»Wir haben die Blockade durchbrochen«, rief Boris Johnson, der Wahlsieger des 12. Dezember, seinen jubelnden Anhängern zu. Gemeinsam feierten sie den größten Sieg der Konservativen seit Margaret Thatchers Triumph 1983. Die gedemütigte britische Labour Party muss in den Geschichtsbüchern gar bis 1935 zurückblättern, um ein ähnlich deprimierendes Wahlergebnis zu finden. 368 von 650 Sitzen entfallen auf die Tories, die vorher nahezu alle alten Anhänger von Cameron oder May, die sich geweigert hatten, den »Get Brexit done!«-Kurs zu unterstützen, von den Vorschlagslisten ihrer Partei entfernt hatten. Die Mehrheit für Johnson ist damit stabiler, als selbst in den kühnsten Träumen der Brexit-Befürworter angenommen. Zwar dauerte es keine 24 Stunden, bis insbesondere auf dem europäischen Kontinent schon wieder darauf hingewiesen wurde, der Erdrutschsieg sei dem Wahlsystem geschuldet, und genau genommen stünden Mehrheiten hinter Parteien, die so einen klaren »Leave!«-Kurs abgelehnt hätten. Aber es ist wie immer im bürgerlichen Parlamentarismus – ob in den USA, Japan, Deutschland oder Großbritannien: Es geht nicht um Fliegenbeinzählerei, sondern um Politik, nicht um Statistik, sondern um Macht.
Die hat jetzt Boris Johnson, und damit sind auch alle Illusionen, die herrschende Klasse Großbritanniens werde ein zweites Mal über den Brexit abstimmen lassen, Schnee von gestern. Das Vereinigte Königreich wird die vor allem von Deutschland geprägte Europäische Union verlassen.
Das ist nicht das Ergebnis von Durcheinander und Irrwegen. Hier in Ossietzky (Nr. 2/2019) habe ich frühzeitig darauf hingewiesen, dass in dem vermeintlichen Chaos auf der Insel für jeden, der sehen will, eine klare Linie erkennbar ist: Die herrschende Klasse der stärksten europäischen Militärmacht westlich von Russland hat sich der Einschätzung ihrer Klassenkameraden in den USA angeschlossen, dass es ihre gemeinsame historische Mission des 21. Jahrhunderts ist, die drohende Infragestellung ihrer Dominanz durch China, unterstützt von einem vom Westen unabhängigen Russland, um jeden Preis zu verhindern, bevor es zu spät ist – auch um den Preis eines großen Krieges willen.
Johnsons Sieg lenkt nicht nur den Blick auf Margaret Thatcher und ihren Sieg, den sie im blutigen Windschatten des gewonnenen Falkland-Krieges und den dadurch ausgelösten nationalen Taumel errungen hatte. Er lenkt den Blick auch auf Winston Churchill, dem Johnson, kaum zum Bürgermeister von London gewählt, eine Biographie gewidmet hatte, von der die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 14. Dezember zutreffend schreibt, darin werde »der britische Kriegspremier verherrlicht«. Ob in dem Buch oder in diversen Artikeln und Reden: Johnsons Bezugspunkt ist Winston Churchill – und nicht in seiner Rolle als Premierminister der 50er Jahre, sondern eben als Kriegspremier.
Das erste Etappenziel des hier in Ossietzky vor knapp einem Jahr angekündigten Weges ist erreicht: Mit Zustimmung des britischen Volkes werden die Verbindungen Großbritanniens zu Deutsch-Europa gelockert. In einem zweiten Schritt werden die zu den Vereinigten Staaten von Amerika gestärkt werden – ökonomisch, politisch und vor allem militärisch. Politisch rücken die stärkste Nation Nordamerikas und die militärisch stärkste Westeuropas immer enger zusammen. Gewinnen dann noch – wie seit langem bemüht – die Kräfte Japans, die den Friedensartikel 9 aus der Verfassung kippen wollen, die Oberhand, ist möglicherweise die kritische Masse erreicht, um dann dem aus Londoner Sicht seit Rapallo immer schwankenden deutscheuropäischen Block die Frage zu stellen: »Zu wem haltet ihr – zu Russland/China oder zu uns?« Bis dahin wird sich, um den Sieg zu stabilisieren, Johnson bemühen, Labour nicht wieder ins Spiel kommen zu lassen: Er zeigte sich demütig denjenigen gegenüber, die aus den vormals roten Industriegebieten Mittelenglands von Labour zu den Tories übergelaufen sind – und betonte, welche »Perle« doch das kostenlose nationale Gesundheitssystem sei, das er verspreche, zu pflegen und zu neuem Glanz zu polieren. Patriarchisch-sozial nach innen und waffenbereit nach außen – auch das war ein Rezept Winston Churchills. Der neue britische Kriegspremier Boris Johnson wird versuchen, es auf das 21. Jahrhundert anzuwenden.