Das Leben ist hart. Wer sollte das besser wissen als die jungen Dynamischen, die in Berlin bevorzugt die Gegend um den Kollwitzplatz, die Spandauer Vorstadt oder das Bötzowviertel besiedeln? Ständiger Leistungsdruck und der Zwang, fremde Erwartungen zu erfüllen, lassen ein Defizit verspüren: das »Heimweh nach Gott«, wie das Berliner Stadtmagazin Tip entdeckt haben will. Eine neue Welle der Religiosität in den Berliner In-Bezirken fülle die Kirchen im Prenzlauer Berg.
Spiritualität bestimmt ein neues Lebensgefühl, mit dem man den scharfen Kontrasten der in Arm und Reich gespaltenen Gesellschaft ausweichen kann. Man sucht ein religöses Geheimnis. Vielleicht löst die Suche nach dem Irrationalen das Ohnmachtsgefühl gegenüber den realen Widersprüchen.
Davon fühlen sich auch die Künste und die Künstler herausgefordert. Die Deutsche Oper in Charlottenburg hat bereits die Neuproduktionen der gegenwärtigen Saison unter das Motto »Das Heilige erobert die Stadt« gestellt. Intendantin Kirsten Harms und ihr Team wollen das »Heilige als Phänomen«, den »Mystizismus heute« ergründen.
Die Veranstalter der 2002 kreierten Biennale Alter Musik stellten ihr diesjähriges Festival unter das Zeichen der »Grünen Woche«. Damit war nicht die alljährliche weltgrößte Schau der Agrar- und Ernährungswirtschaft am Funkturm gemeint; im christlichen Kirchenjahr wird die Woche zwischen Palmsonntag und Ostersonntag die Grüne genannt – abgeleitet vom mittelhochdeutschen »Greinen« –, in der an das Leiden und den Tod Christi erinnert werden soll. Sie wird als Zeit des Innehaltens und In-Sich-Hineinhörens, des imaginären Dialogs verstanden, sei es im Gebet, in der Meditation oder beim Musikhören.
Geboten wurde Musik, die – laut Programm – »aus dem Glauben an die Sinnhaftigkeit von Riten und Gebräuchen, aus dem Eingebettet-Sein in einen religiösen All-Zusammenhang geschaffen wurde«. Im Programm der »Grünen Woche« vom 16. bis 23. März im Konzerthaus am Gendarmenmarkt wurden »Brockes Passion« von Georg Philipp Telemann, die »Messe Faventina« aus dem 15. Jahrhundert und »Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz« von Josef Haydn gespielt, aber auch die musikalische »Rekonstruktion des Kirchenjahres 1680 in Norddeutschland« und ein »programmatisches Konzert zur musikalischen Heiligenverehrung«, in diesem Falle zum Marienkult.
Nun muß das Hören geistlicher Musik keine Identifikation mit ihren religiösen Inhalten bedeuten. Folkert Uhde vom veranstaltenden Uhde und Harkensee MusikManagement beteuerte, daß das Festival – auch wenn er das Heimweh nach Gott als ein Zeichen der Zeit wahrgenommen habe – den Markt keinesfalls um ein weiteres Heilsangebot bereichern oder die Zuhörer missionieren wolle. Dennoch ließ man die Werke nicht für sich stehen, sondern hob die rituelle Dimension der Musik hervor. Petra Bahr, die Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, sprach zur Einführung von der Wiederkehr der christlichen Rituale. Die 68er hätten mit ihrem Angriff auf den Muff unter den Talaren neben den reaktionären akademischen Ritualen auch alle anderen tradierten Rituale – eben auch die religiösen – aufs Korn genommen. Die noch sehr gegenwärtigen Nazirituale seien ein willkommenes Totschlagargument gewesen, unter dem sich alles weggeduckt habe. Nun aber sei die Gesellschaft der »Innovationslust« der 70er und 80er Jahre müde geworden. Ein neues Interesse an Ritualen mache sich breit. Im Konzertsaal nehme man Musik wieder als Weg zur Selbst- und Gottesbegegnung wahr, der Hörer könne wieder Glaubensgenuß haben. Entgegen dem dumpfen, antireligiösen Zeitgeist werde der säkularisierte Zeitgenosse beim Hören einer Passion unwiederbringlich in die Affäre des Gottessohnes gezogen. So habe der Philosoph Hans Blumenberg als »gottungläubiger Jude sich für die Zeit einer Passion als Gläubiger« wiedergefunden, »der sich in die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu immer wieder neu verwickeln läßt – eine Art Gottesdienst ohne dogmatische Kontrolle und Prüfung der Rechtgläubigkeit.« Klarer Fall: Es gibt nur einen Gott.
Die Rehabilitierung der Rituale zeigt sich so als roll back. Aufmüpfiger Geist wird zurückgerollt. Heim zu Gott – nur ein Gedankenspiel oder der Start zu einer Pilgerreise?