Witzig
Roda Roda erklärte einmal, er streite sich nie mit seiner Frau. Sie habe sich nämlich dahin mit ihm geeinigt, daß mal seine und mal ihre Meinung gelte. Das spiele sich so ab: Immer, wenn sie beide der gleichen Meinung sind, gelte seine, und wenn sie unterschiedlicher Meinung sind, die ihre. Des kuriosen Humoristen Ehefrau kann als Vorbild für große Politiker/innen angesehen werden.
Günter Krone
Glücklich vereint
Viel Theaterdonner, aber dann rasche Ruhestiftung: Die Spitzenkräfte von CDU/CSU und SPD einigten sich da-rauf, ihre Parteien ins großkoalitionäre Gehege zu führen, sondiert ist nun genug. Jetzt muß nur noch die sozialdemokratische Partei, wie Hannelore Kraft es so fürsorglich ausgedrückt hat, »auf diesem Weg mitgenommen werden«. Das wird gewiß gelingen. Die Mitglieder der SPD sind in ihrer großen Mehrheit längst daran gewöhnt, Entscheidungen ihrer Führung Akklamation zu geben. Und die Unionsparteien werden schlau genug sein, beim Entwurf des Koalitionsvertrags der SPD einige leichtgewichtige Zugeständnisse zu machen, die von deren Parteifunktionären als hart erkämpfte Erfolge vorgezeigt werden können, Politik dieser Machart vollzieht sich vor allem symbolisch. Und die Medien haben auch ihr Thema: Personalia – wer besetzt welches Ministerium.
An der Basis der SPD wird noch vorhandene Verdrossenheit wieder verschwinden. Die Kanzlerin stürzen, einen Kurswechsel in der regierenden Politik durchsetzen, die Bundesrepublik zur »sozial gerechten Gesellschaft umformen«? Schon in Wahlkampfzeiten haben auch treuherzige SPD-Mitglieder diese Versprechungen nicht so ganz ernst genommen, zumal der Kanzlerkandidat für deren Inszenierung ungeeignet war. Auch liegt ein Trost darin, daß die Vorstände der großen Gewerkschaften, ver.di ausgenommen, die Große Koalition befürworten.
Zwischen den Unionsparteien und der SPD besteht, trotz mancher Unterschiede in Detailfragen, eine gesicherte Übereinstimmung im Grundsätzlichen. Erstens: In der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik gilt die Maxime, die Konkurrenzvorteile der deutschen Exportunternehmen im internationalen Markt zu erhalten und zu festigen. Dem haben sich die Interessen der Lohn-abhängigen unterzuordnen. Ein Verlangen, den Prozeß der Umverteilung in seiner Richtung zu drehen, zugunsten der unteren Klassen, ist dann abwegig, es war nur kurzfristig nutzbar zwecks Wahlwerbung. Zweitens: Die Europa- und Euro-Politik, wie auch immer taktisch gestaltet, hat sich strategisch den Interessen der Machtzentren des Finanz-»Marktes« zu unterwerfen. Bei diesem liegt die Souveränität, von hier aus wird der Spielraum des Parlamentarismus bestimmt, darein hat sich »Volksherrschaft« zu fügen. Drittens: Die Bundesrepublik muß, schon aus ökonomischen Gründen, geopolitisch mitmischen als interventionsfähige Militärmacht. Auch deshalb ist die deutsche Rüstungsindustrie förderungswürdig. Bei alledem ist die Kontinuität eines Leitmotivs zu erkennen, das eine lange Tradition in der Sozialdemokratie hat: Einem nationalkollektiven »Standortinteresse« folgend soll »Burgfrieden« herrschen zwischen den sozialen Klassen und ihren Parteien oder Organisationen. Vor einhundert Jahren äußerte sich dieses ideologische Muster in der Formel, im weltweiten Wirtschaftskampf sei, was nützlich für Krupp, gut auch für Krause.
Heutzutage wird das feinsinniger ausgedrückt, es heißt dann etwa: »Gemeinsame staatspolitische Verantwortung in Situationen, die riskant sind im Hinblick auf die Globalökonomie.«
Insofern findet sich in der angebahnten Großen Koalition zusammen, was zusammen paßt. Eine Partnerschaft auf Dauer muß daraus nicht werden, die SPD darf sich auch nicht allzusehr abnutzen; ersatzweise stehen den Unionsparteien die Grünen zur Verfügung. Und wenn es tatsächlich für eine rosa-grüne Mehrheit gereicht hätte, wäre das »Standortinteresse« auch nicht zu Schaden gekommen; eine solche Koalition hat ihre diesbezügliche Bewährungsprobe ja schon effektvoll bestanden.
Die AfD-Partei wird vermutlich bei einer Großen Koalition weiteren Aufwind bekommen. Systemgefährdend ist das nicht, diese Scheinalternative hat ihre Funktion darin, Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik nationalpopulistisch zu kanalisieren. Die Linkspartei kann sich profilieren als Opposition gegen großkoalitionäre Übermacht. Aber wenn sie sich dabei aufs Parlamentarische beschränkt, wird diese Rolle randständig sein; der Parlamentarismus verliert in der Bundesrepublik stetig an Bedeutung für die gesellschaftspolitische Wirklichkeit. Die »Parteiendemokratie« – das zeigt sich auch im Prozeß der Regierungsbildung – hat ihre besseren Zeiten hinter sich.
Arno Klönne
Hautnahe Übung
Ein scharf munitioniertes Großmanöver veranstaltete die Bundeswehr in der Lüneburger Heide: Der Offiziersnachwuchs der Bundeswehr wurde für künftige Kommandotätigkeiten trainiert, um in fremdes Terrain einzumarschieren und dort »Unruhen« in »Ballungszentren« zu bekämpfen, »Häuserkampf« unter Einsatz von Panzern und Kampfflugzeugen zu betreiben. »Hautnah« sei geübt worden, rühmte die Berichterstattung. »Obsidia« war der Name für das fiktive Land des Manövers. Diese (an andere auf -a endende Ländernamen angelehnte) Bezeichnung ist vom lateinischen obsidium abgeleitet, was soviel wie »Einschließung«, »Belagerung« bedeutet. Nun können wir mutmaßen, in welchen Gegenden demnächst der Ernstfall stattfinden wird. (Näheres:
www. german-foreign-policy.com)
P. S.
Wertekanon
Unter den christlichen Werten rangiert der Euro an vorderer Stelle. Deshalb ist ehrfürchtiger Umgang mit ihm geboten. Wenn nun der Limburger Bischof für seine Hausrenovierung 31 Millionen Euro verschwendet, ist der gesellschaftliche Aufschrei verständlich. Ebenso verständlich ist, daß die Kritik an den betroffenen Ministern über die sehr viel höhere Geldvergeudung von 500 Millionen bei der Drohnenbeschaffung in den Medien viel leiser klingt. Das hängt mit der grundgesetzlich verankerten Trennung von Staat und Kirche zusammen. Folgenlose Geldverschwendung ist nur Politikern gestattet.
Günter Krone
Unter den Linden
19. Oktober um 12 Uhr mittags: Sie lagen zusammengedrängt in ihren Schlafsäcken auf dem Pflaster vor dem Brandenburger Tor, an die dreißig junge Männer, Schwarze alle – elf Tage schon im Hungerstreik, und sie rührten sich nicht, bis sie zu einer Lagebesprechung gerufen wurden. Nur einer von ihnen hatte sich schon aufgerichtet, nun stand er vor mir, Akili Jules Sawa aus dem Kongo, ein Maler, der von seiner Kunst nicht leben kann, der das Malen aufgegeben und sich in die Fremde durchgeschlagen hat, auf wirren Wegen bis hin nach Deutschland, und der nun wie die anderen ums Bleiberecht hungert. Mehr über sich selbst zu sagen, blieb ihm die Zeit nicht – »our meeting, you understand«. Ich verstand, und ehe ich ihn verließ, gab er mir dies mit auf den Weg: »Wir wurden mißachtet, ausgelacht und angefeindet, am Ende aber siegen wir. Denn wir sind im Recht. Wegen euch belagern wir das Brandenburger Tor, ihr habt uns dazu gebracht, eure Straßen zur Festung zu machen. Was in Lampedusa vor sich geht ist Mord. Dort finden Massenhinrichtungen an Menschen statt, die wegen des Elends, das ihr in unseren Ländern verursacht habt, ihre Heimat verlassen mußten. Bei euch liegt die Schuld, und wenn uns nicht geholfen wird, drohen Ereignisse, die in die Geschichte eingehen werden. Die Zeit läuft ab. Wir essen schon elf Tage nichts. Ab heute trinken wir auch nicht mehr, bis unsere Asylanträge anerkannt werden. Dazu sind wir entschlossen.«
Walter Kaufmann
Wenige Stunden später setzten die Flüchtlinge den Hungerstreik bis Mitte Januar aus. Ihre politischen Forderungen nach Asyl, Abschaffung der Residenzpflicht und einer Arbeitserlaubnis halten sie aufrecht.
Liebe Deinen Nachbarn,
liebe den Nächsten, liebe ... – so und ähnlich zweideutig und zugleich eindeutig hieß es in Wahlslogans der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), der österreichischen Partei aus dem ganz weit rechten Spektrum. Diese Partei schaffte es bei den Parlamentswahlen vom 29. September mit 20,6 Prozent und 40 Abgeordneten drittstärkste Partei hinter den Sozialdemokraten und der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) zu werden. Sie will und kann sogar mit der ÖVP und zwei kleineren, ebenfalls rechts einzuordnenden Parteien eine Koalition bilden und die Sozialdemokraten ausschalten.
2003 schaffte es Wolfgang Schüssel, damals Vorsitzender der ÖVP, den traditionellen Proporz zwischen der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) und der ÖVP zu sprengen. Schüssel holte die FPÖ unter Jörg Haider ins Boot, wurde dann endlich Bundeskanzler Österreichs, regierte mit denen vom äußerst rechten Flügel, und die Sozialdemokraten waren draußen. Einem Aufschrei der Empörung – sogar Boykottforderungen waren zu hören – folgte schnell die Gewöhnung. Man ging zur Tagesordnung über. Schüssel trieb es eine Periode mit den Ultrarechten. Darauf folgte das alte Proporzspiel: Die konservative ÖVP und die SPÖ bildeten ab 2007 wieder eine Regierung, damals unter dem Bundeskanzler Alfred Gusenbauer.
Das politische Klima in Österreich ist seit Jahrzehnten zunehmend durch Rassismus und Ausländerfeindlichkeit geprägt. Rechtsextreme, rassistische, faschistoide beziehungsweise faschistische Gedanken und Einstellungen gehören zum Alltag. Eine beträchtliche Zahl der Österreicher hält Ausländer für mißliebige Nachbarn. Dabei spielt auch keine Rolle, ob diese in Österreich geboren wurden oder schon seit Jahrzehnten dort leben. Ein Beispiel:
Yüksel Yilmaz ist türkischstämmiger Zugführer aus Niederösterreich und wagte es, sich über Hakenkreuze und rassistische Schmierereien wie »Stoppt Tierversuche – nehmt Ausländer«, vorgefunden in Aufenthaltsräumen und Toiletten des Bahnpersonals, zu beschweren. Er meldete das seinem Vorgesetzten und auch dem Vorstand der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB). Was geschah? Seine Kollegen mobbten ihn, auf einsetzende Depressionen folgte die Krankschreibung, im Mai 2013 dann die Kündigung, Yilmaz wurde vom Dienst freigestellt und im Juli schließlich fristlos entlassen. Ohne Begründung! Beschwerden über seine Arbeit gab es keine. Disziplinarische Verfehlungen und Strafvermerke irgendwelcher Art sind in seiner Personalakte nicht zu finden. Zur Zeit läuft durch Yilmaz‘ Anwalt eine Motivklage beim Arbeits- und Sozialgericht in Wien. Die Sprecherin des Vorstandes der ÖBB – Sonja Hornung – distanzierte sich im
kurier online von Rassismus und Diskriminierung in jeder Form: »Verstöße in diesem Bereich werden mit aller Konsequenz geahndet.« Die Entlassung von Yilmaz habe »arbeitsrechtliche Gründe«. Bei der Überprüfung der Personalräume habe man in keinem einzigen Fall die genannten Schmierereien gefunden. Yilmaz‘ Fotodokumentation wurden nicht beachtet.
Der hier aufgezeigte Fall des Zugführers Yilmaz untermauert das Wahlergebnis. Was ist in unserem Nachbarland los, muß man besorgt fragen.
Manfred Uesseler
Der lange Schatten
Unlängst bestätigte der Bundesgerichtshof ein Urteil des Berliner Landgerichts, das den früheren NPD-Vorsitzenden Udo Voigt im Oktober des vergangenen Jahres wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt hat. Anlaß waren Äußerungen Voigts in einer Stadtverordnetenversammlung, die nach Meinung der Richter eine Glorifizierung der nationalsozialistischen Waffen-SS darstellten. Bravo, ist man versucht zu sagen, wäre da nicht der lange Schatten der deutschen Nachkriegsgeschichte, in deren Verlauf die Waffen-SS von allerhöchster Stelle gerühmt wurde, ohne daß die Justiz dagegen einschritt. Der von der CSU gestellte Regierungssprecher Hans Klein war sich nicht zu schade, Partei für die Waffen-SS zu ergreifen, als deren Verbrechen im Zusammenhang mit dem makabren Besuch Helmut Kohls und Ronald Reagans auf dem Bitburger Friedhof mit seinen SS-Gräbern zur Sprache kamen. Die Waffen-SS sei doch »eine kämpfende Truppe« gewesen, meinte er entschuldigend in einem Interview der Illustrierten Quick vom 2. Mai 1989. Ihre Angehörigen seien keine Verbrecher gewesen, sondern hätten geglaubt, »ihr Vaterland verteidigen zu müssen«.
Die Anne-Frank-Stiftung nannte Kleins Äußerungen damals »unhaltbar und erschreckend«. Der SPD-Abgeordnete Ernst Waltemathe hielt dem Regierungssprecher vor, es sei eine Verhöhnung der Opfer, so zu tun, als sei die der NS-Rassenideologie verpflichtete Truppe eine ehrenwerte Einrichtung gewesen. »Jetzt lacht Hitler in der Hölle«, schrieb der amerikanische Außenminister George Shultz in seinen Memoiren zum Auftritt des US-Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers in Bitburg.
Die damaligen Regierungsparteien, CDU/CSU und FDP verteidigten Hans Klein und schmetterten einen Mißtrauensantrag gegen den Regierungssprecher im Bundestag ab. Alles vergessen. Nach seinem Tod wurde ein Medienpreis nach Hans Klein benannt, ohne daß sich Guido Knopp vom
ZDF an die Verharmlosung der Waffen-SS durch den Namensgeber erinnerte. Er bekam den Preis als erster.
C. T.
Geschichtsfälschender Zeit-Geist
Damit konnte Jürgen Trittin nicht rechnen: Sein langer Marsch vom Kommunistischen Bund zu den Bilderbergern führte am Ende dazu, daß er nun als bösartige Vorzeigefigur dient, um mit einer ganzen Generation abzurechnen, den sogenannten Achtundsechzigern. Und zugleich der historischen westdeutschen Linken. Wegen »pädophiler« Perversion. Eine »geistig-moralische Wende«, um mit Helmut Kohl zu reden, ist da im Gange. In ihrer dem Selbstverständnis nach konservativen Version ist sie zu beobachten etwa in den Beiträgen des
F.A.Z.-Politikredakteurs Jasper von Altenbockum; nun auch in einer liberalen, der
Zeit-Feuilletonredakteur Adam Soboczynski tut sich da lautstark hervor. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es gibt Konservative und Liberale, die nicht geprägt sind vom Ressentiment gegen alles, was irgendwie links war oder ist, aber sie haben derzeit massenmedial kaum eine Chance. Diskurspolitisch bedienen sich die Wendebetreiber einer plumpen, jedoch seit alters her bewährten Methode: Sie setzen trügende Generalisierungen ein: »Die« Achtundsechziger, »die« Linken, »die« Pädophilen. Auf diese Weise läßt sich jede Person, die seinerzeit gegen kapitalistische gesellschaftliche Verhältnisse oder für die (dann erfolgte) Reform des Sexualstrafrechts eingetreten ist, in die geschichtsdeutende Anklage wegen Kindesmißbrauch oder dessen Begünstigung einweisen. Soboczynski (er ist Springer-Preis-Träger) hat nun ein weiteres Schuldkollektiv ins Visier genommen: »Pädophiler Antifaschismus« ist sein Wendebeitrag überschrieben. Mit leichter feuilletonistischer Hand (seine Bewunderer rühmen diese) zeichnet er ein Bild kultureller Verirrung in den Jahren gegen Ende der Adenauerzeit: »Die« bundesdeutsche Linke und »die« Faschismustheorie jener Zeit hätten zur »sexuellen Befreiung als antifaschistischem Projekt« geführt.
Zeit-gläubige LeserInnen wissen so, wo sie die Schuld für Verbrechen an Kindern zu suchen haben. Der Antifaschismus war es. Der Faschismus sei übrigens, schreibt Soboczynski, von »den« Linken irrtümlicherweise sexueller Repression verdächtigt worden; tatsächlich habe das NS-Regime nämlich »sexuelle Entfesselung« betrieben. Und so erfahren wir bei der Abrechnung mit dem Antifaschismus nebenbei auch noch, daß in der faschistischen Zeit Homosexuelle versehentlich ins KZ geraten sind. Wer die
Zeit liest, lernt nie aus.
Marja Winken
Die andere Heimat
hat großes Aufsehen erregt. Der Film reiht sich ein in die aktuelle Heimatversessenheit, sieht sich aber als Gegenentwurf. Er behandelt die Zeit der Auswandererwelle im 19. Jahrhundert: Die völlig verarmte und verzweifelte, bis aufs Blut ausgebeutete Landbevölkerung rettet sich per Auswanderung nach Amerika und entkommt so den Folgen der Restauration nach der deutschen Revolution. Die damit verbundenen Illusionen, Sehnsüchte, Ängste und Gefahren sind Thema des Films.
Im Mittelpunkt steht ein junger Träumer, Jakob, er liest viel, gilt daher als arbeitsscheu und wird herumgestoßen. Er liebt ein Mädchen, scheu und unsicher. Zusammen mit ihr liest er über die Indianer und daß man ihnen friedlich gegenübertreten muß, träumt von Übersee. Das Mädchen wird später von Jakobs Bruder vergewaltigt und zieht mit dem in die Neue Welt. Der Träumer bleibt daheim. Der Film ist in schwarzweiß gehalten, zeigt dörfliches Elend, das wir heute als Idylle wahrnehmen, ist langatmig (vier Stunden) und nimmt einen physisch stark mit. Den Stil, in dem er gehalten ist, könnte man als Neorealismus auffassen, jede Handlung wird fast in Echtzeit zelebriert.
Mein Fall war das nicht, zu oft mußte ich an den anderen Film über Dorfleben denken: »Das weiße Band« von Michael Haneke. Welch ein Unterschied! Dagegen kam dieser Film nicht an. Weder von der Geschichte, die dramaturgisch zu wenig gestrafft ist, noch vom Ambiente, es wirkt wie eine Kulisse. Die Schauspieler sind teilweise miserabel, zum Beispiel die beiden Mädchen auf dem Tanzfest. Man wird einfach in dem Film nicht in die Zeit gezogen, die Akteurinnen wirken verkleidet. Aber auch der Hauptdarsteller hat zu oft das gleiche Gesicht, immer starrt er aus denselben dunklen Augen sinnend auf die Landschaft oder die Menschen, die Einstellung gerät zur Masche.
Der Film bleibt unpolitisch. Streiks und Rebellionen werden zwar gezeigt, aber auch das wirkt gespielt, abseits der Realität. Das Hochjubeln dieses Mammutprojekts ist mir ein Rätsel.
Anja Röhl
»Die andere Heimat. Chronik einer Sehnsucht«, Regie: Edgar Reitz
Berlin – Wladiwostok per Rad
8.30 Uhr. Kurz vor der Abfahrt. Ich gehe in einen Lebensmittelladen, um Getränke zu kaufen. Vor mir zwei junge Männer in Uniform, Wachpersonal. Sie flirten mit der Verkäuferin, halten den Laden auf. Ich sage: »Geht es vielleicht ein bißchen schneller?« Der eine, noch unter gestrigem Alkoholeinfluß stehende Wachmann, gutgelaunt, beachtet meine Bemerkung nicht. Der andere mustert mich, sagt aber nichts, nachdem ich ergänzt habe: »Das ist Rußland, wie es leibt und lebt.« Dafür antwortet ein Hinzugekommener: »In Rußland muß man halt Geduld haben.« – Wenn es mal so wäre! Wie oft habe ich erlebt, daß russische Männer an der Raststättentheke während meiner Bestellung ungeduldig dazwischenfunkten. Und wie oft mußte ich wegen von Ungeduld motivierter Überholmanöver auf der Straße ausweichen … Die Verkäuferin vom Lebensmittelladen lächelt zu allem, wohl sagen wollend: So sind sie halt, unsere Männer.
Vor mir liegen gut 800 Kilometer in hügeligem Gelände. Die Männer von
transrussia.com, die auf Rennrädern in einem Monat von Wladiwostok nach Archangelsk fahren wollen – unterwegs treffe ich nach dem Schweizer noch einen Franzosen und einen Russen – haben die Ost-West-Richtung nicht ohne Bedacht gewählt. Bei typischem Sommerwetter bläst der Wind auf dem Kontinent aus dem Osten. Dennoch: Für mich ist der Gedanke, erst mit dem Flugzeug oder Zug nach Wladiwostok zu reisen und von dort zurück, unerträglich. Ich möchte allmählich die Veränderung, die »Entzivilisierung« erleben.
Nach einer Nacht im Hotel »Zur Zeder« in Bolotnoje entscheide ich mich auf den Rat der Einheimischen hin für die erste Schotterpiste durch den Urwald. Wenn das Abenteuer glückt, spare ich 100 Kilometer. Nachdem ich mit der Fähre bei Jurga über den Tom übergesetzt bin, erwarten mich 40 und nach einer Übernachtung in Jaschkino noch mal 30 Kilometer Staub vorbeifahrender Autos. Immer wieder höre oder sehe ich die Transsib. Im Städtchen Taiga, fernab zentraler Versorgungspunkte, lädt mich Machir, der armenische Wirt eines Straßenbistros, zum Essen ein. Ich darf im Lagerraum am Personaltisch frühstücken. »Wegen des Fahrrades mach dir keine Sorgen. Das rührt keiner an«, sagt er, breitbeinig vom Podest aus die »schlecht gewordenen Leute« betrachtend.
Anschero-Sudschensk oder Anscherku, wie es die Einheimischen nennen, ist eine aufstrebende ehemalige Bergarbeiterstadt (Kohle aus dem Kusnezker Becken), nicht älter als 70 Jahre. Die Stadtväter haben sich bei der Modernisierung Mühe gegeben: neue, helle Wohnhäuser, saubere Straßen, Fußgängerzonen, neue Ampelanlagen, ein Park mit Spielanlagen, ein Stadion … Am frühen Abend gerate ich in eine Geburtstagsgesellschaft. Der Tisch voll, die Männer angetrunken. Laute Musik, Tanz. Ich fotografiere. Plötzlich ist Sascha weg, der Mann des 30jährigen Geburtstagskindes. Im Nachbarzimmer des Cafés, wo eine andere Gruppe feiert, Tumult. Sascha auf dem Boden, seine Frau mit blutender Nase. Aber es ist schon vorbei. Die Russen sagen: »Was willst du, ohne das geht es bei uns nicht. Die Emotionen müssen raus.« – Naja, ob die Erinnerung an eine Geburtstagsfeier, die auf dem Polizeirevier mit blutigen Kleidern endet, so angenehm ist, wage ich zu bezweifeln.
In Mariinsk gelange ich wieder auf die M 53. Von Atschinsk, der letzten größeren Stadt vor Krasnojarsk, habe ich nur die Aluminiumfabrik mit den gigantischen Abraumhalden in Erinnerung.
Noch einmal, in Bogotol, das sich als die Grenze zum Krasny Jar, der Schönen Senke, bezeichnet, muß ich schlafen. Direkt auf dem Bahnhof, in einem der »Zimmer für Erholung«, gut bewacht von mehr Dienstpersonal als Gästen. Aber vorher soll ich unterschreiben, daß ich nicht auf dem Zimmer rauchen werde. Bei der Bahn, das ist in Deutschland nicht anders, muß alles seine Ordnung haben. Mir ein Lächeln verkneifend, unterschreibe ich.
Uwe Meißner
Antike in München
Marathonläufer brachten sich kürzlich in Münchens Antikerezeption ein, als sie die Propyläen, die Glyptothek, die Antikensammlung, die Archäologische Staatssammlung und anderes umrundeten. In diesen Kunstsammlungen kurvte die Winckelmann-Gesellschaft ihrerseits durch die Räume und konnte die Antike und ihre Rezeption genießen und wie man am Genuß gehindert wird.
Großartig präsentieren sich antike Skulpturen in der Glyptothek. Im Antikenerwerb lag München zuweilen vor Berlin, bot größere Summen, während Wien so tat, als bekäme es Antiken geschenkt. Zu hören war, daß Preußen auf Anraten Karl Friedrich Schinkels eher Werke der Klassik kaufte, während Bayern der offeneren Begeisterung Leo von Klenzes folgte und entschlossen aus früherer und späterer Zeit kaufte, so die »barocke« Marmorskulptur des »Schlafenden Satyrs (Barberinischer Faun)«, um 220 v. Chr. Das schräg gelagerte Monumentalwerk ist in der offenen Form, seiner reichen Modellierung und im realistischen Erfassen des gelöst liegenden, schamfreien Schläfers einzigartig, den Johann Joachim Winckelmann als ein »Bild der sich selbst gelassenen, einfältigen Natur« empfand. Wie sich die Skulptur mit starker Bewegung in den Raum erstreckt, erinnert an pergamenische Kunst, damit an den Berliner Pergamon-Altar. Zu bedenken gab der vormalige langjährige Leiter der Glyptothek, der Archäologe Professor Raimund Wünsche, welchen Einfluß die Plastik auf Michelangelo gehabt haben könnte. Im 17. Jahrhundert gefunden, ergänzte Bernini das rechte Bein, das sie bei der allgemeinen Entergänzungsaktion behalten durfte.
Die methodisch exzellente und lehrreiche Ausstellung »Die unsterblichen Götter Griechenlands« präsentiert die Antikensammlung noch bis 19. Januar 2014. Gezeigt werden in Plastiken und Vasenbildern alle wichtigen Gottheiten mit ihren Merkmalen und Aktionen, wie sie sich mit regionalen Gottheiten verbanden, dadurch vielheitliche Mytheme gewannen und eigenständigem Willen folgten. So etwas kann man nicht wegkürzen und läßt am rationalistischen Zeus zweifeln, daß er Leda als Schwan mit dem langfristigen Plan schwängerte, die schöne Helena als Objekt für den Untergang Trojas einzusetzen. Der umfangreiche Katalog ist lesenswert und tiefgründig, mit zahlreichen Abbildungen, leider ohne Götter-Glossar, und außerordentlich preiswert (25 Euro).
Am Isarhochufer erhebt sich die »Villa Stuck« und bietet als Gesamtkunstwerk des niederbayrischen Malers, Graphikers und Bildhauers Franz von Stuck (1863–1928), Lehrer von Klee und Kandinsky, ein großartiges Beispiel von Antikerezeption um 1900 mit floralem Jugendstil. Die mythologischen Stoffe verband Stuck mit psychologischem und symbolischem Realismus. Im Vestibül setzte er gegenüber einem antiken Jüngling die Replik der mediceischen Venus und daneben ein Relief mit flötenspielendem Pan; im Alten Atelier den Altar mit »Die Sünde«, 1893, und das nachgeschaffene antike Orpheus-Relief; der Postschlitz als Medusenmaul; im Garten Flora auf Autoreifen. Auf merkwürdige Weise wird derzeit der »Malerfürst« zum 150. Geburtstag gewürdigt, indem man gegen seine Kunst neue bunte Plastefiguren in Farbpfützen von Richard Jackson, kopfstehende Schaufensterpuppen, in deren Arschloch Trichter getrieben sind, widerliche Angriffe fahren läßt.
Peter Arlt
Zuschrift an die Lokalpresse
In Auswertung des aktuellen Wissensstandes der Schüler und der Fähigkeiten der Lehrer stehen die Sachsen und die Thüringer vor allem in Mathematik und in den Naturwissenschaften an einsamer Spitze, und selbst Frau Minister Wanka sowie andere Bildungsexperten führen das unter anderem auf die Qualität der Lehrerausbildung in der DDR zurück. Das darf doch nicht wahr sein! Ich bin zwar in der DDR einst in den Lehrerberuf gezwungen worden und war jahrzehntelang in DDR-Schulen tätig – sogar als Direktor, aber das muß unter uns bleiben –, aber das hätte ich nicht zu sagen gewagt, nachdem der Unterricht in den DDR-Schulen nach den überzeugenden Informationen der Medien zum Parteilehrjahr und zur Spitzelschulung verkommen war. Zu den wenigen Ausnahmeschülern, die das geschickt zu umgehen wußten, gehören der aktuelle Bundespräsident und die aktuelle Bundeskanzlerin. Ex oriente lux et conductores! Aber mal ehrlich, dafür waren die Schüler der alten Bundesländer in puncto Selbstbewußtsein denen in den neuen Bundesländern schon immer überlegen. Sie wußten zwar weniger, aber das mit aller Kraft. Jetzt muß es darauf ankommen, das Bildungsniveau aller Bundesländer anzugleichen. – Wilhelm Wunderlich (76), Pädagoge im Ruhestand, 15306 Regenmantel
Wolfgang Helfritsch