»Wieso kannte ich den Scharr bisher nicht?« So fragten mich manche außerhalb Thüringens, als sie meine Begeisterung für Heinz Scharr an Bildern nachvollzogen. Wenig bekannt sein Opus Magnum: die Doraer Kupferreliefwand im KZ-Lager Dora-Mittelbau bei Nordhausen von 1979 mit ihrer grandiosen Figurensprache.
Heinz Scharr wurde 1924 in Sondershausen geboren, er wuchs bei der Großmutter in der Nähe Weimars auf, wo ihm im Schloß Ettersburg Erwin Heckmann zeichnerische Gehversuche beibrachte. Nach der Kriegsmarine und Kriegsgefangenschaft begann Scharr 1948 ein Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. »Es wurde gelernt, was gelernt werden mußte«, resümiert Heinz Scharr, der mit Werner Tübke zusammen studierte. Dennoch betraten sie unterschiedliche künstlerische Wege und schufen, ohne auf dem Boden des Grundgesetzes gelebt zu haben, die Kunst einer frei entwickelten individuellen Geprägtheit.
Es ist nicht möglich, Scharrs Werk in seiner Selbstentfaltung zu zeigen, ohne dem Künstler gegenüber seine früheren Stilphasen rechtfertigen zu müssen, um es ironisch zusagen. Aus diesem Grunde konnte zwar im Katalog aus kunsthistorischer Retrospektive der Entwicklungsgang seines Kunstschaffens dargelegt werden, während die Ausstellung beschränkt oder konzentriert sein Schaffen aus den achtziger Jahren bis zur Gegenwart präsentiert. Auf dem grauen Grund der Wände finden Ausstellungsbesucher in Bad Frankenhausen eine in sich harmonische Schau von Eisenplastiken, Radierungen, Zeichnungen, Collagen und einigen Holzschnitten, unter Weglassung der Holzskulpturen, surrealen Bilder zur Literatur und eben aller früheren Arbeiten.
Gewiß lassen sich in dem hallenartigen »Foyer«, über das man zum Panorama Tübkes gelangt, keine Einzelräume bilden, in denen Stilphasenbrüche gezeigt werden können, so aus der Zeit von 1950–64, als der junge Künstler Heinz Scharr zunächst mit einer deskriptiven Gestaltung der unmittelbar realistischen Kunst vom Alltag Besitz ergriff. Eine Zeit, da er als Mitglied im Verband Bildender Künstler und dem Dortmunder Künstlerbund an der Gesamtdeutschen Graphik-Ausstellung »Ein Bekenntnis zum Leben« von 1956 in München und Berlin (Ost) teilnahm. Dieser Widerstand gegen die Teilung Deutschlands ging von der DDR aus. In der Politik der BRD setzte sich niemand dafür ein. Später wurden diese Einheitsbestrebungen überall verschwiegen.
Die Schau beglückt in ihrer einzigartigen Geschlossenheit nicht allein den Künstler. Als Meister des Tiefdruckes fügt Scharr Farbradierung, Aquatinta, Kaltnadel, Reliefdruck in einem Blatt komplex und in bis zu 15 Stufen ineinander, verwebt die grafischen Strukturen souverän und prägt reliefhafte Figur-Grund-Beziehungen. Er verblüfft im Vexierspiel mit Baum- und Flußstrukturen, schafft sich wandelnde Bildzeichen, die als leitende Motive und freie Metaphern im Werk wiederkehren. In verschlüsselten Symbolbezügen stehen sie für Lebensschicksale, womit der Künstler auf besondere Weise die europäische Profan-Ikonographie bereichert.
Mit dem Paradigmenwechsel des Einheitsprozesses und dessen nachholender Korrektur wurde Heinz Scharr vielfach entdeckt. Aber dem lebendigen Schaffensprozeß Scharrs widerspräche, seine Ankunft im abstrakten Expressionismus als einen Endpunkt und Ausdruck freier Kunst anzusehen. Denn Heinz Scharr bleibt ein Entdecker in der Natur, der den Strukturen der Lebensprozesse nachforscht, um sie mit einer einzigartigen Verdichtung in die Kunst herüberzuholen.
Der Arbeit für Dora dankt Scharr sein Atelier im Komturhof Utterode, der früher einmal der preußischen Oberförsterei gehörte. Letztere wurde bedeutsam für die ungewöhnliche Bildform von Collage-Zeichnungen in der Folge »Oberförster von Kleist« ab 1991. Blätter, die mit Chinatusche und Rohrfeder, oftmals kombiniert mit noch anderen Techniken, auf historischen Schriften aus der in Utterode einst angesiedelten Königlich Preußischen Oberförsterei ausgeführt und auf Zeichenkarton montiert sind. Aus Schriftkultur wurde Tapete. Durch Heinz Scharr verliert sie den Zweck als Hilfspapier und gewinnt die Qualität als Schriftgut wieder, weil Scharr die historischen Zeugnisse überzeichnete und sie mit diesem Akt künstlerischer Verdichtung auf eine neue kulturelle Ebene hob.
Heinz Scharrs Plastiken entstehen aus Eisen, kantig, scharf, spröd, schrundig, das er zusammenschweißt, oder aus Eisenblechen, die er mit einem großen Hammer verbeult, faltet und entfaltet. Eisenstäbe, Rohre, Armierungen, Flansche, Schrauben, Muttern, Eisenplatten montiert und fügt er in einem oft langen Prozeß mit Humor in einer Ikonographie des Materials zum profanen Sinnbild.
Wie seine Phantasie aus dem Realen angeregt wird, zeigt die Pracht der neuesten Zeichnungen mit Rohrfeder in China-Tusche aus den Jahren 2012 bis 2014. Bescheidene, wilde Gewächse auf Rain und Wiese in bewegtem Wogen und Geknicktsein unzähliger Stengel, undurchdringliches Gewebe. In »Gewitter über dem Dün« spiegeln Pflanzen menschliche Empfindungen in bedrohlichen Situationen. Die mehrteiligen Zeichnungen »Knochenholz« sind einzigartige Vanitas-Darstellungen. Strauchwerk und Gezweig läßt der Künstler zu Rippen werden, zu Kaskaden von Skeletten. Welch klare Übersicht in der temperamentvollen zeichnerischen Bewegung, welche Kraft der Natur, welche Kraft des Künstlers!
Die Museen Thüringens sollten mit dem Künstler beratschlagen, was zu tun wäre, um Heinz Scharrs Werk zu erwerben, auf Dauer zu erhalten und zu zeigen.
Panorama Museum Bad Frankenhausen bis 15. Februar 2015, Di bis So 10 – 17 Uhr; Katalog »Heinz Scharr – Kraft der Natur«, 190 Seiten, 27 €