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Titel514

Ihr werdet dran verrecken  (Monika Köhler)

Auf dem Weg von Köln nach Hamburg ins Schauspielhaus ist Poseidon verlorengegangen. Also kein Gott am Anfang, der die Zerstörung Trojas beklagt: »Der Sieg wurde nicht durch Mut errungen, sondern durch List./ Die Trojaner sind tot./ Alle./ Hier kommen die Troerinnen./ Die einen werden Beutestücke der Anführer,/ über die andern wird das Los geworfen.« Diese bittere Prophezeiung des Gottes – sie ist in Hamburg weggefallen wegen Überlänge des Mammut-Projektes »Die Rasenden«. Karin Beier, die neue Intendantin, wurde vom Schauspiel Köln geholt, um das Hamburger Schauspielhaus zu retten. »Die Troerinnen« nach Euripides sind nur ein Teil des großen Ganzen und wurden schon in Köln gezeigt, in der Bearbeitung von Sartre. Nun kommen hinzu: die »Iphigenie in Aulis« nach Euripides und die Orestie nach Aischylos. Das sind fünf Teile. Dazu gehört ein Konzert für Streichorchester und Chor mit dem Ensemble Resonanz: »Eine große Stadt versank in gelbem Rauch« – eine Zeile aus Georg Heyms Gedicht »Der Krieg«. Insgesamt dauert die Aufführung sechseinhalb Stunden. Das alles sollte schon im November stattfinden. Der Umbau im Schauspielhaus verzögerte sich, und schließlich krachte der Eiserne Vorhang auf den Bühnenboden. So wurde es Mitte Januar, bis endlich gespielt werden konnte.

Der Spielplan mußte drastisch reduziert werden, ich konnte bisher nur »Die Troerinnen« sehen. Dieses Stück, 415 v. Chr. uraufgeführt, ist aktuell wie damals. Noch immer sind es die Frauen und Kinder, die als Opfer von Kriegen zurück bleiben. Die Anrufung der Götter hat nicht geholfen. Heute wirkt sie lächerlich. Auf der Bühne mit schwarzem Sand – oder ist es Asche – nur Frauen, in dicke Decken gehüllt. Sie werden von dem Boten Talthybios (Carlo Ljubek) schikaniert. Seine Befehle schrillen aus dem Lautsprecher von oben: »Schneller, schneller!« Die Frauen der Besiegten müssen Säcke schleppen. Auch Hekuba (Julia Wieninger), die ehemalige Königin Trojas, Mutter von Kassandra (Rosalba Torres Guerrero). Hekuba soll als Sklavin Odysseus dienen, wehrt sich, »ich spucke ihn an, diesen Hund, dieses doppelzüngige Ungeheuer …« Sie sieht sich als die Unglücklichste von allen.

Kassandra, im Kleinen Schwarzen, scheint sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. »Ich heirate« verkündet sie, fast ausgelassen, tanzt. Agamemnon will sie zu seiner Geliebten machen. Ist sie irre? Nein. »An meiner Hochzeit werden die Henker zugrunde gehen« weissagt sie jubelnd. Andromache (Lina Beckmann) kann ihren Mann Hektor nicht vergessen. Sie soll dem Sohn des Achill »zugeteilt« werden. Gegenseitige Schuldzuweisungen. Wenn Hekuba sich nicht dem Willen der Götter widersetzt und ihren Sohn Paris getötet hätte: kein Krieg in Troja? Nein, Helena (Angela Richter) ist der Grund allen Übels. Sie sieht sich als Opfer und versucht, Menelaos (York Dippe) aufs Neue für sich zu erobern. Dieser König mit Pappkrone, der Schlächter von Troja, weiß nicht, was er will. Soll Helena gesteinigt werden oder nicht? Merkwürdig, in Karin Beiers Inszenierung wird aus Helena Marilyn Monroe mit blonder Perücke und weißem Flügelärmel-Kleidchen. Sie singt: »Happy birthday to you« – für wen?

Die Troerinnen, nun in Unterkleidung, entblößt und noch verletzlicher. Auch als sexuelle Opfer. Andromache kämpft um ihren kleinen Sohn Astyamax, Kind Hektors und einziger Nachkomme des Königsgeschlechts. Der soll auf Befehl von Odysseus von den Mauern der Stadt gestürzt werden. Talthybios benutzt den Lautsprecher als Versteck: »Ich bin nur ein Bote. Auch ich habe ein Herz. Aber Krieg ist Krieg.« Und nimmt ihr das Kind weg. Niemand darf übrigbleiben. Andromaches Aufbegehren, ihre Schreie, Ohnmachten, ihre Verzweiflung und Erstarrung schließlich – stellvertretend für alle Frauen, der Chor im Hintergrund steigert ihre Klagen. Die alte Hekuba schlägt auf die »mütterliche Erde«, klagt: »Gib mir meine Kinder wieder!« Aber die Götter schweigen, vielleicht sind auch sie tot. Nein, Poseidon lebt noch – aber nicht in Hamburg. Er ruft zum Schluß: »Nun sollt ihr bezahlen./Führt nur Krieg, ihr blöden Sterblichen,/ verwüstet nur die Felder und die Städte,/ schändet nur die Tempel und die Gräber/ und foltert die Besiegten:/ Ihr werdet dran verrecken./ Alle.«

Noch einmal Schauspielhaus unter der neuen Intendantin: »Der Sturm« nach Shakespeare, inszeniert von der polnischen Regisseurin Maja Kleczewska. Der Schluß ist der Anfang: die Hochzeitsgesellschaft, versammelt am Tisch. Nein, kein Abendmahl. Prospero (Josef Ostendorf), im Bademantel hingefläzt, kotzt Rotwein ins Glas zurück – oder ist es Blut? Sagt: »Heute sind alle Freunde hier versammelt« – oder hieß es Feinde? Seine Tochter Miranda im Brautschleier (Lisa Bitter) verschluckt sich an der Unechtheit der Worte. Dennoch bewundert sie naiv alle: »O schöne neue Welt, die solche Menschen trägt.« Ein Hohnlachen, die Antwort. Was hier vorgeführt wird – die Schiffbrüchigen auf der einsamen Insel – ist eine moderne »Familienaufstellung nach Hellinger« (so im Programmheft). Durch das Chaos soll »die Ordnung« wiederhergestellt werden. Eine Pistole an den Kopf gehalten mit dem Satz: »Ich verzeih dir, obwohl du Abschaum bist.« Hinten über der Bühne, eine Leinwand, zeigt – durch Videoprojektion – die Boshaftigkeit der Akteure in Großaufnahme. Oder auch mal Bewunderung. So fragt Ariel (Sachiko Hara), fast auf den Knien von Prospero, der im Rollstuhl sitzt: »Liebst du mich, mein Meister?« Und – ein Wunder – man glaubt ihm sein »Ja«. Diese, fast zärtlichen Szenen finden in einem separaten Raum hinter Glas statt. Dahin hat sich auch die Sprache Shakespeares zurückgezogen. Auf der Bühne geht es brutal zu – wie im Leben. Trinculo, hier eine Frau (Kathrin Wehlisch), die in viele Rollen schlüpft, zieht am Hochzeitstisch Geschenke aus einer Wundertüte. Es ist auch eine Maske von Angela Merkel dabei. Das bringt uns nach Deutschland. Auch das dreifache »Tor, Tor, Tor«-Gerufe – wir haben begriffen: Weltmeister. Caliban, der Eingeborene der Insel (Michael Czachor) spricht mit polnischem Akzent. Mit ihm kann man machen, was man will: »Zieh das Kleid an, du kriegst auch Geld dafür.« Oder ganz nackt als Stripper. Das Gesicht schwarz angemalt, bittet er, soll er bitten: »Laß mich deine Schuhe ablecken.« Dann Streit um ihn: »Das ist mein Untertan«, er wird heruntergedrückt vom weiblichen Stephano (Carolin Conrad): »I am up and you are down.« Caliban: »Dann kannst du mich erschlagen.« Sie, vorsichtig: »No killing here in Germany.« Er: »Warum nicht, ich bin das Monster.« Szenen, roh wie im Kaspertheater. Dazu dann echte Schwarze: Flüchtlinge, die von Lampedusa nach Hamburg kamen. Sie machen »ihre« Musik, erzählen ihre Geschichte der Flucht. Mal zusammengedrängt im Glaskasten und groß auf der Leinwand. Das, was bei Shakespeare der idealistische Gonzales als Utopie eines Goldenen Zeitalters ausbreitet – hier ist es Stephano. Vorher als Sextouristin in Afrika, nun flippt sie aus, wird zu Jesus, dem Friedensbringer. Gesucht wegen Anarchie. Seine lange Ansprache ins Publikum gerichtet, sie wird übersetzt in Gebärdensprache, sehr viel drastischer als im Fernsehen. Wundervoll virtuos dargeboten von Kathrin Wehlisch. Wieder als Kaspertheater: die zum Tode Verurteilten, Tote in Burundi, Prostituierte – alles, was der weibliche Jesus ins Publikum schleudert.

Die Familien-Aufstellung bringt es mit sich, daß Miranda oder ihr Bräutigam Ferdinand (Pablo Konrad y Ruopp) in die Kindheit zurückfallen, den allmächtigen Vater mit »Papi« ansprechen und Verstecken spielen. Jemand stellt fest: »Die ganze Scheiße beginnt schon mit der Geburt.« Prospero ohrfeigt. Miranda und Ferdinand treiben es im Stehen. Ariel dirigiert mit Leuchtdildo. Der andere Papa, Alonso, König von Neapel (Michael Weber), sieht aus wie ein Mafia-Boß im Maßanzug mit Absatzschuhen, Sonnenbrille. Er liefert sich Wortschlachten und choreografische Prügeleien mit Prosperos Bruder Antonio (York Dippe). Mal weinerlich, mal gewaltsam. Sie würgen sich auf dem Tisch. Tote stehen wieder auf, schreien weiter. Dann versinkt alles im Chaos. Ariels Sturm heißt: weiße Farbe, die alles und jeden bedeckt. Und geschreddertes Papier – vielleicht Shakespeares Text? Alle werden ununterscheidbar. Und wenn am Ende Prospero die Pistole – keine Angst, er will nur spielen – ins Publikum hält, fällt kein Schuß. Zu hören sind nur Beifall und Buhs.