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Titel2519

Vier Leben. Vier Tode  (Klaus Nilius)

Vorbemerkung: Lotte kannte den »sonderbaren Umstand«, denn: »Werther hatte, wie wir aus seinen Briefen wissen, nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er sich diese Welt zu verlassen sehnte« (Goethes Werke, Aufbau-Verlag 1981, Fünfter Band, S. 122). »Die menschliche Natur«, hatte er im Sommer gegenüber Albert argumentiert, ein halbes Jahr, bevor er seine Absicht mit einem Schuss durch den Kopf in die Tat umsetzte, »hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist.« Werther zeigte mitfühlendes Verständnis mit den Unglücklichen: »Und ich finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt.« Für Albert ist dieser Gedankengang schlichtweg »paradox«, und sein Urteil ist klar: »Wir nennen das eine Krankheit zum Tode« (S. 49).

 

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Es ist banal, aber es passt zum Sujet: Das Buch »Die Verunglückten« ist im »traurigen Monat November« (Heinrich Heine) erschienen. Denn traurige Schicksale umschließen die vier titelgebenden Menschen: Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson, Ulrike Meinhof und Jean Améry. Der Verfasser Matthias Bormuth (56), Inhaber der Heisenberg-Professur für vergleichende Ideengeschichte am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg, hat sich auf Spurensuche begeben nach dem, was diese Intellektuellen verbindet, »die ihr Leben nicht aushalten konnten«. Gibt es gemeinsame Merkmale? Einen Zeitpunkt, von dem an es unaufhaltsam auf das schier unausweichliche Ende zuging? Wann trat der Tod ins Leben? Was verraten die Werke über ihre Schöpfer? Und die Schicksale über die Betroffenen?

 

Lebensabriss Jean Améry, von ihm selbst 1965 verfasst: »Jean Améry, geboren [am 31. Oktober; Anm. K. N.] 1912 in Wien. Studium der Literatur und Philosophie in Wien. 1938 Emigration nach Belgien. 1941–1943 Widerstandsbewegung in Belgien. Verhaftung durch Gestapo. Deportation nach verschiedenen Konzentrationslagern. Lebt als freier Schriftsteller, Journalist und Rundfunkmitarbeiter in Brüssel« (Bormuth, S. 31).

 

Von Améry erschienen in den 1960er und 1970er Jahren mehrere autobiographische Essays mit seinen Lagererfahrungen. Die immense Resonanz, die sie erfuhren, ist auch vor dem Hintergrund der endlich eröffneten Frankfurter Auschwitz-Prozesse zu sehen. Für die Öffentlichkeit blieb Améry von da an ein geachteter und einflussreicher Essayist, ein Zeitzeuge; dass er als Romanautor nicht die gleiche Anerkennung erfuhr, verbitterte ihn. Die Wunde heilte nicht. Und die früher in den Lagern erlittene Traumatisierung wirkte fort.

 

In dem 1973 erschienenen Essay »Träger der Freiheit« bewunderte Améry, wie Bormuth darlegt, »vor allem historische Beispiele der Selbsttötung«: Buddhistenmönche, die sich in Vietnam verbrannten, oder Jan Palach, der in der ČSSR den gleichen Weg wählte: »Sein Essay gibt zuletzt einen Ausblick auf Menschen, die unabhängig von politischen und religiösen Motiven rein persönliche Gründe für den Suizid angeben.« Drei Jahre später, 1976, veröffentlichte Améry »Hand an sich legen«. Zwei Jahre danach, am 17. Oktober 1978, setzte er in Salzburg seinem Leben ein Ende.

Bormuth blickt zurück ins Jahr 1935, in dem Amérys erster Roman erschien: »Die Schiffbrüchigen«: »Es ist erstaunlich«, wie der Roman »schon 1935 von dem ahnen lässt, was dem Autor später zustoßen wird. Der Protagonist …, ein junger Literat jüdischer Herkunft, spricht Gedanken aus, die Jean Amérys späteren Bewusstseins- und Lebensweg bis in den Freitod hinein bestimmen werden.« Und die, so darf man hinzufügen, von dem erlittenen Leid in den Lagern noch verstärkt wurden. »Das Leben eines Schiffbrüchigen« hat Bormuth das Améry-Kapitel überschrieben.

 

Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren und am 17. Oktober 1973 in Rom gestorben, wo sie zeitweise mit Max Frisch lebte, trat mit Lyrik hervor. Viel gelesen wurden die Gedichtbände »Gestundete Zeit« und »Anrufung des Großen Bären«. Ihre Lyrik war in den 1960er Jahren so verbreitet, dass Heinz Ludwig Arnold, der Herausgeber der Literatur-Zeitschrift Text + Kritik, im Oktober 1964 in dem Sonderheft zu Bachmann anmerken konnte, nachdem alle Bemühungen um neue Texte der Autorin vergeblich waren, man habe »auf den Nachdruck bereits veröffentlichter Texte … verzichtet, da diese … im Besitz vieler Leser … sind«. Ihr 1957 entstandenes Hörspiel »Der gute Gott von Manhattan« wurde am 29. Mai 1958 gleichzeitig im NDR Hamburg, im BR München und im SWF Baden-Baden unter der Regie von Fritz Schröder-Jahn gesendet. Dem »guten Gott« missfällt das Liebesglück eines jungen Paares, und er beschließt dessen Tod.

 

Dennoch ließ Bachmann die Lyrik bald hinter sich, veröffentlichte den Erzählband »Das dreißigste Jahr«, in dem der Tod ebenfalls thematisiert wird: »Hinzu-erworben hat er nur die Erfahrung, daß die Menschen sich an einem vergingen, daß man selbst sich auch an ihnen verging und daß es Augenblicke gibt, in denen man grau wird vor Kränkung – daß jeder gekränkt wird bis in den Tod von den anderen. Und daß sich alle vor dem Tod fürchten, in den allein sie sich retten können vor der ungeheuerlichen Kränkung, die das Leben ist« (Sämtliche Erzählungen, Piper, 1978, S. 101).

 

In der Folge entwickelte Bachmann, wie Bormuth ausführt, ihr großes Prosa-Projekt der »Todesarten«, aus dem »Malina« als einziger Roman realisiert wurde. Zwei Jahre später erliegt sie in Rom den Folgen schwerer Verbrennungen, schon längst abhängig von Psychopharmaka und Alkohol. Vielleicht war es die letzte Zigarette, die ihr Zimmer in Brand setzte.

 

Uwe Johnson, geboren am 20. Juli 1934 in Cammin im damaligen Pommern, gestorben am 23. Februar 1984 in Sheerness, einer Stadt in der englischen Grafschaft Kent. Der Autor der berühmten »Jahrestage« hadert nach der Fertigstellung des dritten Bandes mit »lähmenden Effekten«. Und mit seiner Ehe, dem privaten Zerwürfnis. Und mit seinem Verleger Siegfried Unseld, der endlich den letzten Band auf dem Schreibtisch haben möchte, was schlussendlich auch gelingt.

Unseld gibt den Anstoß für einen Beitrag Johnsons zur Festschrift für Max Frisch aus Anlass des 70. Geburtstags im Mai 1981. Johnson liefert, wie gewünscht, den Text. Sein Titel: »Skizze eines Verunglückten«.

 

Die Gemengelage, die aus dieser »Skizze« entstand, die das Feuilleton elektrisierte und die Bormuth akribisch darlegt, kann hier nicht referiert werden. Ebenso wenig die Todeslinien, die Bormuth aus Johnsons Werk herausarbeitet. 1984 starb Johnson alkoholkrank und einsam in seinem neuen Domizil in England. Erst drei Wochen später wurde er gefunden

 

Während das Schicksal dieser drei »Verunglückten« damals und durch die Jahre vor allem den Literaturbetrieb beschäftigte, bewegte das Leben und Sterben der begabten Publizistin Ulrike Meinhof die gesamte Öffentlichkeit, auch international. Niemand entging dem Geschrei der Schlagzeilen. Die Journalistin wurde in Oldenburg (Oldenburg) am 7. Oktober 1934 geboren und endete durch Suizid am 9. Mai 1976 in Stuttgart-Stammheim. Jahrelang hatte sie durch ihre journalistische Arbeit, vor allem von 1960 bis 1964 als Chefredakteurin der Zeitschrift konkret, versucht, gesellschaftsverändernd zu wirken. Das Ende des Jahrzehnts sah sie in einer terroristischen Vereinigung: der Baader-Meinhof-Gruppe. 1972 wurde sie verhaftet, 1974 angeklagt, zwei Jahre später tot in ihrer Zelle aufgefunden.

 

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Nachbemerkung: 75 Jahre nach der Veröffentlichung von Goethes »Werther« erschien 1849 in Dänemark ein Spätwerk des Philosophen Søren Kierkegaard mit dem Titel: »Die Krankheit zum Tode«. Diese Krankheit hat bei Kierkegaard einen Namen: Verzweiflung. Und somit sind wir wieder zurück bei der Ausgangsfrage nach einer Gemeinsamkeit dieser vier Menschen, die auf so unterschiedliche Weise zu Prominenz gelangten. Die Antwort ist naheliegend: Es ist die Verzweiflung, die ihnen allen innewohnt. Sie zieht sich wie eine immer breiter werdende Todeslinie durch ihr Leben, trifft sie mit alttestamentarischer Wucht, bis sie unausweichlich vom River of No Return verschlungen werden. Sela.

 

 

Matthias Bormuth: »Die Verunglückten – Bachmann, Johnson, Meinhof, Améry«, Berenberg, 248 Seiten, 24