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Handke allein im Krieg  (Daniela Dahn)

Die bisweilen hasserfüllte Debatte um Peter Handke hat vor allem eins offenbart: das unaufgearbeitete Geschichtsbild des vermeidbar gewesenen Krieges auf dem Balkan. Handkes einsame Parteinahme für einen Fortbestand Jugoslawiens und einen gerechten Umgang mit den als »Tätervolk« denunzierten Serben hat aufgestaute Emotionen aufwallen lassen. Aggressionen, die der demütigende Kotau vor einem politisch motivierten Trugbild auslöst. Die angeblichen Gründe, die das Bombardieren rechtfertigen sollten, waren genauso erlogen wie später die behaupteten Massenvernichtungswaffen im Irak. Dennoch ist es den Verantwortlichen gelungen, diesen Krieg ohne UN-Mandat, der völkerrechtlich ein Angriffskrieg war, als gerechten, ja berechtigten Krieg in die jüngste Historie eingehen zu lassen. Als ein Krieg, in dem, verkürzt gesagt, die nach Freiheit strebenden Teile des zerfallenden Jugoslawiens vor den nationalistischen, völkermordenden Serben und ihrem Despoten Milošević geschützt werden mussten. Und die meisten Juristen und Intellektuellen haben sich dieses Zerrbild gefallen lassen.

 

Da hat Handke gestört, weniger mit seinen ganz ihm eigenen Antworten als mit seinen Fragen vor Ort und vor dem Weltgewissen. Fragen, die all die vermeintlich Einsichtigen unterlassen hatten. Seine publizistische Hinrichtung erfolgte damals vor journalistischen Standgerichten und wurde nun unter nobeler Beleuchtung zum zweiten Mal exekutiert.

 

Derweil hatten sich die Gründe für Fragen nicht erledigt: Der norwegische Nestor der Friedensforschung, Johan Galtung, nannte als wirklichen Kriegsgrund die Disziplinierung des »Fremdkörpers« Serbien als letztes mit Russland und China verbundenes Land in Europa, das sich der neoliberalen Vereinnahmung widersetzte. Jugoslawien stand auch Anfang der 90er Jahre noch für den Versuch eines dritten Weges, der dann schneller zerbombt war als analysiert. Es gehe, so zitierte Die Zeit am 8. März 1996 einen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, um den Kampf der Marktwirtschaft gegen die Kommandowirtschaft. (Also um die Systemfrage.) »Wir sollten uns deshalb Veränderungen der heute bestehenden Grenzen im östlichen Europa nicht kategorisch entgegenstellen.«

 

Als Beleg für Miloševićs nationalistisches Streben nach einem Großserbien galt ab sofort seine Rede im Juni 1989 auf dem Amselfeld, aus der nun abschreckende Zitate kursierten. Nach dem Krieg hat der Ermittler Greg Ehrlich eine US-Regierungsniederschrift der Rede veröffentlicht, die alle jene Zitate als frei erfunden auswies. Dafür enthielt sie nun die weggelassenen Passagen, in denen es um die notwendige Verständigung zwischen den Völkern ging. Plötzlich klang die Rede recht vernünftig, interessierte aber niemanden mehr.

 

Noch bevor der Bürgerkrieg ausbrach, plädierten im Bundestag Abgeordnete aller Fraktionen (außer der PDS) für eine schnelle Anerkennung Kroatiens und Sloweniens und damit für den Zerfall Jugoslawiens. Keiner von ihnen fragte, ob derartige Abspaltungen ohne Referendum von der jugoslawischen Verfassung vorgesehen seien. Das Selbstbestimmungsrecht der schon unter Hitler verbündeten, katholischen Kroaten wurde anerkannt, nicht aber das der damals zur Vernichtung im KZ Jasenovac freigegebenen, orthodoxen Krajina-Serben, die jetzt ebenfalls autonomes Gebiet beanspruchten. Erst nach diesen Signalen doppelten Standards ging die jugoslawische Bundesarmee äußerst gewaltsam gegen die Abtrünnigen vor, zunächst in Dubrovnik, dann in Vukovar. Der Präsident der Teilrepublik Bosnien-Herzegowinas, Izetbegović, warnte, sein Land werde in den Bürgerkrieg hineingezogen, wenn die EU die Abspaltungen anerkenne. Doch Ende 1991 erfüllte der damalige Außenminister Genscher als europäischer Vorreiter Slowenien und Kroatien den auch westlichen Wunsch.

 

Absehbar folgte die Unabhängigkeitserklärung Bosnien-Herzegowinas, die der Westen 1992 ebenfalls schnell anerkannte. Zwei Tage später begann die erbarmungslose Belagerung Sarajevos durch serbische Truppen. Im Süden Europas setzten nicht mehr für möglich gehaltene Vertreibungen und Morde der so neu verfeindeten Volksgruppen ein. Die CIA verbreitete, dass 70 Prozent der Kriegsverbrechen von Serben ausgegangen seien. Die NATO ergriff einseitig Partei und bombardierte militärische Ziele und Infrastruktur der bosnischen Serben.

 

Der angeheizte Bürgerkrieg gipfelte schließlich in den Massakern von Srebrenica. Wo immer die Mütter der Opfer heute demonstrieren, steht alles Recht der Welt auf der Seite ihres Schmerzes. Wer immer was davon erzählt, ihre Söhne erweckt keine Deutung zum Leben. Allerdings sollte auch niemand den Eindruck erwecken, sie seien durch dichterisches Erzählen umgekommen. Und verschweigen, dass die Ermittlungen, einschließlich derer in Den Haag, immer noch umstritten sind. Philip Corwin, höchster UN-Vertreter in Bosnien bis 1995, schrieb in seinem Buch »Dubious Mandate«: »Was in Srebrenica geschah, war nicht ein einziges, großes Massaker von Serben an Moslems, sondern eine Serie von sehr blutigen Angriffen und Gegenangriffen über eine Zeitspanne von drei Jahren, die im Juli 1995 ihren Höhepunkt erreichte.« Der US-Medienanalyst Edward S. Herman sprach davon, dass die einseitige Schuldzuschreibung des ›Massaker von Srebrenica‹ »der größte Propagandatriumph« sei, der aus den Balkankriegen hervorgegangen ist.

 

Für eine Gleichschaltung der öffentlichen Meinung war gesorgt. Die Buchautoren Mira Beham und Jörg Becker haben 31 PR-Agenturen erfasst, die für alle nichtserbischen Kriegsparteien tätig waren. Allein Kroatien zahlte mehr als fünf Millionen Dollar an US-Agenturen. Propaganda-Ziele waren: Darstellung der Serben als Unterdrücker und Aggressoren, wobei sie mit den Nazis gleichzusetzen und entsprechend emotional geladene Begriffe zu etablieren sind; Darstellung der Kroaten und Bosnier als unschuldige Opfer, wobei die Eroberung der serbischen Krajina als legal hinzustellen ist; Völkermordanklage gegen Jugoslawien und Milošević in Den Haag, günstige Verhandlungsergebnisse für die albanische Seite in Rambouillet und Sezession Montenegros.

 

Besonders hervorgetan hat sich die PR-Agentur Ruder Finn aus Washington, D. C. Ihr Direktor James Harff prahlte im französischen Fernsehen, wie professionell sie einen Artikel aus dem New York Newsday über serbische Lager aufgegriffen hätten: »Es gehört nicht zu unserer Arbeit, den Wahrheitsgehalt von Informationen zu prüfen. Unsere Aufgabe ist es, uns dienliche Informationen schneller zu verbreiten. Wir überlisteten drei große jüdische Organisationen und schlugen vor, dass diese eine Annonce in der New York Times veröffentlichen und eine Demonstration vor der UNO organisieren. Das war ein großartiger Coup. Als die jüdischen Organisationen in das Spiel auf Seiten der muslimischen Bosnier eingriffen, konnten wir sofort in der öffentlichen Meinung die Serben mit den Nazis gleichsetzen. Niemand verstand, was in Jugoslawien los war. Mit einem einzigen Schlag konnten wir die einfache Story von den guten und den bösen Jungs präsentieren, die sich ganz von allein weiterspielte. Niemand konnte sich mehr dagegen wenden, ohne des Revisionismus angeklagt zu werden. Wir hatten hundert Prozent Erfolg.«

 

Durch derartige Manipulationen versteht bis heute so gut wie niemand, was in Jugoslawien los war. Wer auch nur den Hauch einer Ahnung haben wollte, musste sich schon selbst auf den Weg machen. Er habe in das Land der »allgemein sogenannten ›Aggressoren‹« wollen, schrieb Peter Handke in der »winterlichen Reise«, weil es ihm am wenigsten bekannt war und am meisten betroffen von den »Verspiegelungen« der Medien. Am Anfang war er als zweifelnder Augenzeuge allein im Krieg. »Wer war der erste Aggressor?« fragte er eigenwillig. Zum Glück gibt es so etwas noch, eigener Wille. Viele waren es nicht, die später folgten, ohne Dienstauftrag und Reisekostenabrechnung. Allen voran Eckart Spoo, der Gründer dieser Zeitung.

 

Eins wurde klar: So grausam die Kämpfe in Srebrenica in jedem Fall waren, sie hatten keinen ursächlichen Zusammenhang zu dem vier Jahre später geführten Krieg um die Abtrennung des Kosovo. Dazwischen lag das Friedensabkommen von Dayton, das im November 1995 den Bosnien-Krieg beilegte. Doch war die Zerschlagung Jugoslawiens noch nicht vollendet. Seit Entstehen der kosovarischen UÇK 1996 wurde diese Kampfgruppe eng vom BND betreut, der eine seiner größten Regionalvertretungen in Tirana einrichtete. Nein, ganz allein stand Handke nicht. So sendete das ARD-Magazin Monitor am 9. Juni 1998 ein Interview mit einem MAD-Mitarbeiter, der die Lieferung von Waffen im Wert von zwei Millionen Mark an die Albaner als »von ganz oben« erwünscht bezeichnete. Trotz des UN-Waffenembargos rüsteten auch die USA die albanische UÇK mit illegal nächtlich eingeflogenen Waffen auf.

 

Ein Bericht des Auswärtigen Amtes vom November 1998 erklärte den Konflikt nachträglich so: Seit Ende 1995 wurden mindestens 200.000 serbische Vertriebene aus Kroatien und Bosnien auf Jugoslawien verteilt, 10.000 auch im Kosovo, weniger als anderswo. Dies werteten die Kosovo-Albaner in ihren Medien als erneuten Versuch der Kolonialisierung. Seit April 1998 häuften sich Anschläge der UҪK auf Polizeistationen. Da mancherorts die Polizei floh und auch Verwaltungsämter und Post ihre Arbeit einstellten, konnten die Freischärler die dortige serbische Zivilbevölkerung angreifen und »befreite Gebiete« ausrufen. Erst da begannen die jugoslawische Armee und paramilitärische Einheiten mit exzessiver Gewalt zurückzuschlagen. »Politisch aktive albanische Volkszugehörige werden nicht wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, sondern als ›Separatisten‹ verfolgt«, so der Bericht.

 

Noch zwei Tage vor Beginn des NATO-Krieges hieß es im Lagebericht der Bundeswehr: »Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen.« Das bestätigten auch die OSZE-Beobachter vor Ort. Ende 1998 habe es keine größeren Kämpfe zwischen den Parteien mehr gegeben, sondern einzelne Überfälle und Feuergefechte, für die man sich gegenseitig verantwortlich machte. Eindeutig auch die im Kosovo eingesetzte US-Diplomatin Norma Brown: »Jeder wusste, dass es erst zu einer humanitären Krise kommen würde, wenn die NATO bombardiert.«

 

Und es war keine »unbestreitbare Tatsache, dass die Belgrader Führung, und nur sie, die diplomatischen Bemühungen hat scheitern lassen«, wie Kanzler Schröder den Abbruch der Friedensgespräche im März 1999 in Rambouillet kommentierte. Dem politischen Teil des Abkommens hatte Milošević im Gegensatz zu den Kosovaren zugestimmt. Woraufhin der serbischen Seite in letzter Minute als unverhandelbares Diktat die militärische NATO-Besatzung ganz Jugoslawiens vorgelegt wurde. Nie durfte hierzulande auch nur ein erklärender Satz des »Despoten« zu hören sein. »Es war unvorstellbar für uns«, sagte Milošević in einem UPI-Interview vom 30. April 1999, »dass unsere Ablehnung des Teils des Abkommens, über den mit uns nicht einmal verhandelt worden war, als Ausrede benutzt würde, um uns zu bombardieren.«

 

In dem Interview räumte er auch Verfehlungen ein: »Wir sind keine Engel. Aber wir sind auch nicht die Teufel, die zu sein ihr uns auserkoren habt. Unsere regulären Streitkräfte sind überaus diszipliniert. Anders verhält es sich mit den irregulären paramilitärischen Einheiten. Es sind schlimme Dinge passiert. Wir haben solche irregulären, selbsternannten Führer verhaftet. Einige von ihnen sind bereits angeklagt und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden.«

 

Mit Sicherheit ist es längst nicht immer so rechtsstaatlich zugegangen. Milošević wollte die staatliche Unabhängigkeit des Kosovo um jeden Preis vermeiden. Also mit Gewalt. Aber nicht mit Völkermord. Dieser ihm (und Handke gleich mit) auch in der jüngsten Debatte mit nicht weiter zu erklärender Selbstverständlichkeit zur Last gelegte Vorwurf ist falsch. Die noch während des Krieges veröffentlichte Anklageschrift des Haager Tribunals legte der Regierung unter Slobodan Milošević zum Ärger so mancher Politiker keinen Völkermord zur Last. Als Chefanklägerin Carla del Ponte von Le Monde gefragt wurde, warum dieser Anklagepunkt fehle, musste sie zugeben: »Weil es keine Beweise dafür gibt.« Damit war die Legitimation des Angriffs, der sich auf »Verhinderung eines Völkermordes« berief, schon Wochen vor Ende des Bombardements entfallen.

 

Die Mahnung des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan, Serben und Albaner trügen gleichermaßen Verantwortung für den Konflikt, wurde in den Wind geschlagen. Die UNO war entmachtet. Die NATO fungierte als Luftwaffe der UҪK. Achtundsiebzig Tage lang wurde eine europäische Hauptstadt und das zugehörige Restland mit »Luftschlägen« traktiert. Etwa 1200 Zivilisten starben. Zerstört wurden 235 Fabriken, 61 Brücken, 476 Bildungsstätten, 113 Gesundheitseinrichtungen und 36 sakrale Kulturdenkmäler. 50.000 Wohnungen wurden beschädigt. Dann war das Kosovo abgetrennt. Es ist mit dem ungefragt errichteten, international größten US-Militärstützpunkt Camp Bondsteel zu einem aus eigener Kraft nicht lebensfähigen NATO-Protektorat geworden.

 

Doch das Kriegsziel, Milošević zu stürzen, war nicht erreicht. Nach diesem Angriffskrieg scharten sich die national gesinnten Serben um ihren Präsidenten. Aus der Wahl im Herbst 2000 ging er als unangefochtener Sieger hervor. Was für ein hinterfragenswerter Vorgang für Autoren und Historiker. Der Sturz begann wenige Tage darauf nach dem gut vorbereiteten Drehbuch der Nichtregierungsorganisation Otpor (Widerstand). Aus dem ganzen Land trafen Anhänger der Opposition in Belgrad ein, um »sich dem großen Stimmenraub zu widersetzen, den die Bundeswahlkommission auf Anordnung Slobodan Miloševićs begangen hat«. Die aufgebrachte Menge zündete das Parlament an, und die Polizei lief zu ihr über. Noch am selben Abend wandte sich der von der damaligen US-Außenministerin Albright und ihrem deutschen Kollegen Fischer vorausgesuchte Koštunica als neuer Präsident über das Fernsehen an die Bürger.

 

Milošević wurde verhaftet. Die Beweisaufnahme in seinem Prozess dauerte vier Jahre. Vierzig Stunden vor deren Ende ist er (vermutlich wegen der Einnahme falscher Tabletten) gestorben. Der britische Chefankläger Geoffrey Nice schien erleichtert: »Das Ende der Verhandlungen wäre eine Katastrophe geworden. Ein Urteil, das keinen Bestand gehabt hätte«, hieß es in der von Arte ausgestrahlten Dokumentation: »Milošević«. Auf einen Abschlussbericht des Gerichts wartete man vergeblich.

 

Auch auf das Urteil gegen die Wahlkommission. Viele hundert Zeugen wurden sieben Jahre lang vernommen. In dieser Zeit wurden vier Richter ausgetauscht, da sie nicht bereit waren, ohne Beweise einen Schuldspruch zu fällen. Im Februar 2008 erging schließlich ein rechtskräftiges Urteil gegen alle Mitglieder der Wahlkommission, wie mir Juristen in Belgrad berichteten. Freispruch. Fälschung der Wahl vom 24. September 2000 war nicht nachzuweisen. Die war nach überstandenem Angriffskrieg zum Sieg auch nicht nötig. Milošević ist nicht als Diktator gestorben, sondern als demokratisch gewählter Präsident. Das ist noch kein Qualitätsmerkmal, wie man weiß. Ein Mann, der Unrecht getan hat und dem Unrecht getan wurde. Ein Geschehen von wohl shakespeareschen Dimensionen.

 

Eigentlich ein Pflichtprogramm für jeden Dramatiker. Doch das bis heute toxische Feindbild hat ein Kontaktverbot hinterlassen. Solch »Schlächter vom Balkan« ist des Zuredens und Zuhörens nicht wert. Daran haben sich bis auf Handke unabgesprochen alle deutschsprachigen Literaten und Journalisten gehalten. Die Vermutung, dass da etwas zu verstehen sein könnte, galt schon als Verrat. An der wortlos vereinbarten Verspiegelung. Ein Verrat, der mit Hass bestraft wird. Und dem nicht minder zerstörerischen Selbsthass.