erstellt mit easyCMS
Titel2319

Bemerkungen

Klage und Hoffnung

 

Wie ein Grabstein steht die Stille

zwischen Baum und Strauch im Garten;

hingemäht des Herbstes Fülle –

jetzt beginnt das lange Warten.

 

Aus der grauen Wolkendecke

taumelt Schnee auf Zaun und Ranke;

schwarz die Amsel in der Hecke,

wie ein finsterer Gedanke.

 

Banges Herz – genug der Klage!

Wollen lieber daran denken,

dass die nächsten Frühlingstage

wieder neuen Mut uns schenken.

C. T.

 

 

Krieg und »Verschissmuss«

Natürlich: Sabotage. Am Kranz der SPD-Ratsfraktion in Mülheim an der Ruhr stand: »Den Opfern von Krieg und Verschissmuss«. Erst nachdem er mit den anderen Gebinden am sogenannten Volkstrauertag abgelegt worden war, entdeckte jemand die Zeile auf der Schleife. Vorher hatte sie offenkundig niemand bemerkt. Ganz klar: Sabotage. Trotzdem wollte die Mülheimer SPD der Sache nachgehen. Hieß es.

 

Vera Friedländer, die ehemalige Germanistik-Professorin, hätte abgewunken. Nicht nötig. Wenn die politische Klasse dieser Republik, zu der auch die SPD gehört, seit der Zerschlagung des Faschismus den Faschismus nicht mehr Faschismus, sondern nur noch Nationalsozialismus oder, modisch verkürzt, NS nennt, müsse man sich nicht wundern, wenn das klare Wort »Faschismus« aus der Sprache und aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Hätte sie gesagt. Unleserliches Fax hin oder her.

 

Die politisch zweckdienliche Substitution diente und dient seit siebzig Jahren der Verschleierung und der Denunziation. Die Nazis handelten weder »national« noch »sozialistisch«, sie handelten so imperialistisch wie die Konzerne, die sie an die Macht gebracht hatten und von der Versklavung der Völker Europas profitierten.

 

Ein Unternehmen hatte Vera Friedländer 1944 persönlich kennenlernen müssen. Da war sie sechzehn und hieß, Tochter einer jüdischen Mutter, Veronika Rudau. Sie wurde zur Sklavenfron verpflichtet und musste für die Salamander AG schuften. Gemeinsam mit Kriegsgefangenen und anderen Zwangsarbeitern, die aus halb Europa nach Berlin verschleppt worden waren, um gebrauchte Schuhe der »Wiederverwertung« zuzuführen. Dass die Schuhe aus Auschwitz und anderen Mordfabriken kamen, erfuhr Vera Friedländer erst später. Wie eben auch, dass mehr als zwanzig ihrer Verwandten von eben jenen Faschisten in Auschwitz und anderswo ermordet worden waren.

 

Jahrelang erforschte sie die Betriebsgeschichte eines der größten Profiteure des Naziregimes und machte dies schließlich publik: »Ich war Zwangsarbeiterin bei Salamander« (Das Neue Berlin, 2016). Damit zerriss sie den Schleier, den das Unternehmen aus Kornwestheim – wie unzählige andere in der Bundesrepublik auch – über seine Betriebsgeschichte von gutbezahlten Hofhistorikern hatte breiten lassen. Als Antifaschistin und Marxistin machte sie sichtbar: Im Tausendjährigen Reich akkumulierten die Konzerne und Kriegsgewinnler jenes Kapital, mit dem sie später das westdeutsche »Wirtschaftswunder« betrieben.

 

Damit finanzierte die Klasse auch die von einem ihrer namhaften Exponenten als »politische Landschaftspflege« bezeichnete Geschichtsklitterung. Zunächst um jenen Kontext zu verschweigen und zu verdrängen, dann um ihn zu verharmlosen. Seit 1990 benutzt man diesen Teil der eigenen kriminellen Vergangenheit vorzugsweise, um die »zweite deutsche Diktatur« zu kriminalisieren. Die zweite deutsche Republik verstand sich als »Diktatur des Proletariats« und als sozialistisch. Siehe: Namen und Attribute waren gleich. Leichenberge in den Konzentrationslagern und Aktenberge der Staatssicherheit, die weiße Linie auf der Selektionsrampe von Auschwitz und die im Grenzübergangs-Bahnhof Friedrichstraße. Keine Leichenfelder zwar, aber ein flächendeckendes »Auschwitz der Seelen« ... Die Perfidie verlor jedes Maß.

 

Wenn ich, als Freund und Verleger, bei Vera Friedländer auf dem Sofa saß, empörte sie sich leidenschaftlich über jede neue Unverschämtheit und Lüge. Nahezu erblindet, konnte sie nur noch mit Hilfe moderner Technik Texte lesen, das heißt, die Maschine las und verwandelte die Zeilen in vernehmbare Sprache. So nahm Vera unverändert Anteil an der Welt. Und wenn sie gebeten wurde zu reden, dann tat sie es auch: am Gleis 17 in Grunewald wie auf antifaschistischen Kundgebungen. Sie entrüstete sich über den wachsenden Antisemitismus und die fortschreitende Geschichtsvergessenheit. »Krieg und Verschissmuss«, welch höhnischer Beleg ...

 

Am 25. Oktober ist die Schriftstellerin Vera Friedländer, Autorin und Abonnentin des Ossietzky, für immer verstummt. Ihre Bücher aber bleiben.     

Frank Schumann

 

Preiswürdig

Düsseldorfs Stadtrat erhob im Jahr 2006 ein solches Geschrei, dass der österreichische Dichter Peter Handke den ihm zugedachten, von Düsseldorf gestifteten Heinrich-Heine-Preis ablehnte. Die Schauspieler Käthe Reichel und Rolf Becker sowie Ossietzky-Herausgeber und -Redakteur Eckart Spoo riefen damals dazu auf, für einen Berliner Heinrich-Heine-Preis zu spenden, den Handke gerade auch wegen seines ständigen Bemühens um die Wahrheit über Serbien erhalten sollte. Ziel war es, 50.000 Euro zusammenzubringen – ebenso viel, wie die Stadt Düsseldorf für ihren Preis hatte ausgeben wollen. Es gelang. Mehr als 500 Spender, darunter auch viele Ossietzky-Leserinnen und -Leser, trugen zum Erfolg bei. Handke nahm das Geld nicht für sich, sondern schlug von vornherein vor, es den Menschen im »Elendstrichter Europas«, in den serbischen Enklaven im Kosovo, zukommen zu lassen. Ostern 2007 reisten die Initiatoren des Berliner Preises zusammen mit dem damaligen Intendanten des Berliner Ensembles, Claus Peymann, der viele Handke-Stücke herausgebracht hatte, sowie der Berliner Fotografin Gabriele Senft, die immer wieder den Balkan bereiste und mit ihren Fotos Schicksale dokumentierte und Solidaritätsaktionen auf den Weg brachte, in die serbische Enklave Velika Hoča im Kosovo. In einer fröhlichen Zeremonie überreichte die angereiste Schar Handke das Preisgeld, der es an seine Tochter Leokadia weiterreichte, die es dem Bürgermeister des 700-Seelen-Dorfes übergab. Ossietzky dokumentierte die Reise mit einem Themenheft: »Kosovo. Was wir damit zu tun haben«. Es versammelt Texte von Käthe Reichel, Otto Köhler, Rolf Becker, Eckart Spoo, Gabriele Senft, Hannes Hofbauer, Alexander S. Neu, Sergej Guk und Ralph Hartmann. Außerdem – und das ist ein Novum für Ossietzky – Fotos, die Gabriele Senft während der Reise aufgenommen hatte.

 

Jetzt erhält Peter Handke den Literaturnobelpreis. Und die Jury hat sich zum Glück nicht vom Geschrei beeindrucken lassen, das sich nach der Verkündung erhob. Erleichterung bei Ossietzky, denn alternativ ein Preisgeld in dieser Höhe zu sammeln, wäre nicht einfach geworden. Auch Rolf Becker freut sich für Handke: »Dank an die im Nobelpreiskomitee, die es gewagt haben, sich dem – Peter Handke meist denunzierenden – Mainstream zu widersetzen. Nicht trotz, sondern wegen seiner Schriften über Jugoslawien gebührt ihm die Auszeichnung. Seinen Kritikern sei nahegelegt, Handke zu lesen, statt Vorurteile zu übernehmen, die Geschichte des NATO-Krieges zu hinterfragen, statt dem ›Gründungsmythos der Berliner Republik‹ (Otto Köhler) und der geschichtlich nicht haltbaren Rechtfertigung des ersten deutschen Angriffskrieges seit 1939 zu entsprechen. ›Sagt die Wahrheit, nichts als die Wahrheit‹ wurde uns nachgerufen, als wir das bombardierte Land am 29. Mai 1999 verließen. Peter Handke sagt sie, ungeachtet aller Benachteiligung, hat verschriftlicht, wozu wir gemeinsam mit Eckart Spoo als Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern beizutragen versucht haben: ›Dialog von unten statt Bomben von oben‹. Mit Heinrich Heine: Der Gedanke, den wir gedacht, lässt uns keine Ruhe, bis wir ihm einen Leib gegeben, bis wir ihn zur sinnlichen Erscheinung gefördert. Der Gedanke will Tat, das Wort will Fleisch werden.«

 

An fast allen Medien vorbei ging derweil, dass die serbische Stadt Varvarin der Fotografin Gabriele Senft die Ehrenbürgerschaft verliehen hat. Am 23. September nahm sie in der Stadt die Ehrenurkunde samt Plakette entgegen.

Die Varvariner Bürger waren 1999 Opfer zweier schwerer NATO-Luftangriffe.

 

Im Nachgang zur Auszeichnung schrieb Gabriele Senft in einem Dankesbrief an Gemeinderat, Bürgermeister und alle Varvariner im Oktober 2019: »Das erste Mal war ich im April 2001 in Ihrer Stadt und lernte die Varvariner Betroffenen eines schlimmen NATO-Kriegsverbrechens kennen. Und doch war das schon die Fortsetzung einer Entscheidung, die ich 1999 mit anderen deutschen Frauen und Männern traf. Diese waren wie ich entsetzt und empört, dass Deutschlands führende Politiker zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges wieder deutsche Soldaten in einen Angriffskrieg schickten. Im April 1999 hatten sich einige von ihnen entschlossen, ein Zeichen gegen diesen Krieg zu setzen, indem sie durch eine Busreise in die durch Bomben angegriffene Republik Jugoslawien energisch ein[en] Stop[p] der Bomben forderten. Am 24. April 2001 stand ich mit 130 anderen aus Deutschland und Landsleuten von Ihnen in Belgrad vor dem in der Nacht zerstörten staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender RTS. Bis dahin zurück reicht der mir selbst gegebene Auftrag, die Wahrheit über die Kriegsverbrechen gegen die Volksrepublik Jugoslawien auch als Fotojournalistin zu verbreiten. Ich danke allen, die mir das ermöglichten. […]«

 

Glückwunsch an Peter Handke und Gabriele Senft, dass sie sich in ihrer Suche nach der Wahrheit nicht beirren lassen.                                   

 

Katrin Kusche

 

Das Ossietzky-Themenheft (15/2017) ist noch zu haben: Sonderdruck, 72 Seiten, 6,50 € zzgl. 1,50 € Versandkosten, Bezug: ossietzky@interdruck.net. Im Verlag Wiljo Heinen erschien 2014 Gabriele Senfts Dokumentation »TARGET. Die Brücke von Varvarin«, 224 Seiten, 16,80 €. Das Buch liegt seit 2019 auch in serbischer Sprache vor (Verlag des RTS).

 

 

Keine Mehrheit für Pedro Sánchez

Pedro Sánchez, der stets links blinkt, um rechts zu überholen, bekam auch am 10. November wieder einmal keine absolute Mehrheit im spanischen Parlament. Seine Partido Socialista Obrero Español (PSOE) erlangte von den 350 Sitzen nur 120. Mit der Neuwahl wollte der politische Narziss nicht weiter auf die Linksstimmen von Unidas Podemos, aber vor allem nicht auf die Stimmen der katalanischen Parteien angewiesen sein. Diese Parteien hatten es aber Sánchez im Juni 2018 ermöglicht, einen Misstrauensantrag gegen die von Mariano Rajoy geführte Regierung und seine Partido Popular (PP) zu gewinnen. Bereits im April 2019 wollte Sánchez mit der Ciudadanos regieren, hätte sogar mit diesem Bündnis eine stabile Mehrheit gehabt. Nur der Wunschpartner verweigerte sich.

 

Die Wahl im November brachte im spanischen Parteienspektrum eine deutliche Verschiebung. Die PSOE verlor drei Sitze und die Linkspartei Unidos Popular sieben. Der große Verlierer aber, mit dem Sánchez im Frühjahr noch eine Koalition beginnen wollte, ist die rechtsliberale Ciudadanos – sie muss auf 47 ihrer zuvor 57 Mandate verzichten. Nach der Wahlniederlage trat ihr Vorsitzender Albert Rivera sofort zurück, legte auch sein Mandat als Abgeordneter nieder und verkündete seinen Rückzug aus der Politik.

 

Die PP konnte in der Wählergunst zulegen und entsendet jetzt 89 Abgeordnete ins Parlament. Der große Gewinner aber ist die profaschistische VOX, die 28 Sitze hinzugewann und nun mit 52 Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Damit ist sie drittstärkste Partei.

 

Der Aufstieg der VOX nahm den Anfang bei den vorgezogenen Regionalwahlen in Andalusien am 2. Dezember 2018, bei der linke Parteien ihre seit 1982 bestehende Mehrheit verloren. Mit zwölf Abgeordneten zog VOX ins andalusische Parlament in Sevilla ein und ist seitdem an der bürgerlichen Regierung von PP und Ciudadanos beteiligt. Inzwischen ist die Partei in Regional- und Kommunalparlamenten vertreten, auch im Europäischen Parlament. Die Eskalation des Katalonienkonflikts, der gewaltsame Protest nach der Verurteilung der zwölf Sezessionisten wie zu Franco-Zeiten, aber auch die Umbettung des Diktators Franco brachten VOX Wählerstimmen. So wurde der Ruf auf der VOX-Wahlparty »Puigdemont ins Gefängnis« zum Slogan der Wahlfeier.

 

Im spanischen Parlament sind aktuell 15 Parteien vertreten, haben 120 Sitze oder auch nur einen.

 

Zwei Tage nach der Parlamentswahl im November vollzog Pedro Sánchez eine Kehrtwende: Er will nun doch mit Unidas Podemos (UP) koalieren. Was über sechs Monate lang nicht ging, war plötzlich binnen 48 Stunden möglich. Völlig überraschend einigten sich am 12. November der amtierende spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez und Pablo Iglesias, Generalsekretär der UP, auf einen vorläufigen Koalitionsvertrag. Vor den Fernsehkameras von TVE1, Telecinco, Antena 3, Televisión de Catalunya – TV3 und LaSexta umarmten sich die neuen Verbündeten, die noch vor kurzem ihre Feindschaft offen – auch im Fernsehen – zur Schau stellten. Der Sinneswandel ist vor allem eine Kampfansage gegen die rechtsextreme VOX. Für Pablo Iglesias ist angesichts des VOX-Vormarsches die Zusammenarbeit der progressiven Kräfte eine historische Notwendigkeit. Im Koalitionsvertrag sollen mehrere Ministerien für Unidas Podemos vorgesehen sein, für Iglesias die Funktion des Vizepräsidenten.

 

Pedro Sánchez kündigte an, dass er in den nächsten Tagen für seine Wiederwahl zum Ministerpräsidenten Unterstützung bei weiteren Parteien suchen werde. Die Sozialisten bringen es mit UP derzeit auf 155 der 350 Sitze im spanischen Parlament, doch die Koalition kann auch auf die neue Linkspartei Más País (drei Abgeordnete) und die gemäßigten Nationalisten von der PNV im Baskenland (sieben Abgeordnete) zählen. Ob Ciudadanos dabei ist, wird sich zeigen. Deren zehn Abgeordnete weigern sich bislang, ihr Veto gegen eine Linksregierung aufzuheben. Es gibt noch Linksparteien in Katalonien und im Baskenland, die sich zu einer Linksregierung bekennen könnten.

 

Opposition und Wirtschaftskreise kritisieren derweil den vorläufigen Koalitionsvertrag. Der Vorsitzende der Partido Popular, Pablo Casado, bedauert, dass sich Pedro Sánchez für eine Koalition mit einer radikalen Partei entschieden habe. Der spanische Arbeitgeberverband CEOE bläst ins gleiche Horn, eine Linksregierung sei kontraproduktiv für die Wirtschaft.

 

Abwarten: Am 3. Dezember wird sich Pedro Sánchez als Ministerpräsident zur Wahl stellen.                   

 

Karl-H. Walloch

 

 

Walter Kaufmanns Lektüre

Die Erkundungen des Lucas Vogelsang und Joachim Król im ehemals geteilten Deutschland beginnen trefflich. Lange hatte sich die ostdeutsche Verkehrspolizistin Ursula Thom »nach drüben« gesehnt und zu gleicher Zeit Andreas Maluga aus dem Ruhrpott in die andere Richtung. Ursula Thoms Träume sollten erst kurz vor der Wende wahr werden, die des Andreas Maluga nie – denn der Kommunist aus der BRD wurde stets zurückgewiesen: In Bochum seien Leute wie er nötiger als im Osten. Maluga fügte sich brav, und was er im Lauf der Zeit (quasi nostalgisch) an genuinen DDR-Gegenständen zusammentragen wird, erweist sich später als nützlich bei Filmproduktionen mit östlichen Schauplätzen: Malugas DDR-Museum!

 

Kurzum, die lebensfrohe Ursula Thom, die in die weite Welt hinaus wollte, und der von der DDR begeisterte Andreas Maluga, der gern in dem aus seiner Sicht »besseren Deutschland« gelebt hätte, sie beide bestimmen die Richtung des Buches bis hin zu Vogelsangs und Króls Entdeckung des Ostseebads Boltenhagen, wo sie den einstigen Seemann Joachim Clausen befragen, der mit der DDR nie viel am Hut hatte, die DDR nicht einen Tag lang zurückhaben will, aber bei all seinen Weltreisen Boltenhagen treu geblieben ist, weil »der Ort von jeher anders gestrickt und auch schon in DDR-Zeiten multikulti« war.

 

Das über 250 Seiten starke Buch ist in seiner Gegenüberstellung west- und ostdeutscher Befindlichkeiten unterhaltsam und dabei lehrreich. Was sich über 1000 Kilometer Deutschland 30 Jahre nach der Wende dem staunenden Schauspieler und dem genau beobachtenden, genau hinhörenden Journalisten darbietet, erweist sich auch allgemein als erfahrenswert!                          

W. K.

 

Lucas Vogelsang/Joachim Król: »Was wollen die denn hier? Deutsche Grenzerfahrungen«, Rowohlt Verlag, 269 Seiten, 20 €

 

 

Die klappende Mauer

Der Intendant des Rudolstädter Theaters, der Dichter und Romancier Steffen Mensching, will jedes Jahr etwas aus eigener Feder an seinem Theater aufführen. In diesem Jubiläumsjahr nahm er ein Stück des Berliners Karsten Laske zur Uraufführung an und gab auch als Regisseur Eigenes hinzu. Wir vermuten mal, die großartigen musikalischen Intermezzi stammen von ihm, die alle Schauspieler von hoch droben den Zuschauern bieten: Zeit-Texte aus den Mauerfall-Zeiten, Gisela Steineckert bis Katja Epstein, musikalisch und textlich sacht ironisiert.

 

Ganz theaterpraktisch dient das Liedgut auch dem Umbau. Das ist hier eine klappende Mauer (Bühnenbild und Kostüme – Applaus für Monika Maria Cleres): da Ostbetongrau mit Stasi-Tisch und Stuhl, dort blümchenbunt – denn die Hauptfigur Konrad Polauke (Markus Seidensticker, Springinsfeld und Charmeur im Hawaiihemd) ist Blumenhändler in Steglitz, der seinen Gewinn durchs Währungsgefälle macht – im Osten für 80 Pfennige einkaufen, im Westen für 5,80 DM verkaufen. Nebenbei hat er in der DDR allerlei Kinder gezeugt, die im Jahr 1989 bei ihm auftauchen. Er muss sie drum vor seiner Geschäftsfrau und Geschäftsinhaberin (Verena Blankenburg: echte West-Tussi) verbergen. Sohn Maik (Philipp Haase) hat folglich einen Russen zu spielen und nennt sich Pawel Kortschagin. Freund des Hauses ist RIAS-Musikredakteur Olaf Leitner, der hier Breitner heißt.

 

Die Dialoge beginnen eher schwach, unsereins vermisst Menschings Wortwitz und Kalauerfreude. Dann werden sie stark, es gibt hübsche Chargen, als Beispiel sei Johannes Arpe als türkischer Kurde genannt. Zum Schluss folgte bei der Premiere stärkstes Getrampel.

 

Die Story ist da interessant, wo sie nicht nur Nacherzählung ist (WIR & das Jahr 1989), sondern versucht, die Weltgeschichte zu kippen, sprich: zu klappen. Das misslingt im Stück, ist aber dadurch höchst komisch. Nun ersehnt unsereins den 3. Oktober 2020, wenn alle Feierhuberei endlich endet.

Matthias Biskupek

 

Nächste Aufführungen von »Hilfe, die Mauer fällt!«: 8.12. – 15 Uhr, 21.12. und 31.12. jeweils 19.30 Uhr

 

 

Termine

1. Dezember, 17 Uhr, Rheinsberg, Musikbrennerei, Königstraße 14, 16831 Rheinsberg: Kabarettistische Weihnachtsstimmung? Geht das? Jane Zahn zeigt, wie es geht! Mit frechen Liedern und Texten zur Advents- und Weihnachtszeit gegen die allzu süße Engelchen- und Plätzchenstimmung: »Schräge Weihnachten«. Eintritt: 15 €, Karten: Telefon 033931-808900, E-Mail kontakt@janezahn.de. Weitere Vorstellungen am 7. und 20. Dezember, dann jeweils um 19.30 Uhr.

7. Dezember, 18.30 Uhr, Köln, Museum Ludwig: Verleihung des 2. Ehrenpreises für herausragende wissenschaftliche Expertise und zivilgesellschaftliches Engagement an den Historiker Prof. Dr. Hamit Bozarslan und an den Verfassungs- und Völkerrechtler Prof. Dr. Norman Paech. Laudator u. a. Ossietzky-Mitherausgeber RA Dr. Rolf Gössner. Veranstalter: Netzwerk kurdischer AkademikerInnen (Anmeldung an: info@kurd-akad.com).

12. Dezember, 19 Uhr, Berlin, junge-Welt-Ladengalerie, Torstraße 6: »Meinst du, die Russen wollen Krieg« – ein Abend mit Gina Pietsch & Frauke Pietsch gegen Kriege und Lügen

14. Dezember, 12–18 Uhr, Berlin, Galerie Olga Benario, Richardstraße 104, 12043 Berlin (U7 Karl-Marx-Straße): Solidaritätsbasar für Kuba. Veranstalter: FBK Freundschaftsgesellschaft Berlin-Kuba