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Titel2514

Danke, Frau Merkel!  (Georg Rammer)

Am Rande des G20-Gipfels in Brisbane nahmen Sie sich Zeit für ein überraschend langes vertrauliches Vier-Augen-Gespräch mit Rußlands Präsident Putin. Und das war gut so. Denn bald darauf hielten Sie in Sidney eine Rede – und die war eine echte Sensation. Die erwartete Abrechnung mit Putin und seiner Politik blieb aus. Offensichtlich hatte das lange Gespräch zu einem Wandel beigetragen, wie Sie selbst bekannten: »Wir sprechen miteinander, wir kennen uns. So festigt sich Vertrauen.« Sie haben verstanden, wie wichtig es ist, endlich aus der fatalen imperialen Logik auszusteigen.


Sie haben verstanden, daß man der Sehnsucht vieler Menschen in der Ukraine nach einem Land ohne Oligarchenwillkür und Korruption nicht mit hegemonialer Machtdemonstration begegnen darf. Das war nämlich Verrat an dem Verlangen der Ukrainer nach Unabhängigkeit. Sie, Frau Merkel, haben die Stärke zu einer selbstkritischen Haltung aufgebracht. Dem lag wohl die Einsicht zugrunde, daß die Einkreisung Rußlands, das Vertuschen der eigenen wirtschaftlichen und strategischen Interessen, die Lügen über die Maidan-Morde und die Kumpanei mit Faschisten die eigene Position unglaubwürdig macht und neue Lügen gebiert.


Gerade noch rechtzeitig haben Sie die Konsequenzen aus diesen Einsichten gezogen, bevor die Drohkulisse gegen Putin, die Hetze, die Dämonisierung und die Sanktionen gegen Rußland, die einen Regierungswechsel erzwingen sollten, immer mehr in eine kriegerische Eskalation münden konnten. Sie besaßen die – nennen wir es ruhig so – Größe, die Grundzüge der eigenen Politik kritisch zu bewerten, Fehler einzugestehen und die Notwendigkeit einer ehrlichen, friedenstiftenden Politik zu betonen. Denn Sie wissen auch: Kriege beginnen immer mit Lügen und Hetze gegen den »Feind«. Sie haben offenbar erkannt – und das ist zum Wohle Deutschlands –, daß die brutale Einkreisung Rußlands durch die NATO die Gefahr eines Krieges fast zwangsläufig erhöht. Es ist Ihnen hoch anzurechnen, daß Sie mit Ihrem Politikwechsel einen wesentlichen Beitrag gegen die Kriegsgefahr geleistet haben.


Lassen wir Sie selbst zu Wort kommen. In einer bislang nicht erlebten Offenheit bekannten Sie mit Bezug auf die Ukraine-Krise Fehler, wie sie schon vor 100 Jahren zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges geführt haben: »1914 verdrängten nationale Selbstgefälligkeit und kalte militärische Logik verantwortungsbewußte Politik und Diplomatie.« Und Sie stellen ehrenwert selbstkritisch fest, »daß es auch in Europa immer noch Kräfte gibt, die sich dem gegenseitigen Respekt und einer Konfliktlösung mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln verweigern, die auf das angebliche Recht des Stärkeren setzen und die Stärke des Rechts mißachten«. Die EU betrachte einen Nachbarstaat Rußlands, die Ukraine, als Einflußsphäre: »Das stellt nach den Schrecken zweier Weltkriege und dem Ende des Kalten Krieges die europäische Friedensordnung insgesamt in Frage.«


Sie schließen besorgt: »Ich frage: Wer hätte es für möglich gehalten, daß 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, nach dem Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas und dem Ende der Teilung der Welt in zwei Blöcke so etwas mitten in Europa geschehen könnte?« Sie verdienen mit diesem Bekenntnis höchste Anerkennung, Frau Bundeskanzlerin, wie auch Ihr flammender Appell: »Altes Denken in Einflußsphären, womit internationales Recht mit Füßen getreten wird, darf sich nicht durchsetzen.« Danke, Frau Merkel!

 

Anmerkung: Erst nach Redaktionsschluß erreichte den Autor die Nachricht von einer sinnentstellenden Übermittlungspanne. Dadurch hat sich ein bedauerlicher Fehler eingeschlichen: Die einzelnen Äußerungen der Bundeskanzlerin sind zwar korrekt wiedergegeben. Wie der vollständige Text ihrer Rede, der uns inzwischen vorliegt, zeigt, war aber Adressat ihrer Kritik nicht die EU und ihre eigene Politik, sondern … Putin. Der Autor bittet, diesen peinlichen Fehler zu entschuldigen. Er legt auch Wert auf die Feststellung, daß er seine Anerkennung und den Dank an Frau Merkel zurücknimmt.