Das literarische Erbe muss niemand antreten. Der Literaturwissenschaftler Dieter Schiller jedoch verbindet mit literarischen Erbschaften Schönes und Nützliches. Schillers Aufsätze verdienen über den engen Kreis von Literaturhistorikern hinaus das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Denn seit der Auflösung der Zweitstaatlichkeit, der Konstituierung eines einheitlichen deutschen Staates gewinnen Fragen nach dem Geschichtsbild, nach den historischen und kulturellen Überlieferungen an politischer Relevanz. In konträren Sichten und Wertungen über geschichtliche Vorgänge und Traditionen spiegeln sich politische Entscheidungsfragen. Obwohl Schillers Sicht die des Literaturhistorikers ist, sich seine Arbeiten durch historisch konkrete Rekonstruktion auszeichnen, bezieht sich der Horizont seiner Fragestellungen auf aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen. Das Besondere der Untersuchungen liegt unter anderem darin, dass er Theaterpraxis und Film einbezieht und so dem multimedialen Umgang mit literarischen Traditionen Rechnung trägt. Ein weiterer Vorzug seiner Arbeiten besteht in einer Sicht, die neben Autor und literarischem Umfeld auch den Leser und vermittelnde Institutionen im Auge behält.
In der Fülle des Materials zeichnen sich verschiedene Schwerpunkte ab: Einmal ist es der Umgang mit dem klassischen Erbe im geschichtlichen Wandel der DDR-Jahrzehnte. An Gestalten klassischer Literatur in Stücken von Lessing, Goethe, Schiller bezeugt er den differenzierten Umgang der Theater mit literarischer Überlieferung. Hervorhebenswert ist sein Beitrag zur Problemgeschichte der Faustmotivik, der er vom mittelalterlichen Stoff, über Lessing, Sturm und Drang, bis zu Goethe nachgeht, mit Ausblicken in die Neuzeit bei Gorki und Thomas Mann. Ein Funkessay zu Hölderlins Friedensdichtung rekonstruiert das Umfeld der Entstehungsgeschichte, polemisch gegen Missdeutungen gerichtet. Für die 1980er Jahre konstatiert Schiller eine zunehmende Differenz zwischen kulturpolitischen Vorgaben, literaturwissenschaftlichen Ergebnissen und dem lebendigen Traditionsbezug von Schriftstellern. Ein weiterer Schwerpunkt bezieht sich auf Literaturdiskussionen im antifaschistischen Exil der dreißiger Jahre. Hier wurden im humanistischen Erbe Anknüpfungspunkte für ein erneuertes Deutschland nach der Niederschlagung des Faschismus gesucht. Heine wird zur Leitfigur, »Humanistisch im deutschen Sinne« breitet Varianten antifaschistischer Grimm-Lektüre aus, es wird widerständige Haltung von Intellektuellen apostrophiert, und Bezüge für ein erneuertes Deutschlandbild werden erkennbar. In »Antifaschismus und Klassikbild« rekonstruiert Schiller Konsens und Widersprüche im Diskurs der Exil-Schriftsteller, womit er auf die Breite möglicher Traditionsbezüge verweist, sehr verschiedene Zugänge bestätigt und alternative Ausschlüsse als Sackgasse charakterisiert. Besonderes Gewicht besitzt im Umfeld dieser Fragen der Beitrag »Erbschaft dieser Zeit«, in dem der Verfasser die Diskussionen um Ernst Blochs Schrift rekonstruiert, die der mit seinen Moskauer Kontrahenten in den Jahren 1935/36 führte. Auch hier geht es um Erbe und Geschichtsbild, vor allem um eine Verständigung über den Charakter des Faschismus und die Frage, wie sich der massenhafte Zulauf zu dieser Bewegung erklären lässt. In Blochs Vorstellungen von Ungleichzeitigkeit im Bewusstsein verschiedener Klassen und Schichten liegen produktive Erklärungsansätze für die mit manipulativer Emotionalität operierende nazistische Bewegung. Wie hier führen auch die anderen seit 1990 entstandenen Beiträge frühere Fragestellungen weiter, aber es zeigt sich auch eine verstärkte Konzentration auf Themen von aktuellem Interesse. So mit »Überlegungen zum Frankreichbild bei Walter Benjamin« und vor allem mit dem Beitrag über Arnold Zweig, der in »Die Alpen oder Europa« eine »Selbstverständigung über Geschichte und Zukunft Europas« vornimmt. Diese Schrift beschäftigte Zweig seit Ende der dreißiger Jahre, er suchte sie 1945 vergeblich zu veröffentlichen. Erst seit 1997 liegt sie gedruckt vor. Schiller rekonstruiert die Entstehungsgeschichte vor dem Hintergrund der Kriegsjahre und verfolgt, wie Zweig am Modell der schweizerischen Demokratie Züge für ein Europa der Nachkriegszeit entwirft. Damit sollte die verhängnisvolle Geschichte zweier Kriege unwiederholbar gemacht werden. Wissenschaftsgeschichtlichen Stellenwert beansprucht der Beitrag »Der abwesende Lehrer«, der Georg Lukács´ Einfluss auf die Anfänge marxistischer Literaturkritik in SBZ und früher DDR nachzeichnet. In »Tucholsky und der ›Jahrhundertkerl Heine‹« stellt Schiller die vielfältigen Anregungen dar, die Tucho durch Heine erfahren hat und die er in Publizistik und Dichtung verarbeitete. »Der Träumer und die Politik«, anlässlich von Louis Fürnbergs 50. Todestag geschrieben, gibt eine umfassende Würdigung der widerspruchsvollen Gestalt des sozialistischen Dichters, in dessen dichterischen Hinterlassenschaften manches verdiente, dem Vergessen entrissen zu werden.
Dieter Schiller: »Literarische Erbschaften. Vorträge, Reden und Betrachtungen. (1972-2013)«. Edition Schwarzdruck, 355 Seiten, 28 €
Dr. Ursula Reinhold, 1938 in Berlin geboren, arbeitete von 1973 bis 1991 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Von 1991 bis 1996 hatte sie einen Lehrauftrag an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2002 sind sechs Bücher von Ursula Reinhold im trafo-Verlag erschienen.