Otto Köhler war 1966 bis 1971 Medienkolumnist von Rudolf Augsteins Spiegel. Aufgefallen war er der Spiegel-Spitze durch seine bissigen und treffsicheren Attacken in der Satirezeitschrift Pardon auf herrschende Meinungen und Meinungsmacher, besonders auf die Springer-Presse. Köhler reizte das Angebot, im Spiegel eine Namenskolumne zu schreiben – das durfte dort außer Augstein kaum ein anderer Journalist – und auch die Chance, das Publikum für seine dezidiert linke Medienkritik zu vergrößern. Im Vorstellungsgespräch mit Augstein, dem Verlagsdirektor und den Chefredakteuren kündigte er an, er werde Springer weiterhin attackieren. Augstein fand das gut, die Chefredakteure widersprachen nicht, und Köhler wurde eingestellt.
Otto Köhler durfte in seinen Spiegel-Kolumnen fünf Jahre lang ziemlich unbehindert schreiben, was er meinte. In dieser Zeit wurde ihm niemals ein Aufstieg in den Kreis der Ressortchefs und Blattmacher angeboten, und er hat ihn auch nie gesucht. Er wollte nur ein Arbeitszimmer mit besserer Luft, und das bekam er. Er blieb ein Outsider, anfangs ein Aushängeschild und ein Feigenblatt, am Ende dann ein qua politischer Immunreaktion abgestoßener Fremdkörper. Warum das möglich war, und zwar gerade in diesen fünf Jahren, das hat er in seinem Buch über Augstein, das auch viel Autobiographisches enthält, mit schonungsloser Selbstironie und mit luzidem politisch-ökonomischen Verstand beschrieben.
1966 war es so: Augstein suchte eine modernere Druckerei für den Spiegel, und die gab es im Hamburger Raum nur bei Axel Springer. Springers konservativ-reaktionäre Meinungsfabrik aber war politisch-publizistisch der Gegenpol zum Spiegel, der sich als liberales »Sturmgeschütz der Demokratie« profiliert hatte. Um vor den Lesern glaubwürdig zu bleiben, mußte der Spiegel beweisen, daß ihn der Druckauftrag nicht von Springer abhängig machte. Da war es doch eine geniale Idee Augsteins, einen Springer-kritischen Kolumnisten anzuheuern! Dazu schreibt Otto Köhler in seinem Augstein-Buch: »Und ich war wirklich lange dumm genug, nicht sofort zu merken, daß ich meine Stellung Axel Springer verdanke. Ich nahm mich zu wichtig, aber Spaß hat es gemacht.«
Der Spaß war Ende 1971 vorbei. Zu Weihnachten bekam Otto Köhler die Kündigung seines Vertrags als Medienkolumnist des Spiegel von Verlagsdirektor Hans Detlev Becker. Begründung: Es habe »zu keiner Zeit eine tragfähige Übereinstimmung über Thematik, Gestaltung und Kontinuität der Pressekolumne bestanden«. Diese Begründung war einerseits eine glatte Lüge (oder eine Selbstanklage des Spiegel-Managements) – denn wie hätte der Spiegel den Medienkritiker ohne jede Übereinstimmung überhaupt einstellen und fünf Jahre lang aushalten können sollen? Und sie posaunte unverhohlen hinaus, daß der Spiegel 1971 eine linke Medienkritik nicht mehr im Blatt haben wollte. In seinem Buch vermutet Otto Köhler, daß Becker sich eine rasche Publikation der politischen Gründe für die Entlassung sogar gewünscht hätte – denn die Anzeigenerlöse des Magazins waren 1971 um zwölf Prozent gesunken, und es galt, einem Anzeigenboykott der Wirtschaftsspitzen beim anscheinend zu links gewordenen Spiegel gegenzusteuern.
Otto Köhlers linke Medienkritik war also für den Spiegel 1966 geschäftsfördernd, 1971 geschäftsschädigend. Logisch, daß er 1966 begehrt und 1971 verstoßen wurde. Aber was war dazwischen eigentlich geschehen? Wie kam der Spiegel in den anzeigengefährdenden Ruf, ein linkes Blatt geworden zu sein, und weshalb war 1971 die Abwehr dieses Rufs für Augstein wichtiger als der Nachweis der Unabhängigkeit von Springer?
Nun, es gab in genau diesen fünf Jahren eine herrschaftserschütternde Studentenbewegung, die sich zur Außerparlamentarischen Opposition (APO) ausweitete, es gab 1969 massenhafte nicht von den Gewerkschaften organisierte Streiks in industriellen Kernbereichen, es gab in Frankreich im Mai 1968 fast eine von Arbeitern und Studenten getragene Revolution. Es gab in Bonn einen Wechsel zur sozialliberalen Koalition, deren Kanzler Willy Brandt das Ziel »mehr Demokratie wagen« verkündete. Und es gab in der Spiegel-Redaktion selber eine durch die APO inspirierte Basisbewegung der Redakteure gegen autoritäre Strukturen im Haus, die Augsteins absolute Macht in Frage stellte und ein Redaktionsstatut mit echter Mitbestimmung forderte. Als diese Bewegung etwa die Hälfte der Redaktion hinter sich hatte, zog Augstein die Notbremse und entließ deren wichtigste Wortführer: Alexander von Hoffmann, Hermann L. Gremliza, Bodo Zeuner im September 1971, Dieter Brumm und Otto Köhler im Januar 1972. Die uns unterstützende Hälfte der Redaktion hätte dagegen streiken müssen – das war ihr nicht möglich, also verloren wir.
Damals, 1971, hatte der antiautoritäre Kampf der »68er«, mit einer starken Beimischung von Kapitalismuskritik, schon echte Ängste der Machthaber in vielen Bereichen von Politik und Gesellschaft geweckt. Da drohte etwas aus dem Ruder zu laufen. Augstein war mit seiner Kündigung gegen uns Fünf geradezu ein Vorreiter für die Verteidiger der herrschenden Verhältnisse, etwa für die von der sozialliberalen Bundesregierung bald danach auf den Weg gebrachten Berufsverbote gegen Linke im öffentlichen Dienst.
Zurück zu Otto Köhler. Ich habe ihn »Wortführer« der redaktionsinternen Demokratiebewegung genannt, aber er war das auf andere Weise als wir vier anderen. Hoffmann, Gremliza, Brumm und ich hatten bei redaktionsinternen Wahlen kandidiert und gewonnen, hatten Papiere und Aufrufe formuliert, hatten in der hausinternen Öffentlichkeit das Wort geführt. Nicht so Otto Köhler. Er hat den Kampf um Mitbestimmung solidarisch unterstützt, aber er hat dabei das Wort auf die ihm eigene Weise geführt. Zum einen mündlich als Berater und Kritiker in unserer Gruppe. Er konnte Empörung entfachen, wo andere schon resigniert hatten, er konnte Fehlgriffe in unseren eigenen Texten und Reden aufspießen. Vor allem aber konnte er in seiner Rolle als Medienkolumnist des Spiegel darauf hinweisen, daß auch in anderen Presseorganen die Verleger kritische und für Mitbestimmung eintretende Journalisten feuerten. So etwas konnte der Spiegel-Verleger Augstein, der selber gerade dasselbe tat, natürlich nicht länger zulassen. Als Köhler darüber im Dezember 1971 eine Kolumne schrieb, teilten ihm die Chefredakteure mit, der Abdruck sei »nicht vertretbar«, weil davon »das Selbstverständnis der Spiegel-Redaktion tangiert« sei. Es war klar: Dieser Kolumnist war im Spiegel nicht mehr haltbar.
Rudolf Augstein konnte sich damals in seinen Hausmitteilungen nicht genug tun, antikollektivistische Ressentiments zu bedienen, an den Individualismus und die Künstlereitelkeit der (in Wirklichkeit anonymen) Spiegel-Schreiber zu appellieren und vor Entscheidungen durch »Vollversammlungen« zu warnen. Tatsächlich war es umgekehrt. Machthaber Augstein und das System Spiegel brauchten Konformisten und verlangten Konformismus von ihren Schreibern. Mitbestimmung, wie wir sie wollten, hätte kritischen Nonkonformismus wie den Otto Köhlers stärken und schützen sollen.
Otto Köhler war in unserem Kampf ein mitreißender solidarischer Solist. Danke, Otto!
Literatur: Otto Köhler: »Rudolf Augstein. Ein Leben für Deutschland«, Droemer, München 2002; Bodo Zeuner: »Veto gegen Augstein. Der Kampf in der Spiegel-Redaktion um Mitbestimmung«, Hoffmann und Campe, Hamburg 1972.
Bodo Zeuner wechselte nach seiner Entlassung beim Spiegel an die Freie Universität Berlin und war dort bis 2006 Professor für Politikwissenschaft.
Verlag und Redaktion Ossietzky gratulieren dem Ossietzky-Mitherausgeber Otto Köhler herzlich zum 80. Geburtstag.