Kurz notiert
Wer zu viel in Erinnerungen sucht, verliert die Gegenwart.
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Er revidierte die Ideen, indem er die Menschen, die sie äußerten, verwarf.
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Wenn die Erfahrungen zerrinnen, werden sie zu Träumen.
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Stimmungen sind Verdauungstätigkeit des Geistes.
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Die Vergangenheit ist das Auge, mit dem die Menschheit ihre Zukunft schaut.
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Der Gerüchtemacher segelt gern im Wind, den er um die Angelegenheiten anderer Leute entfacht.
Norbert Büttner
Ohne Gemeinnutz?
Das Finanzamt für Körperschaften I Berlin entzog der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Anfang November den Status der Gemeinnützigkeit, verbunden mit existenzbedrohenden Steuernachforderungen. Als Rechtfertigung dient die Behauptung in Verfassungsschutzberichten Bayerns, der dortige Landesverband der VVN-BdA sei »linksextremistisch beeinflusst« (vgl. Ossietzky 24/2019). Dieser Skandal veranlasste den 94-jährigen Günter Pappenheim, einen Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz zu richten.
Er schildert darin die familiäre Situation in seinem Elternhaus und erinnert daran, dass sein Vater, Ludwig Pappenheim, einer der Begründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Schmalkalden war und das Vertrauen der Menschen genoss, weil er mit seinem Verständnis von sozialdemokratischer Politik für die Durchsetzung ihrer Interessen eintrat. Im Frühjahr 1932 schlugen Nazis in seinem Wohnhaus die Fensterscheiben ein und riefen öffentlich zum Mord auf: »Schlagt die Judensau tot!« Ohne Haftbefehl wurde Ludwig Pappenheim am 25. März 1933 verhaftet und unter fadenscheinigen Gründen trotz seiner Immunität als Parlamentarier unter »Schutzhaft« gestellt. Nach Misshandlungen und Folter brachten ihn die Hitlerfaschisten am 4. Januar 1934 im KZ Neusustrum bestialisch um. Seiner Frau, seit 1925 ebenfalls aktive Sozialdemokratin, wurde es verwehrt, ihren Mann in Schmalkalden zu bestatten. Sie erhielt keine staatliche Unterstützung und hatte für vier Kinder zu sorgen.
Ihren Sohn Günter verhaftete die Gestapo am 14. Juli 1943 nach einer Denunziation. Gestapo-Beamte misshandelten ihn im Gefängnis Suhl und brachten ihn in das Arbeitslager Am Gleichberg. Von dort verschleppten die Nazis ihn in das KZ Buchenwald, wo er fortan der Häftling Nummer 22514 war. Dank der solidarischen Hilfe solcher Kameraden wie des Sozialdemokraten Hermann Brill und des Kommunisten Walter Wolf gehörte er zu den 21.000 Überlebenden des Konzentrationslagers, die am 19. April 1945 auf dem Appellplatz den »Schwur von Buchenwald« leisteten. Dessen Kern-aussage »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.« wurde Günter Pappenheim ebenso wie den meisten seiner Kameraden zur Lebensmaxime. Und als sich 1947 die VVN als gesamtdeutsche überparteiliche Verfolgtenorganisation gründete, gehörte er zu den ersten Mitgliedern.
In seinem Brief fragt er den Bundesfinanzminister: »Lässt sich vorstellen, wie ich mich als Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos schäme, meinen Kameraden sagen zu müssen, dass wir in Deutschland, das sich rühmt, ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat zu sein, regierungsamtlich wieder Verfolgte sind? Soll ich meinen Kameraden erklären müssen, dass die vom AfD-Funktionär, dem Faschisten Höcke, geforderte ›geschichtspolitische Wende um 180 Grad‹ jetzt staatlicherseits betrieben wird, indem mit fadenscheinigsten Begründungen der Verfolgtenorganisation die materielle Handlungsfähigkeit entzogen wird? Muss ich meinen französischen Kameraden, die den Präsidenten der Republik Frankreich veranlassten, mich als Antifaschisten zum ›Kommandeur der Ehrenlegion‹ zu ernennen, jetzt erklären, dass in Deutschland Antifaschismus nicht gemeinnützig, weil politisch ist?« Günter Pappenheim bezeichnet es als »eine Schande, dass mit der Zerschlagung dessen, was wir 1945 als antifaschistischen Konsens verstanden, gewartet wurde, bis fast keine Zeugen faschistischer Verbrechen mehr vorhanden sind, um ihre protestierende Stimme erheben zu können.« Er müsse »feststellen, dass wohlklingende Forderungen in deutschen Politikerreden, die offen sichtbare Rechtsentwicklung zurückdrängen zu müssen, nicht glaubhaft sind, wenn zugleich zivilgesellschaftliche Kräfte, wie sie in der VVN-BdA, bei Attac oder Campact agieren, in finanzielle Fesseln gelegt werden«. Unter den Bedingungen immer dreister, frecher, anmaßender, gewaltsamer und öffentlichkeitswirksamer werdenden Handelns rechtsextremer Kräfte zielgerichtet Gegenbewegungen auszuschalten, bezeichnet Günter Pappenheim als nicht nur grob fahrlässig, sondern höchst gefährlich. Die mahnenden Gedanken des Antifaschisten und Zeitzeugen Günter Pappenheim sollten vom Bundesfinanzminister und seinen Beamten gut bedacht werden.
Gerhard Hoffmann
Zähe Verhandlungen
Noch immer verhandelt die Partido Socialista Obrero Español (PSOE) mit der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) um deren 13 Stimmen für die Wahl Pedro Sánchez‘ zum Ministerpräsidenten, die auf Januar verschoben wurde. Das Problem für die Zustimmung der ERC sind die neun verurteilten politischen katalanischen Gefangenen, darunter der ehemalige Vizepräsident der Generalitat de Catalunya, Oriol Junqueras, seit 2011 Parteivorsitzender der ERC. Im Strafverfahren wegen des Unabhängigkeits-referendums vom 1. Oktober 2017 wurde er im Oktober 2019 wegen »Aufruhr« zu 13 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil steht national wie international in der Kritik. Für die ERC ist die Zustimmung zur Wahl von Sánchez eine Gratwanderung.
In einer gemeinsamen Erklärung zum dritten Treffen von ERC und PSOE, das erste Mal in Barcelona, wird festgestellt, dass es Fortschritte bei der Lösung des politischen Konflikts gibt. Derzeit schießt allerdings Madrids Bürgermeister, José Luis Martínez-Almeida (Partido Popular, PP) quer, der sich laut El País in einer Debatte dazu verstieg, dass die Terroristengruppe ETA und die Partei ERC, obwohl mit unterschiedlichen Mitteln operierend, denselben Zweck hätten und daher aus verfassungsrechtlicher Sicht ein ähnliches Risiko bestehe. Damit wird nicht nur der Wunsch nach Unabhängigkeit kriminalisiert, auch die Verhandlungen zwischen PSOE und ERC werden torpediert. Inzwischen versucht der PP-Vorsitzende, Pablo Casado, mit der VOX-Partei und den zehn Abgeordneten der Ciudadanos ein Bündnis gegen Pedro Sánchez‘ Wahl zu schmieden.
Karl-H. Walloch
Unsere Zustände
Vergangene Nacht hatte ich einen Traum: Es gab keine Parteien mehr! Solche Vorstellung war so wunderschön, dass ich gleich wieder einschlief, um den Traum noch einmal zu träumen.
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Sag die Wahrheit, und du brauchst dich nicht über das Fehlen von Feinden zu beklagen.
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In guten Filmen bekommen Schauspieler Gesichter, in schlechten Filmen bekommen sie Larven.
Wolfgang Eckert
Haben wir uns verstanden?
Wenn in Rom ein Papst gewählt ist, steigen weiße Wölkchen in den Himmel. Bevor die Autorin Birgit Vanderbeke ihren neuen Buchtitel kürt, dringen unter einer irischen Zimmertür leichte Rauchschwaden hervor, das ist einsichtig, denn im Raum dahinter sitzt Heinrich Böll, undenkbar ohne eine Zigarette im Anschlag. Zwar ist der gute Mensch von Köln und dem deutschen Land ringsum leider schon seit einigen Jahren verstorben, doch solche kleinen Wunder vollbringt er weiterhin. Da ist auf ihn Verlass, anders beim aktuellen Papst Franziskus. Der schmeichelte sich am Anfang ein als Verbündeter weiblicher Menschen in ihren Nöten, bis er absolut versagte, in den gewohnten Verfluchungs-Klerikerton verfiel und Frauen, die nur mehr einen Schwangerschaftsabbruch als Ausweg sahen, »Auftragsmörderinnen« nannte. Bravo, Heiliger Vater!
Um Missverständnisse auszuschließen, ich plädiere nicht für Abtreibungen, sondern für Geburtenregelung. Franziskus und die Frauen aber werden keine Freunde, die Rolle weiblicher Mitarbeit in der Gemeinde ist dem Kirchenfürsten nach wie vor schnurzpiepe.
Für Heinrich Böll gab es keinerlei Diskriminierungen. Er stellte oft und gern sein irisches Ferienhaus für die Erholung von Prosaisten und Poeten beiderlei Geschlechts zur Verfügung, darunter eben auch Frau Vanderbeke und deren Ehemann. Vor einem halben Menschenleben zählten auch Gerhard, lngrid und Catharina Zwerenz zu den Begünstigten.
Mit dem weiträumigen Buchtitel, »Alle, die vor uns da waren«, unserer Autorin von Böll gespendet, hat sie ein weites Feld und kann ihre Fantasie erblühen lassen, schön durchmischt mit ernsten und heiteren Realitätspartikeln. Eine winzige Korrektur hätte ich gern anzubringen, als geborener Liegnitzerin ist bei mir keine Spur von Sudetendeutschen zu vermuten.
Man begegnet in dem autobiografischen Roman, dem abschließenden Teil einer Trilogie, durchweg sympathischen Menschen, ausgenommen – und das ist die Crux der Biografin – ihrem Vater, den sie 30 Jahre lang nicht getroffen hatte, so hielt sie sich auch konsequent von seinem Begräbnis fern. Ihm ist die von mir gewählte Artikel-Überschrift zuzuschreiben, in dem Satz schwingt mitnichten Fürsorge mit, vielmehr steckt ein drohender Unterton in den vier Worten. Und dabei war dieser Oskar »ein Kind aus meiner Klasse«, wie Tucholsky leicht ironisierend immer mal formulierte. Ein hochintelligenter, umgänglicher Junge, weiß der Teufel, wo Satan im späteren Leben seine Krallen im Spiel hatte. Die Vanderbeke-Tochter Birgit wurde trotz allem keine Heulsuse. Die Frau ist auch keine Solipsistin, verfügt vielmehr über einen intakten sozialen Sinn, mitunter etwas ruppig vorgebracht, zum Beispiel: »Die Iren haben eine ausgesprochene Begabung für Hungersnöte.«
Für das Desaster mit ihrem Erzeuger fand die Verfasserin einen patenten Ausweg: Wie sich manche Eltern Kinder adoptieren, adoptiert sie sich Väter – allen voran Fritz Bauer, den unvergesslichen hessischen Generalstaatsanwalt.
»Ich bin der Mann mit dem Auschwitzprozess«, sagte er mal zu mir, es war ein von Horst Bingel veranstalteter Frankfurter Abend und sehr voll. Bauer und ich saßen ein wenig beiseite auf einem schmalen Sofa. Das Gespräch vergesse ich lebenslang nicht, überdies hab ich's gleich am nächsten Morgen in die Maschine getippt.
Es gab noch andere Herren mit Vaterqualitäten. Über die berichte ich vielleicht demnächst, denn ganz gewiss hat Birgit Vanderbeke weiter wichtigen Stoff für die eine oder andere Edition. Viel Erfolg!
Ingrid Zwerenz
Birgit Vanderbeke: »Alle, die vor uns da waren«, autobiografischer Roman, Piper Verlag, 176 Seiten, 20 €
zum jahreswechsel
das alte jahr schleppt sich zur kippe
es wurde auch die höchste zeit
es war verzeiht mir diese lippe
zu häufig loch zu selten kleid
der frieden hing am seidnen faden
der politik fehlts an how know
sie wählte manchen falschen paten
pfiff auf vernunft und auf niveau
aus mancher hoffnung wurden thriller
und manche aussicht ging bankrott
die meere blieben menschenkiller
ein präsident macht sich zum gott
parteien loben ihre taten
sie haben mehr als sonst erreicht
dagegen sind die korrelaten
der konkurrenz verzerrt geeicht
wie wird der erdball sich bewegen
bleibt der planet für uns bestehn
lasst unsre jugend sich erregen
den mond nicht nur von hinten sehn
wie seltsam ist’s wenn man silvester
auf dem balkon geknall genießt
und mit benachbartem semester
im pulverdampf die zukunft grüßt
wolfgang helfritsch