Jugend-»Christival« (s. Ossietzky 6/08), der Geschenkaktion »Weihnachten im Schuhkarton« (s. Ossietzky 24/10), dem »Kongreß christlicher Führungskräfte« und dem »Marsch für das Leben«. Dazu haben sie in den Landeskirchen namhafte Fürsprecher gewonnen, beispielsweise Wolfgang Huber und den derzeitigen evangelischen Bischof von Berlin Markus Dröge, der ihnen zum »Marsch für das Leben« Grußworte schickte.
Sie haben Einfluß in Kirchenvorständen und Synoden, in der EKD, haben Politiker wie Volker Kauder, Philipp Mißfelder und Ursula von der Leyen sowie zahlreiche Industrielle wie Heinz-Horst Deichmann als ihre Förderer. Dazu kommt, daß evangelische und evangelikale Privatschulen »weiter wachsen«, wie ihr Zentralorgan, idea.de, frohlockt. Chefredakteur der idea-Presseagentur ist Helmut Matthies, der auch schon mal für die Junge Freiheit schreibt.
Die »Glaubensbasis« aller Allianzanhänger ist in acht Essentials festgeschrieben, von denen Nummer 2 und 3 besonders aggressiv vertreten werden. Sie lauten: »Wir bekennen uns zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung (und) zur völligen Sündhaftigkeit und Schuld des gefallenen Menschen, die ihn Gottes Zorn und Verdammnis aussetzen.« (Quelle: www.ead.de/die-allianz/basis-des-glaubens.html)
Diese »Glaubensbasis« verwirft alle Erkenntnisse, die in den letzten 300 Jahren durch die historisch-kritische Bibelforschung überzeugend erarbeitet wurden: Daß nämlich die »Heilige Schrift«, die Bibel, in einem Zeitraum von etwa 1500 Jahren entstanden ist und deshalb verschiedene Gottes- und Menschenbilder entwirft, verschiedene, sich oft widersprechende Werte nennt und Texte enthält, die in der Emanzipationsbewegung eine hervorragende Rolle spielten, wie zum Beispiel die »Bergpredigt«, und solche, die den Menschen nur als »völlig sündhaftes Wesen« sehen, dem jede »Selbstbestimmung« genommen ist.
Die Bibel atmet, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den Geist des Patriarchats, weite Teile des sogenannten Alten Testamentes den Geist des altisraelitischen Stammespatriarchats, aus dem auch der archaische Ritus der »Beschneidung« stammt, den der Apostel Paulus für die Christen verwirft (Gal.2.3). Dieser Geist verteufelt die Sexualität, vor allem die Homosexualität, diffamiert die Frauen und liefert die Kinder der Willkür des Vaters aus. Bei Verletzung der Stammesordnung droht meist die Todesstrafe, oft in Form von Steinigung.
Hier nur ein paar Beispiele dazu, was die göttliche Autorität alles so vorschreibt: Ein »widerspenstiger Sohn«, der nicht zur Räson kommt – wird gesteinigt (5. Mose 21.21). Ein Mädchen, das sich vor der Hochzeit entjungfern läßt – wird gesteinigt (5. Mose 22.21). Homosexuelle, für Gott ein »Greuel« – »beide sollen getötet werden« (3. Mose 20.13). Schon gleich zu Beginn der Bibel wird vom Jahwegott für Eva und alle Frauen verfügt: »Der Mann soll dein Herr sein« (1. Mose 3.16); und im Neuen Testament, in der »Christlichen Haustafel« (Epheser 5), die immer noch in den kirchlichen Trauungen eingeschärft wird, heißt es als unumstößliche Wahrheit: »Der Mann ist das Haupt der Frau ...« und, etwas später, »nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau«, die aber »gerettet werden kann dadurch, daß sie Kinder zur Welt bringt« (1. Tim. 2.14 f).
Diese und etliche andere Bibelstellen prägten das Frauenbild des »christlichen Abendlandes«, verstärkt noch von den bis heute hochgeehrten Kirchenvätern: »Das Weib ist ein minderwertiges Wesen« verkündet der Kirchenvater Augustinus (um 400 n. Chr.). »Das Weib ist ein Mißgriff der Natur«, es »verhält sich zum Mann wie das Unvollkommene und Defekte zum Vollkommenen«, so der Kirchenlehrer Thomas von Aquino (um 1250).
Genannt werden muß in diesem Zusammenhang schließlich auch der Augustinermönch Martin Luther, dessen Reformation 2017 mit vielen Steuergeldern groß gefeiert werden soll – ein Frauenverächter übelster Art. Eines seiner harmloseren Worte: »Die größte Ehre, die das Weib hat, ist allemal, daß die Männer durch sie geboren werden.« Schlimmer und außerordentlich folgenreich wurde, daß er, ganz fundamentalistisch, auf Grund des Bibelwortes »Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen« (2. Mose 22.17) dazu beitrug, daß durch ihn auch in den lutherischen Gebieten die »Hexenverbrennungen« groß aufflammten, so daß man feststellen muß: Ebenso wie, mit dem Philosophen Karl Jaspers gesprochen, »Luthers Ratschläge gegen die Juden Hitler genau ausgeführt hat«, muß man sagen: Luthers furchtbare Hexenpredigten mit dem Motto: »Laßt sie brennen!«, haben dazu beigetragen, daß unzählige unschuldige Menschen, vornehmlich Frauen, gejagt, gefoltert und verbrannt wurden. Diese Menschheitsverbrechen, von Kirche und Gesellschaft bis in die jüngste Zeit erfolgreich verdrängt, zeigen eindrücklich, wohin eine wortgetreue Übernahme von Bibeltexten führen kann.
Und einen solchen Glauben, die ganze angeblich irrtumslose Bibelbotschaft verbreiten zu müssen, halten »christliche Fundamentalisten« weiterhin für geboten. Es ist hoch an der Zeit, ihre Roll-Back-Aktionen ernst zu nehmen und die Öffentlichkeit auf ihre verhängnisvolle »Glaubensbasis« aufmerksam zu machen, wodurch das kritische Bewußtsein und die Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden und es, wie in der Vergangenheit oft geschehen, zur Volksverhetzung gegen Minderheiten, wie Homosexuelle, kommt.
Von den Parteien und besonders auch vom Familienministerium ist zu fordern, daß die genannten menschenfeindlichen Aussagen der Bibel ausdrücklich geächtet werden; dazu weise ich besonders auf die abscheuliche Geschichte des von Gott erwählten Jeftah (Richter 11. und 12. Kapitel) hin, der seine kleine unschuldige Tochter seinem Gott opfert und später, im Neuen Testament, Hebr. 11.32f, ob seiner Gerechtigkeit den Christen zum »Glaubensvorbild« angedient wird!
Die Politiker schließlich, die sich, wie beispielsweise Volker Kauder, mit ihren Grußworten zum »Marsch für das Leben« um alles »ungeborene Leben« lautstark bemühen, sind zu fragen, was sie denn für die geborenen Kinder tun, die weltweit verhungern oder in Kriegen, auch mit deutschen Waffen, ermordet werden. Volker Kauder, der einflußreiche CDU-Fraktionsvorsitzende, hat seinen Wahlkreis Rottweil/Tuttlingen gerade mit 57,8 Prozent wieder gewonnen. Hier, im Landkreis Rottweil, hat auch die berüchtigte Waffenschmiede Heckler & Koch ihren Firmensitz, deren G-3-Gewehre in vielen bewaffneten Konflikten verwendet werden. Laut Wikipedia (»Heckler & Koch«) sind »das G 3 und sein Ableger HK 33 in vielen Konflikten die häufigsten Mordinstrumente nach dem AK 47 (die russische Kalaschnikow, H. H.); statistisch werde alle 14 Minuten ein Mensch von einer Kugel aus einer HK-Waffe getötet«, darunter auch unzählige Kinder. Ein Protest Kauders gegen seine Heimatfirma H & K ist mir bisher nicht bekannt geworden. Hier gibt es zugunsten des geborenen Lebens noch viel zu tun; Herr Kauder, handeln Sie!
Der Artikel fußt auf Hartwig Hohnsbeins Redebeitrag anläßlich der Veranstaltung des Netzwerkes für sexuelle Selbstbestimmung in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Bildungswerk Berlin am 18.9.2013 in der URANIA, Berlin, zum Thema: »Ist die Sexuelle Selbstbestimmung in Gefahr? Der neue Einfluß christlicher Fundamentalisten«, siehe dazu auch den Bericht des Humanistischen Pressedienstes unter http://hpd.de/print/16747.